|
DEUTSCHE VEREINIGUNG GEGEN POLITISCHEN MISSBRAUCH DER PSYCHIATRIE e.V. (DVpMP)
Rundbrief 3/1977 15.12.1977
Vorwort zur nachträglichen Publikation in der GEP-Website
Der Rundbrief enthält einen kritischen Bericht über den Weltkongreß für Psychiatrie 1977 in Honolulu, bei der die Mehrheit des Verbandes nach langem Zögern endlich den Mißbrauch des Faches verurteilte, wie er damals vor allem, genauer: nur aus der Sowjetunion bekannt geworden war. Angesichts besagten Zögerns auch der nationalen Fachgesellschaften hatten sich in verschiedenen Ländern "pressure groups" gebildet (Näheres über die weiteren vorausgegangenen Bemührungen im Westen in RB 1/88 - Bericht Weinberger). Unsere im Frühjahr 1977 gegründete Vereinigung war an dem Zustandekommen der einschlägigen Resolutionen in Honolulu nicht unwesentlich beteiligt, am Zustandekommen speziell besagter Verurteilung. Der Rundbrief (RB 3/77 wendet sich gegen deren Herunterspielung, die Verzeichnungen des Mißbrauchsproblems allgemein, wie sie nach dem Kongreß, aber auch zuvor schon in deutschen Medien auftauchten. Er beleuchtet unsere von Anfang an bestehende Diskrepanz zum psychiatrischen "Mainstream". - Nachträgliche Einfügungen in den Text wurden jetzt durch Kursivdruck gekennzeichnet. Unvermeidlich hinzunehmen war beim Nachdruck die Formatänderung der Publikation gegenüber dem Original.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Vom Psychiatrischen Weltkongreß, der vom 28. August bis 3. September 1977 in Honolulu stattfand, sind erste Reaktionen, Fehlreaktionen und Fehlinterpretationen sichtbar geworden. Zeit für einen zusammenfassenden Bericht.
1. Die wesentlichen Entscheidungen des Kongresses bzw. der Generalversammlung der World Psychiatric Association (WPA) sind Ihnen aus der Tagespresse wohl bekannt: Einstimmige Annahme fand die "Erklärung von Hawaii“, ein allgemein gehaltener psychiatrischer "Sittenkodex" (der doch so präzis ist, daß er Psychiatern etwa die Mitarbeit bei ethisch nicht gerechtfertigten Maßnahmen verbietet). Mit 121: 66 Stimmen ging der amerikanische Resolutionsantrag zur Berufung einer offiziellen WPA-Untersuchungskommission durch, die Nachrichten vom Mißbrauch der Psychiatrie, wo immer sie herkommen mögen, nachzugehen und gegebenenfalls gegensteuernde Maßnahmen ("corrective actions") vorzuschlagen hat. Weiter und vor allem hat die Generalversammlung der WPA wenn auch nur mit der knappen Mehrheit von 90 : 88 Stimmen einen australisch-neuseeländischen Antrag, der an einen entsprechenden britischen Resolutionsvorschlag anlehnte und auch die von uns durchgesetzte Entschließung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN) vom 3. Juni 1977 umschloß, angenommen und den Mißbrauch verurteilt unter ausdrücklichem Bezug auf die Evidenz dieses Mißbrauchs in der UdSSR.*
H. Merskey, einer unserer Mitstreiter aus Kanada, hat vielleicht am besten ausgedruckt, was wir nach jener Abstimmung am 31. August empfanden: "This was something, that had to be discussed because we could not live with ourselves if it wasn't." Daß die eindeutige, dadurch gewiß nicht nur in die Sowjetunion hineinwirkende Erklärung entscheidend mit den von uns losgeeisten deutschen Stimmen angenommen wurde*, mag uns Befriedigung sein.
Völlig unbenetzt vom DGPN-Beschluß, an den auch er gebunden war, zeigte sich ein anderer Vertreter deutscher Psychiatrie. Bei der Offenen Sitzung, die am Vorabend der Abstimmung am 30. August den Komplex der Ethik, eines der Grundthemen des Kongresses, behandelte und dazu auch Wortmeldungen aus dem Forum zuließ, sprachen einleitend als Vertreter der vier offiziellen Kongreßsprachen vier offizielle Sprecher und als solcher ruckte Professor Erhardt, Marburg, politisches Denken leichthin in die Nähe paranoischer Entwicklungen, paranoider Wahnsysteme (damit der Mißbrauch vor dem etwa tausendköpfigen internationalen Psychiaterpublikum nicht ohne argumentative Unterstützung bliebe). Daß hier der DGPN-Beschluß vom Juni d.J. vor und Erhardt als unrepräsentativ zurückgewiesen werden konnte, hat zumindest der Autor dieser Zeilen als ein Stück deutscher Ehrenrettung aufgefaßt.
2. Befriedigend die ideelle Gemeinsamkeit und der Elan, mit dem sich die Vertreter unserer Vereinigungen aus den verschiedenen Ländern in Honolulu zur Aktion zusammenfanden - zu den allmorgendlichen Vorbereitungsgesprächen, zu wiederholten Pressekonferenzen, zu der innerhalb des Kongresses angesetzten Offenen Sitzung am 30. August wie zu der vom französischen Psychiaterkomitee extern ausgerichteten öffentlichen Veranstaltung am 31. August kurz vor der entscheidenden Abstimmung der Generalversammlung. Beeindruckend das Engagement, das viele Kollegen insbesondere aus den angelsächsischen Ländern und aus Frankreich aufbrachten. Gewiß gab es auch in Honolulu "berufsfremde" Hilfen. Im meinungsbildenden Vorfeld etwa war Amnesty International spürbar. Frisch herausgekommen lag das Buch "Psychiatric Terror" von S. Bloch und P. Reddaway (letzterer Dozent für Politologie) als Beweisstück vor, eine Dokumentation von über 200 Einzelschicksalen (deutsche Ausgabe vorgesehen). Der Mathemathiker L. Pljuschtsch, dem die Reise nach Hawaii ermöglicht worden war, gab vor der Presse Auskunft. Ganz entscheidend aber und zwar ideell wie finanziell wurde das Anliegen der Menschenrechte, das den Kongreß durchzog (Sowjetstimmen entgegen, die "CIA-Manöver" erfanden) von den Psychiatern selbst getragen und - wie es sich zumindest bei der "Offenen Sitzung" darstellte - von ihrer großen Mehrheit unterstützt. 3. Das Verhalten der Sowjetvertreter entsprach bekanntem Muster: Vor der Presse stritten sie die Tatbestände schlechtweg ab. Der offenen Sitzung, in der Gelegenheit war Rede und Antwort zu stehen, blieben sie fern. In der Generalversammlung verlegten sie sich auf Dauerreden, Geschäftsordnungstricks und ähnliche "Argumente". Der Delegierte E. Babajan etwa forderte Gutachten an, die bewiesen, daß die "angeblichen" Dissidenten gesund sind - als sei gesund nur, wer zuvor psychiatrisch untersucht und als gesund befunden wurde. (Im übrigen haben prominente französische Psychiater im April 1976 schon die "Krankengeschichte" von L. Pljuschtsch angefordert- ohne bislang auch nur eine Antwort zu erhalten). Zum Abschluß - nach gefallener Entscheidung - gab es für Kongreß und Teilnehmer dann Babajan'sche Beschimpfungen ("Arena politischer Provokationen", "antisowjetische Show" "antipsychiatrischer Reaktionäre"* etc.).
Verwandte Stimmen versuchten danach noch den Rekurs auf ausländische Be- sucher. Die Iswestija vom 18.9.1977, die Sowjet News (London) vom 6.9.1977, die österreichisch-kommunistische Volksstimme beriefen sich auf eine österreichische Delegation, die im August d.J. sowjetische Psychiatrie-Einrichtungen und angeblich auch "angebliche" Dissidenten besucht und diese angeblich für krank befunden hatte. Mitglieder der Delegation stellten inzwischen klar, daß sie weder zum Besuch eines der Sonderkrankenhäuser, noch zum Gespräch mit einem der von AI benannten Dissidenten Gelegenheit bekommen hatten. Ein Punkt freilich, den die Sowjetpresse sehr herausstellt, stimmt. Das 90 : 88 Votum kam tatsächlich nur durch die unterschiedliche Stimmenzahl der einzelnen Mitgliedsgesellschaften zustande. Tatsächlich entsprang die Stimmenmehrheit einer Minderheit von Delegierten. Nur ihrer 19 haben "pro" gestimmt, während 33 auf Sowjetseite standen.* Einige weitere Delegierte gaben ungültige Stimmen ab oder enthielten sich der Stimme oder fehlten - wie Polens Delegierter (Gründe unbekannt).
4. Angesichts dieser (eigentlichen) Mehrheitsverhältnisse hatten die Sowjets wenig Anlaß, aus dem Weltverband für Psychiatrie auszuziehen. (was einige Psychiater hierzulande so befürchtet hatten) und wenig Grund, den großen Einfluß, den sie auf die Psychiatrie besitzen, zu gefährden. Bei den Wahlen zum neuen Exekutivkomitee (der „WPA-Regierung“ der nächsten sechs Jahre) fiel das Amt des neuen Generalsekretärs an Professor Peter Berner, Wien, das Amt des WPA-Präsidenten an Professor Pierre Pichot, Paris. Die Ausführung der Hawaii-Beschlüsse (die Berufung der WPA-Untersuchungskommission) hat dieser immerhin zugesagt.
5. Hawaii gab vorerst Aufwind. Die "Arbeitskommission zur Untersuchung der Verwendung der Psychiatrie zu politischen Zwecken", Moskau, hat die „mutigen und prinzipiellen Entscheidungen" des Kongresses als "einmalig" begrüßt. Der Hartmannbund (Verband der Ärzte Deutschlands) hat sich zu einer "hawaii-ähnlichen" Entschließung durchgerungen. Die niedergelassenen bayerischen Nervenärzte haben nun in größerer Zahl die (beiliegende) Petition für Glusman unterschrieben. Das Europa-Parlament hat am 18. November d.J. unter Bezug auf den Weltkongreß die Psychiatrisierung politischer Häftlinge verurteilt und zugesagt, den Standpunkt auf der Belgrader Konferenz nachdrücklich zu vertreten.
6. Die konkrete Arbeit wird wohl weiter bei den Menschenrechtsorganisationen, speziell auch bei unseren fachorientierten Komitees und Vereinigungen bleiben.* Dringend die Bemühungen um Glusman. Brief und Petitionsliste (s. Anlage) sind an 250 psychiatrische Kliniken etc. ausgelaufen, haben bislang 185 Unterschriften erbracht. Vielleicht könnten auch Sie noch einige dazugewinnen. - Einzutreten wäre für Felix_Serebrow, der als Mitglied der Moskauer Psychiatriekommission im Juli d.J. verhaftet und am 12. Oktober d.J. zu einem Jahr Arbeitslager verurteilt wurde. Die Kommission, insbesondere ihr Sprecher Alexander Podrabinek (Auszüge seines Buchs "Strafmedizin" wurden von AI verteilt) sind insgesamt extrem gefährdet. Wesentliche Hilfe läge in Ihrer Kontaktaufnahme. Die Adresse nochmals: UdSSR/ 117334 Moskwa/ Vorobevskoe schosse 5, KV 37/ Irina Kaplun.
Deprimierende Nachrichten haben die letzten Wochen gebracht: Nach Podrabinek bzw. nach einer Reuter-Depeschenmeldung vom 5. November d.J. sind erneut Oppositionelle in psychiatrische Anstalten eingeliefert worden, so Michail Kukobaka in Mogilev, Galina Kukarskich und Wladimir Weretennikow in Leningrad, Jury Wiwtasch in Dnjeprprppetrovsk und Wladimir Roschestwow in Kaluga, dieser wegen "Verleumdung der Sowjetunion": Er hatte "ausländische Radiostationen abgehört, Über Engpässe in staatlichen Läden gesprochen, verleumderische Gedichte geschrieben, Klagen über zu niedrige Entlöhnung geführt und das Leben im Westen gepriesen" (Neue Zürcher Zeitung vom 26.11.1977) .
So geht das Jahr, das einige Hoffnungen nährte, in Sorge zu Ende. Daß wir ihr über Nacht enthoben sein würden, konnten wir freilich nicht erwarten. Bemühen wir uns weiter.Für Ihre bisherige Unterstützung danken wir Ihnen herzlich. Zum Weihnachtsfest und zum neuen Jahr entbieten wir Ihnen beste Wünsche und Grüße
(Dr. F. Weinberger) VorsitzenderBeigefügt war dem Rundbrief die Rede, die Ref. auf der (von britischen, amerikanischen, schweizerischen und deutschen Schwesterorganisationen unterstützten) öffentlichen Veranstaltung des Komitees französischer Psychiater gegen die Verwendung der Psychiatrie zu politischen Zwecken am 31. August 1977 in Honolulu gehalten hatte. Sie war immerhin im "Spektrum der Psychiatrie und Nervenheilkunde" 6/77 ausgedruckt worden, in einem Organ des "Mainstreams".
Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren!
Der Widerstand gegen den Mißbrauch der Psychiatrie zur Unterdrückung Andersdenkender entwickelte sich in Westdeutschland zögernd. Einige Psychiater bezogen dagegen offen in Medien und in Versammlungen Stellung, nachdem - die Fakten offenliegend - 1971 die Delegierten des psychiatrischen Weltkongresses in Mexico-City ihrer Verpflichtung ausgewichen waren. Anfangs war die Mehrheit der deutschen Psychiater aber wenig geneigt, in Sachen der Menschen- rechte, die eigentlich ei n Grundanliegen aller Ärzte sind oder sein sollten, substantiell über die Haltung, die der Psychiatrische Weltkongreß eingenommen hatte, hin- auszugehen. Es scheint, daß dieses Zögern auch bedingt war durch die Geschehnisse in der deutschen Psychiatrie während der Nazizeit. Andererseits haben aber gerade die Erinnerung an jene Verbrechen und die zunehmende Evidenz un- rechter Praktiken in sowjetischen Psychiatriekrankenhäusern und die Belastung, die diese Fehlbehandlungen für die Reputation der Psychiater in aller Welt darstellen, den Protest dagegen auch in unserem lande verstärkt.
Einige mit diesem Problem befaßte Ärzte bildeten im Herbst 1975 ein Initiativkomitee - die Prinzipien und Ziele einer ähnlichen Gruppe übernehmend, die einige Monate zuvor in Genf gegründet worden war. Mit der Unterstützung von rund sechzig Kollegen, die diese Ziele billigten und mit der Unterstützung von anderen Ärzten und Laien stituierte sich einige Zeit später die Deutsche Vereinigung gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie. Die offizielle deutsche Fachgesellschaft DGPN trat in die Position dieser Vereinigung ein durch weitgehende Annahme eines entsprechenden Resolutionsantrags im Juni 1977. Wir erwarten so heute abend in der Generalversammlung des Weltverbands für Psychiatrie auch von seiten der deutschen Delegation eine offene Verurteilung des Mißbrauchs und einen Appell zu seiner Beendigung.
Zwei Schlußfolgerungen:
Erstens: In den Fragen beruflicher Ethik können wir nicht auf die Direktiven vom Olymp warten. Was zu tun ist, muß auch in der Psychiatrie im Rahmen des Rechts jeder für sich entscheiden und tun.
Zweitens: Da Psychiater über das Schicksal vieler Menschen Macht haben und ihre Macht auf Grund wissenschaftlicher und administrativer Entwicklung wächst und die Ideologien und Irrtümer ihrer Zeit sie nicht sicher verschonen, werden diese Psychiater den ethischen Aspekten ihrer Arbeit zunehmende Aufmerksamkeit zuwenden müssen und werden dazu noch zunehmende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit brauchen, damit sie - wir in Praktiken, derer wir jetzt einige unserer sowjetischen Kollegen anklagen, eines Tages nicht selbst verwickelt sind.
Dr. F. Weinberger
|
|