Deutsche Vereinigung gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie e.V. (DVpMP)

Internationale Vereinigung gegen die politische Verwendung der Psychiatrie (IAPUP)

IAPUP ist eine Konföderation von nationalen Mitgliedsgruppen und Komitees in Großbritannien, Frankreich, der Schweiz, den USA, den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland.

Herausgeber dieses Rundbriefs ist die DVpMP, die deutsche IAPUP-Mitgliedsgruppe, presserechtlich verantwortlich ihr Vorsitzender. Ein Nachdruck in Auszügen oder zur Gänze steht (abgesehen von den Seiten 5, 6, 57 und 75) ohne Einholung besonderer Erlaubnis frei. Ir einem solchen Fall bittet die DVpMP lediglich um Zusendung eines Abdrucks.

 

 Nachdem uns weitere Druckexemplare des Rundbriefs nicht mehr vorliegen, sie auch interessierten Bibliotheken nicht mehr  überlassen werden können, stellen wir ihn im Oktober 2001 ins Netz, um eine möglichst authentische Nachverfolgung der seinerzeitigen Geschehnisse in den von uns verfolgten Bereichen der Psychiatrie zu ermöglichen. Verloren gingen beim Übertrag einzelne, jetzt gänzlich überholte Texte, die seinerzeit publizierten Bilder, letztlich das gesamte Lay-out des seinerzeitigen Druckes. Nicht aus unserer Feder stammende wie auch nachträglich jetzt eingefügte Texte werden durch Kursivdruck gekennzeichnet. W

Rundbrief 1/88                                              Mai 1988

Inhalt

F. Weinberger, Einführung 

H. Häfner, In memoriam Prof. Dr. Walter Ritter von Baeyer

W. von Baeyer, Für die Opfer solcher Manipulationen eintreten!

F.L. Graf Stauffenberg, Politische Psychiatrie - die Sedierung des Geistes

H. Bieber, Zur Geschichte des politischen Mißbrauchs der Psychiatrie - Phantasie und Wirklichkeit

O. Luchterhand, Konstitutionelle und gesetzliche Fundierungen der Freiheitsrechte in der UdSSR      und ihre Limitierungen unter psychiatrischen Aspekten  

W. Bartoszewski, Eine Diskussionsbemerkung

C. Gerstenmaier, Menschenrechte in der UdSSR unter Gorbatschow

R. van Voren, Neuere Entwicklungen im Psychiatriemißbrauch der UdSSR

A. Korjagin, Fortsetzung des Gesprächs über psychiatrische Repression

F. Weinberger, Die Reaktion der westlichen Psychiater auf den Psychiatriemißbrauch

A. Reif - F. Weinberger, Rückschau und Ausblick  

C.-E. Langen, Auch in hohen Ämtern wird nichts mehr beschönigt (Artikel der FAZ 6.4.88)

        Vermischtes

Einführung

Der vorliegende Rundbrief gibt überwiegend Vorträge wieder, die auf der Tagung "PSYCHIATRIE UND GLASNOST" am 23. Januar 1988 in Bonn gehalten wurden. Der Gesellschaft KONTINENT e.V. und der EUROPÄISCHEN KONFERENZ FÜR MENSCHENRECHTE UND SELBSTBESTIMMUNG e.V., die mit uns die Tagung trugen und dazu den größten Teil der Organisation übernahmen, haben wir an dieser Stelle nochmals für ihre Hilfe herzlich zu danken. Wie kaum zuvor ist es mit der Tagung gelungen, eine große Zahl von Mitbürgern, unter ihnen viele Prominente, zur Information und Diskussion der Probleme des Psychiatrie-Mißbrauchs zusammenzuführen.

Wie es unsere Rundbriefe über die Jahre versuchen, spiegeln die Referate zum einen aktuelles Geschehen, zum anderen seine historischen, gesellschaftlichen, politischen und fachlich-wissenschaftlichen Hintergründe. Sie geben in jedem Fall die Meinung der einzelnen Autoren, nicht unbedingt die der Vereinigung wieder. Den grundsätzlichen Einwand hörten wir schon, in Zeiten von "Glasnost" sei aus dem Thema doch "die Luft  raus". Natürlich meinen das vor allem diejenigen, die von seiner öffentlichen Behandlung noch nie etwas wissen wollten. Wir halten die Behandlung weiter für notwendig. Der Kampf gegen das Übel ist keineswegs schon gewonnen. Offenheit, unsere stärkste Waffe in ihm, braucht es wie eh und je und hüben wie drüben.

Dem Abdruck der Vortragstexte liegen zum Teil die originalen, zum Teil überarbeitete Redemanuskripte zugrunde, zum Teil auch Bandmitschriften von einer Reportage des Bayerischen Rundfunks am 2. Februar 1988. Textkürzungen waren teilweise unumgänglich. Den Referaten wurden aber des unmittelbaren Zusammenhangs wegen auch einige Texte hinzugefügt, vorangestellt ein Nachruf auf unseren verstorbnen Ehrenpräsidenten, Professor Walter Ritter von Baeyer, vorangestellt auch ein bislang unveröffentlicht  gebliebener Redetext von ihm. Angefügt wurden ein "Tagungsrückspiegel" und als Überblick über die jüngeren Entwicklungen ein Bericht der FAZ vom 06.04.1988.

Bezüglich der aktuellen Situation, insbesondere der aktuellen Fälle, bitten wir unsere verehrten Mitglieder auf das beiliegende englischsprachige IAPUP-Bulletin zurückzugreifen. Weil anders die Arbeit nicht mehr zu schaffen ist, werden sich die nationalen IAPUP-Mitgliedsgruppen in Zukunft stärker an die Amsterdamer "Zentrale" anlehnen, werden wir damit mehr und mehr englischsprachige Informationen unübersetzt weitergeben müssen. Bei der Jahresversammlung der DVpMP am 25. Juni 1988 in München soll u.a. auch darüber nochmals beraten werden.  F. Weinberger

 

aus Nervenheilkunde, F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH (1987)

 

In memoriam

Prof. Dr. Walter Ritter von Baeyer

 

Prof. em. Walter Ritter von Baeyer, von 1955-1972 Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, ist am 26.6. 1987 im 83. Lebensjahr plötzlich verstorben. .. v. Baeyer war einer der wenigen herausragenden Vertreter seines Fachgebiets in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist 1957 in das Executive Committee der World Federation of Mental Health ünd 1966 zum Vizepräsidenten der Psychiatrischen Weltvereinigung gewählt worden. Er hat wesentlich dazu beigetragen, das Ansehen der deutschen Psychiatrie nach dem inhumanen Mißbrauch während des Nationalsozialismus in der Welt wiederzugewinnen. In der Bundesrepublik ist er mit der höchsten Auszeichnung geehrt worden, die die deutsche Psychiatrie zu vergeben hat: der Kraepelin-Medaille. W. v. Baeyer entstammt einer angesehenen Gelehrtenfamilie. Der Großvater, Chemiker, wurde mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, der Vater war Ordinarius für Orthopädie an der Universität Heidelberg und Direktor der Orthopädischen Anstalt Schlierbach. Nach dem Medizinstudium begann Walter v. Baeyer seine Ausbildung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, einer Forschungsstätte von internationalem Rang. Er erfuhr seine ersten Anregungen von so bedeutenden Lehrern wie Jaspers, Wilmanns, Mayer-Gross, Gruhle und Homburger.

Hitlers Machtergreifung brach wie eine Katastrophe über das persönliche und berufliche Leben von W. v. Baeyer herein: Der Vater wurde aus dem Amt entlassen, seine Geschwister wanderten aus. Der Direktor der Psychiatrischen Klinik, Karl Wilmanns, wurde ins Gefängnis geworfen. Mayer-Gross und Strauß mußten, ebenso wie Wilmanns, auswandern. Die berühmte Heidelberger Schule der Psychiatrie war in wenigen Mona- ten zerstört worden.

Walter v. Baeyer entschied sich gegen die Emigration und erhielt ein Stipendium an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München. Er setzte dort seine Ausbildung unter wachsenden Schwierigkeiten mit dem nationalsozialistischen System fort. Betroffen von den Nürnberger Rassegesetzen, war ihm die Habilitation versagt.

Nachdem v. Baeyer die Forschungsanstalt verlassen mußte, fand er in der Sanitätsoffizierslaufbahn relativen Schutz vor politischer Verfolgung. Er hat den Nationalsozialismus ungebrochen und ohne Beteiligung an all dem Unrecht, das psychisch Kranken in jener Zeit widerfuhr, überstanden. Aus der leidvollen Erfahrung dieser Jahre erwuchs ein hohes Maß an Sensibilität für Freiheit und Gerechtigkeit, die er mit seiner Frau teilte.

Seit der Zeit, da Walter v. Baeyer seine Tätigkeit begann, hat sich die Psychiatrie grundlegend verändert. Zwischen den beiden Weltkriegen standen kaum wirksame Behandlungsmaßnahmen für psychische Erkrankungen zur Verfügung. Die Kranken selbst, vor allem die chronisch Kranken, waren jahrelang, mitunter auf Lebenszeit, in unzureichend ausgestatteten, vernachlässigten Krankenhäusern hinter Gittern untergebracht. Die Entwicklung zu einer modernen Psychiatrie, die inzwischen über eine Vielfalt von Behandlungsmöglichkeiten verfügt und weitgehend zur offenen Versorgung. psychisch Kranker übergegangen ist, hat Walter v. Baeyer nicht nur mitvollzogen, sondern auch wesentlich mitgestaltet.

Nach dem Kriege war W. v. Baeyer zunächst in Erlangen habilitiert, in Nürnberg zum Chefarzt und 1955 auf den Psychiatrischen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg berufen worden. Er hat sich frühzeitig um die Einführung psychotherapeutischer und sozialpsychiatrischer Verfahren in der Psychiatrie bemüht und die schrittweise Öffnung der damals noch vollständig geschlossenen Klinik verantwortet. Er hat 1960 den Aufbau einer Nachtklinik und 1963 den Aufbau einer Abteilung für Sozialpsychiatrie gefördert. Er hat schließlich entscheidend zur Gründung und Errichtung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim beigetragen.

Über das ärztliche Handeln hinaus hat er sich mit Nachdruck dafür eingesetzt, den sozialen und rechtlichen Raum für psychisch Kranke zu erweitern. Der damalige Vorsitzende des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge, Hans Muthesius., betraute ihn mit dem Vorsitz des »Aktionsausschusses zur Verbesserung der Hilfe für psychisch Kranke«. In dieser Eigenschaft war es ihm möglich geworden, die Gleichstellung psychisch Kranker im Sozialrecht weitgehend durchzusetzen.

Seine vielfältigen Kenntnisse und] Fähigkeiten und seine Bereitschaft, J Verantwortung für Staat und Gesellschaft zu tragen, waren Anlaß für seine Berufung in den Bundesgesundheitsrat und in den Wehrmedizinischen Beirat des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit. Für diese Verdienste war er 1972 mit dem großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.

Das wissenschaftliche Werk Walter v. Baeyers läßt seine Nähe zur Wirklichkeit des leidenden Menschen er- kennen. Schon seine Promotion beschäftigte sich mit der Psychologie verkrüppelter Kinder und Jugendlicher. Die bedeutendste internationale Anerkennung erfuhr er für seine Beschäftigung mit den seelischen Folgen der Konzentrationslagerhaft und ähnlicher Formen extremer seelischer Belastungen durch inhumane Behandlung von Menschen.

Wichtige weitere Themen seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Arzt-Patient-Beziehung, Wahnerkrankungen und Angst, ein Thema, das er mit seiner Frau, Dr. Wanda v. Baeyer-Katte, gemeinsam bearbeitet hat....

(Walter Ritter von Baeyer) war immer ein sensibler, verständnisvoller Mensch, der für seine Kranken ein offenes Herz, für seine Kollegen und Schüler ein hohes Maß an Toleranz und für sich selbst eher zuviel als zu wenig Selbstkritik hatte. Sein unbeugsames Bemühen um Gerechtigkeit, um Objektivität und um eine bessere und humanere Behandlung psychisch Kranker ließen ihn zum Vorbild einer neuen Generation von Psychiatern werden.

Die Schüler und Mitarbeiter von Baeyers, die in ihm einen ebenso  verständnisbereiten wie anregenden Lehrer erfahren haben, Dekan der Fakultät für Klinische Medizin II und der Medizinischen Gesamtfakultät der' Universität Heidelberg, nehmen Abschied von einem außergewöhnlichen Menschen.

Prof. Dr. Dr. H. Häfner, Mannheim

 

(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 


Walter Ritter von Baeyer

...für die Opfer solcher Manipulationen eintreten!

(Vortrag an der Psychiatrischen Universitäts-Klinik München am 12.07.1962  - Kürzungen, Hervorhebungen FW)

... Zunächst will ich versuchen, einen kurzen Überblick über Entstehung, Art und Umfang der gemeinten mißbräuchlichen Verwendung der Psychiatrie zu geben, und auch gleich sagen, wie ich selbst zur Befassung mit dieser zweifellos unangenehmen und peinlichen Angelegenheit kam. Ich habe am Ende meiner vierjährigen Wahlperiode als Vizepräsident der psychiatrischen Weltvereinigung bei deren fünftem in Mexico City 1971 stattgefundenen (Welt-)Kongreß zum ersten Mal von diesen Dingen erfahren. Dem waren aber schon Monate zuvor die später in Buchform erschienene Dokumentation von Wladimir Bukowski und ein dringender Appell des Physikers Sacharow an die Psychiater der Welt vorangegangen, die fragwürdigen Begutachtungen des psychiatrischen Serbski-Institutes in Moskau nachzuprüfen. Auf dem besagten 5.Weltkongreß kam es leider zu keiner öffentlichen Diskussion der Angelegenheit*, und ich konnte mich erst nach dem Kongress mit den von Bukowski beigebrachten Materialien und den Ergebnissen einer britischen Arbeitsgruppe näher befassen. Dann aber tat ich es und erlangte dabei die Gewißheit, daß zur Bekämpfung oppositioneller Ansichten und! Reformvorschläge von psychiatrischen Fehlbegutachtungen und ungerechtfertigten Zwangsbehandlungen in geschlossenen Anstalten Gebrauch gemacht wurde Ich habe darüber auch mehrmals publiziert und vorgetragen, so in "Standorte der Psychiatrie" (München-Wien-Baltimore 1976), und arbeite in einer 1976/77 entstandenen Deutschen Vereinigung gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie mit...

* Der britische Psychiater Malcolm Lader berichtet zu diesem Punkt in seinem Buch PSYCHIATRY ON TRIAL  (Penguin-Books 1977, S. 166 und 167): "Mitte 1971 war allgemein bekannt, daß ein psychiatrischer Weltkongreß für Ende November in Mexico City stattfinden würde. So drang Wladimir Bukowski, als er einschlägige Dokumente samt Krankengeschichten in den Westen sandte, darauf, daß die Angelegenheit auf dem Kongreß vollständig erörtert würde. Am 16. September 1971 richteten mehrere renommierte Psychiater unter Führung von Prof. F.A. Jenner aus Sheffield ein Schreiben an THE TIMES, in dem sie das Problem darlegten und an ihre Kollegen in aller Welt appellierten, die Sache auf dem Kongreß aufzugreifen. Unter den Unterzeichnern war Professor von Baeyer, der Vizepräsident (des WVP)... Als am 27. November 1971 das Exekutivkomitee (des WVP) in Mexico-City zusammentrat, berichtete Denis Leigh (der damalige Generalsekretär - FW), daß mehrere Klagen von Einzelpersonen eingegangen und an Prof. Sneschnewski nach Moskau weitergeleitet worden wären. Dies wurde beifällig so akzeptiert trotz eines aufrüttelnden Appells Professor von Baeyers, der zu einer ernsthaften Aktion aufforderte. Dr. Leigh... verteilte ein Dokument, in dem er - ganz korrekt - darlegte, daß die Statuten nichts darüber besagten, inwieweit der WVP bezüglich der ethischen Aspekte der Psychiatrie in der Verantwortung stünde". Der deutsche Psychiater Prof. H. E. Ehrhardt, der sich wie Leigh über die Jahre verbrauchte, die Mißbrauchsangelegenheit herunterzuspielen, kam dafür später in einem offenen Brief (in SPEKTRUM 4/76) mit der Adresse: "Jetzt müßte ich eigentlich Sie, verehrter Herr Kollege von Baeyer, fragen, warum Sie in Mexico - immerhin als Vizepräsident der WVP - diese... Anträge (auf eine ernsthafte Behandlung des Themas - FW) nicht - sagen wir - intensiver unterstützt haben" - und blieb mit solcher Unverfrorenheit in der Kollegenschaft fast ohne Widerspruch. FW

 

... Nun drängen sich pragmatische Fragen auf, ob es überhaupt sinnvoll und hilf- reich ist, zugunsten freier Meinungsäußerungen und repressionsfreier Verhaltensstile an einem so relativ kleinen und geringfügigen Sektor totaler Unterdrückung anzusetzen, wie er in der ungerechtfertigten, zwangsweisen Psychiatrisierung geistesgesunder Dissidenten besteht. Wenn diese eben nicht in psychiatrischen Anstalten landen sollen, so erspart ihnen unsere Psychiatriekritik keineswegs das Schicksal, eben anderweitig unterdrückt und kriminalisiert zu werden. Ein anderer Einwand, dem ich manchmal begegne, läuft darauf hinaus, ob wir als Deutsche, die wir das Verbrechen der sog. Euthanasie von Geisteskranken, aber auch die höchst fragwürdige Zwangssterilisation hinter uns haben, berechtigt wären, uns über andere Formen politisch manipulierter Psychiatrie zu beschweren. Ich glaube, daß diese eher pragmatischen und die auf dem Spiel stehenden ethischen Grundwerte des psychiatrischen Handeins verkennenden Ein- wände nicht zwingend sind und weder zur Resignation noch zu tatenlosem, gleich- gültigem Zusehen verleiten dürfen. Auch wenn wir nur einen winzigen Zipfel der totalitären Unterdrückung von Menschen fassen können, so sollen wir das tun, noch dazu auf einem so labilen, so starken  auch ungerechtfertigten - Vorwürfen ausgesetzten Boden wie dem der Psychiatrie und in einem Gebiet internationaler Zusammenarbeit, das ohne Ehrlichkeit und Sauberkeit, ohne Konsens in den ethischen Grundfragen nicht gedeihen kann. Und wir Deutschen? Gerade unserer Generation, die den Mißbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken zwar nicht mitgetragen, aber doch miterlebt hat, ist eine besondere Sensibilität für einen derartigen Mißbrauch nicht zu verbieten, nicht zu verdenken, im Gegenteil, (sie ist uns) geradezu abzufordern.

Der Mißbrauch der Psychiatrie zu außerpsychiatrischen Zwecken... ist als ein systematischer, vielfach auf ähnliche Weise betriebener Mißbrauch für die Sowjetunion seit dem Erscheinen von Wladimir Bukowskis Buch "Opposition: eine neue Geisteskrankheit der Sowjetunion?" (München, 1972) hundertfach belegt und beschrieben worden. Man weiß davon nicht bloß durch Dokumente und deren Interpretation, sondern auch durch die unmittelbare Zeugenschaft von Dissidenten, die die Psychiatrisierung über sich ergehen lassen mußten, aber auch von einer Reihe von psychiatrischen Fachleuten, die in den Westen gelangt sind, sei es durch Haftentlassung und legale Ausreise, durch Ausbürgerung oder Flucht. Vereinzelt konnten auch aus der Zwangsinternierung entlassene Personen von einem die russische Sprache beherrschenden westlichen Psychiater (nach-)untersucht werden...

... Mir selbst sind die sowjetischen Gerichtspsychiater, soweit ich sie persön- lich und aus ihren sonstigen Veröffentlichungen kenne, zu intelligent und psychopathologisch zu gebildet, um ihnen für ihr gutachtliches Fehlverhalten ohne weiteres die bona fides zuzuerkennen. Diese Herren berufen sich auf einen weiten Schizophreniebegriff, kennen eine sog. latente, schleichende Schizophrenie greifbare Symptome, finden, daß eben auch politische, religiöse, weltanschauliche Devianzen von dem staatlich sanktionierten Standard das Ergebnis einer solch schleichenden und sonst symptomlosen oder symptomarmen schizophrenen Psychose sein können. Sie übersehen dabei geflissentlich und, wie ich meine, bewußt, einen naheliegenden, beinahe selbstverständlichen Umstand: die Erweiterung der nosologischen Klassifizierung in Richtung auf Einbeziehung von Grenzzuständen fordert für den gerichtspsychiatrischen Zweck der Beurteilung der Verantwortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit eine besonders sorgfältige Analyse der dem Delinquenten zur Verfügung stehenden kognitiven und voluntativen Fähigkeiten. Die in unsere Hand gekommenen Gutachten und Berichte verraten in dieser Hinsicht einen auffallenden Mangel. Obwohl der russischen Gerichtspsychiatrie die Berücksichtigung des sogenannten psychologischen Stockwerks der geltenden Bestimmungen für die Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit nicht fremd ist, gehen die betreffenden Gutachter über diesen Punkt meistens achtlos hin- weg, statuieren kurzschlüssig und mit Selbstverständlichkeit, daß z.B. ein angeblich an einer schleichenden Schizophrenie leidender Dissident seine sog. Reformideen nur im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit und Verantwortungslosigkeit konzipiert und verarbeitet haben kann.

Daran zeigt sich ein gutachtlicher Mangel, der auch offensichtlich wird, wenn die nosologisch-diagnostische Grundlage nicht nachgeprüft werden kann, weil man eben den Betreffenden nicht persönlich gesehen hat. Das ist ja ein Einwand, den man nicht selten von Fachkollegen hört, die sich einer Kritik an der sowjetrussischen Gerichtspsychiatrie enthalten zu müssen glauben, weil man eben nicht in der Lage sei, die Patienten persönlich zu untersuchen. Solche persönlichen Untersuchungen sind in der Tat nur selten möglich, und dann fast nur bei Personen, die inzwischen in den Westen gekommen sind und über ihre Erlebnisse in der Strafpsychiatrie ihres Heimatlandes berichten können. Nicht alle in den Westen gelangten Dissidenten stehen natürlich für eine psychiatrische Nachuntersuchung zur Verfügung. Einige von ihnen, über deren Begutachtung wir dokumentarisch näher orientiert sind, zeigen jedoch durch die Lebensbewährung, die soziale Unauffälligkeit, manchmal auch durch ihre literarische oder wissenschaftliche Produktivität, daß die Glaubwürdigkeit ihrer psychiatrischen Diagnose auf schwachen Füßen steht oder glattwegs verneint werden muß.

Zu den Argumenten, die gegen eine Glaubwürdigkeit und für einen geradezu schamlosen Opportunismus jener sprechen, die das Vorgehen gegen menschenrechtlich oder religiös motivierte Dissidenten mit falsch angebrachten psychiatrischen Methoden betreiben oder rechtfertigen, gehört auch... die Gepflogenheit der~/ betreffenden Psychiater, den ihrer Verantwortung anvertrauten, angeblich psychosekranken Leuten nahezulegen, ihre abweichenden Ansichten und Absichten zu widerrufen, was die Vorbedingung für die Entlassung aus psychiatrischer Internierung wäre. Auch Korjagin bestätigte in seinem LANcET-Artikel (s. RB 2/84 - FW) derartig erpresserische Manipulationen. Alle die von ihm untersuchten Patienten sprechen von Bestrafung durch sog. Behandlung, von Drohungen und Versuchen, die Leute zu zwingen, ihre Überzeugungen und Ansichten zu widerrufen. Dies sei die Art und Weise, in der Dissidenten in psychiatrischen Spitälern behandelt würden, besonders in gerichtsmedizinischen Sonderanstalten. Vergleiche dazu die von Alexander Podrabinek verfaßte Schrift "STRAFMEDIZIN", deutscher Auszug durch Amnesty International und DVpMP.

...Zum Schluß möchte ich Ihnen noch kurz über eine persönliche Untersuchung berichten, die ich gemeinsam mit Herrn Kollegen Meyendorf vor zwei Jahren (1980 - Prof. R. Meyendorf, Abteilung für Psychopathologie, Psychiatrische Universitätsklinik München - FW) hier in der Klinik durchführen konnte. Eine z.Z. der Untersuchung 31-jährige unverheiratete Frau, die seit einigen Jahren in München lebt und bei einer amerikanischen Dienststelle journalistisch-redaktionell berufstätig ist, erklärte sich freundlicherweise dazu bereit... Die Probandin - von einer Patientin kann man bei ihr schlecht sprechen - war zusammen mit ihrer jüdischen Familie in Moskau ansässig. Der Vater, die Mutter und eine Schwester übten den Ingenieurberuf aus. Die Probandin selbst befand sich in Ausbildung, wollte sich dem Journalismus oder dem Verlagswesen widmen. Schon während ihrer Schulzeit nahm sie regen Anteil an Diskussionen über die Menschenrechte und ihre Verletzung in der Sowjetunion. Sie beteiligte sich auch an der Verbreitung unerlaubter Literatur. Mit 16 Jahren wurde sie, kurz nachdem sie Flugblätter unter Freunden und Bekannten verteilt hatte, aus der Schule herausgeholt und für etwa sechs bis sieben Wochen auf einer kinderpsychiatrischen Abteilung untergebracht. Von einer Krankenschwester erfuhr sie die bei ihr gestellte Diagnose: die einer sog. latenten oder langsam ver- laufenden Schizophrenie. Eine Behandlung fand nicht statt.

Nach der Entlassung konnte sie ihre Schul- und Fachausbildung fortsetzen. Erst mit 20, 21 Jahren geriet sie wieder mit Behörden und mit der Psychiatrie in Berührung. Auch diesmal war es ein politisch unerwünschtes Verhalten, das zu ihrer erneuten Inhaftierung führte. Man warf ihr die Teilnahme an einer Rangelei mit der Polizei vor, die sich vor einem Gerichtsgebäude in Zusammenhang mit dem Prozeß gegen die ebenfalls psychiatrisierte Schriftstellerin Natalija Gorbanjewskaja abgespielt hatte. Diesmal kam sie für etwa 2 Monate in das Moskauer forensisch-psychiatrische Serbski-Institut. Dort habe man sie immer wieder und tatsächlich grundlos auf Stimmen hören exploriert und schließlich wieder ohne Behandlung nach Hause geschickt. Der 3. psychiatrische Zwangsaufenthalt ereignete sich ein Jahr später, offensichtlich präventiv zur Verhinderung weiterer bürgerrechtlicher Aktivitäten bei dem damals stattfindenden 24. Parteikongreß. Sie kam auf eine Erwachsenenabteilung des Moskauer Kaschtschenko-Hospitals und wurde sogleich mit hochpotenten neuroleptischen Mitteln behandelt, bis eine Dyskinesie mit Zungen-Schlundkrämpfen, Blickkrämpfen und torsionsdystonischen Erscheinungen auftrat.

Bald nach ihrer Entlassung konnte die Familie nach Israel auswandern. 1973 kam die Probandin dann nach München. Herr Meyendorf und ich hatten unabhängig von einander den Eindruck, daß es sich bei ihr um eine unauffällige, sich natürlich und situationsgemäß verhaltende Persönlichkeit handelt mit nicht den geringsten Zeichen von dem, was man im weitesten Sinne als schizophren oder als zum schizophren-schizoiden Spektrum gehörig bezeichnen kann. Auch gezielte Exploration ergab keinen Hinweis auf das Vorhandensein von psychotischen Erlebnis- und Verhaltensweisen. Die Probandin war ganz offensichtlich nur aus polizeilich-politischen Gründen inhaftiert und psychiatrisiert, unbegründet mit einer hochdosierten Neuroleptika-Behandlung traktiert und, wie sich jetzt zeigte, sicher falsch diagnostiziert worden als schleichende, blande, langsam verlaufende Schizophrenie, die nach ihren russischen Beschreibern bei aller symptomatologischen Vieldeutigkeit doch schließlich zu einem Persönlichkeitsdefekt, einer post- schizophrenen Persönlichkeitsveränderung führen müßte. Eine solche war aber auf klar ersichtliche Weise nicht einmal in den geringsten Ansätzen merkbar. Zu einem Gerichtsverfahren mit förmlicher Exkulpierung war es zwar bei ihr nicht gekommen, wohl aber zu mehrmaligen Zwangsaufenthalten in psychiatrischen Institutionen und eben zu dieser höchst unangenehmen Neuroleptikabehandlung mit ihren extrapyramidalen Nebenwirkungen.

So wurde die Probandin in der Tat zu einer "Unwillig Patient" (s. RB 2/84) im Sinne von Korjagin, zu einer unfreiwilligen Patientin, die noch von Glück reden' darf, daß ihr nicht auch noch der Prozeß gemacht und die Auswanderung au dem "Vaterland der Werktätigen" verwehrt wurde.

Was die für derartige Praktiken besonders geeignete Diagnose einer blanden, schleichenden, langsam verlaufenden oder auch latent genannten Schizophrenie angeht, so beziehe ich mich dabei auf das von Sneschnewski herausgegebene Sammelwerk Schizophrenie (deutsch: Thieme, Leipzig, 1977), (hier) auf ein zweites, vom Herausgeber selbst verfaßtes Kapitel: "Verlaufsform der Schizophrenie";  interessant und bezeichnend, daß hier dem blanden schizophrenen Syndrom, abgesehen von allen möglichen neurotischen und auch zyklothymen Varianten, "neurotiforme, überwertige Ideen und paranoider Wahn" zugeschrieben werden. Derartiges kann dann auch ohne große Mühe bei unerwünschten Reformideen und Reformvorschlägen in Richtung einer Wahrung der elementaren Menschenrechte oder auch bei religiösen Überzeugungen geschehen. So hat man sich denn auch  psychopathologischer Begriffsunschärfe - mangelnde Trennung von Wahn und überwertiger Idee - bedient, um der Psychiatrisierung de facto gesunder Personen ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen. Ich kann mich, um das zum Schluß zu sagen, mit dieser psychiatrischen Falschmünzerei einmal nicht einverstanden erklären, auch wenn sie von Fachgenossen kommt, die dicke Bücher geschrieben und sich in anderer Weise um die Psychiatrie verdient gemacht haben, und ich sehe mich immer wieder dazu veranlaßt, nach meine schwachen Kräften dagegen zu protestieren und für die Opfer solcher Manipulationen einzutreten.

 

(Welches Echo der Vortrag fand, dazu das Kapitel „Die Reaktionen der westlichen Psychiater...

 

 

 

 

Franz Ludwig Graf Stauffenberg

 

Politische Psychiatrie - Die Sedierung des Geistes

Graf Stauffenberg, über lange Jahre Abgeordneter der CSU zum Deutschen Bundestag, jetzt Mitglied des Europäischen Parlaments, sprach auf der Tagung 'Psychiatrie und Glasnost" für die Europäische Konferenz für Menschenrechte und Selbstbestimmung e.V. (EKMS). Seine Ausführungen waren uns u.a. besonders wichtig, weil mit ihnen erstmals ein namhafter Politiker unseres Landes zum Mißbrauch der Psychiatrie Stellung. bezog - nachdem er seit zwei Jahrzehnten in der Diskussion ist. W

 

Als Ende der fünfziger Jahre die ersten Nachrichten zu uns in den Westen gelangten, daß politisch Mißliebige in der Sowjetunion in psychiatrischen Abteilungen kaltgestellt würden, da stockte vielen der Atem. Und wohl ebenso viele zweifelten an der Verläßlichkeit der Information. War es nicht doch Übertreibung oder die Ausgeburt von Phantasien in der überreizten Stimmung des kalten Krieges?

Heute wissen wir längst, daß jene erschaudern machenden Meldungen stimmten. Wir wissen, daß nur die oberste Spitze eines Eisbergs sichtbar geworden war. Heute kennen wir zahlreiche Namen von Opfern, oftmals bezeugt, dokumentarisch belegt ihr durchlittenes Schicksal. Unter uns ist Leonid Pljuschtsch. Wir denken an General Grigorenko, an Wladimir Bukowski und an andere Namen, die die Welt bewegt haben, wenngleich vielleicht nur allzu kurz und vorübergehend. Heute sprechen die Funktionäre selbst von Mißbrauch der Psychiatrie: Sie erkennen ihn als ein Problem an, das so verbreitet und so schwerwiegend erscheint, daß es nun neue und schärfere Gesetze erfordert.

Aber über den politischen Mißbrauch reden und schreiben sie nicht - noch nicht? Auch nicht im Zeichen von Glasnost. Und bei uns, im Westen, scheint es nicht opportun zu sein, darüber öffentlich zu reden, im Zeichen von Glasnost. Wegen der Perestrojka. Fast möchte man sagen, wir kennen das unter unserer früheren Regierung. Aber da gab es Opposition.

Tatsächlich haben sich Politik und politische Publizistik mit dem Phänomen des politischen Mißbrauchs der Psychiatrie seit eh und je ganz ungenügend auseinan- der gesetzt. Vielleicht gilt dies auch für die Wissenschaft. Deshalb bin ich persönlich so dankbar, daß heute diese Tagung stattfindet. Ich erhoffte von ihr Anstöße, weniger für die Tagespolitik als auf längere Sicht.

 Als wir damals - um das Jahr 1969 - erstmals von den neuen Verfolgungsmethoden hörten, erschienen sie wohl als neue scheußliche Eskalation jener Torturen, mit denen totalitäre Diktaturen Gegner und Kritiker zum Schweigen bringen und die Unterworfenen disziplinieren. Teuflische Neuerung zu den bisher geläufigsten Varianten körperlicher Brutalität und physischer Liquidierung.

Die Einweisung des Unbelehrbaren in den Krankenstand trifft ihn und seine Sache tief. Die Methode des weißen Kittels ist äußerlich, körperlich sanfter, scheint also humaner als die Peitsche oder der Stiefel oder die Gaskammer. Aber sie zielt und trifft die Würde des Opfers. Sie knüppelt die Argumente nicht nieder, sie schließt sie nicht ab in KZs oder Gulags, widerlegt sie auch nicht. Sie entmündigt den Widerspruch. Sie entmündigt ihn - nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Entstehung. Und sie liefert mit dem Opfer auch sein Wort - machen wir uns da nichts vor: auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft - der Lächerlichkeit und einem entwürdigenden Mitleid aus. Der Vollstrecker aber, der Scherge, steht im Gewand des fürsorglichen Arztes, helfend und lindernd, mitfühlend und überlegen.

So erweist sich die Methode als raffinierter als die der primitiven Brutalität der Schläge. Vielleicht ist sie nicht wirksamer gegenüber dem Opfer, um seinen Geist zu brechen. Aber wirksam ist sie in der Wirkung des Abschreckens, in der Wirkung der Entmachtung des Einflusses, in der Wirkung auf den äußeren Anschein.

Aber damit ist das Thema der politischen Psychiatrie sicherlich nicht erschöpft: Glasnost und Perestrojka haben offenbar manchen in der Sowjetunion verändert, ob von Dauer, sei dahingestellt. Viele hohe Funktionäre haben ihre Posten verloren. Aber ein Mann namens Morosow befindet sich weiterhin in Würde und Amt, in voller Aktion. Er, Leiter des Moskauer Serbskij-Instituts, personalisiert den sowjetischen Psychiatriemißbrauch der vergangenen Jahre und ist offenbar ausersehen, seine Zunft mit dem Weltverband für Psychiatrie wieder zu versöhnen.

Meine Damen und Herren, wir hören mit Freude, daß kürzlich in der Sowjetunion etwa 60 Personen aus der politischen Zwangshospitalisierung freigekommen sind. Aber vom Ende des Psychiatriemißbrauchs kann keine Rede sein. Wer dies verkennt, versteht weder die sowjetische Reformbemühung, noch versteht er das Phänomen der politischen Psychiatrie.

Auch in der offeneren, dynamischeren, pragmatischeren und vielleicht sogar  toleranteren Gestalt hat das sowjetische Regime unter Gorbatschow den ideologischen Anspruch - den totalitären Anspruch über den Menschen - nicht aufgegeben. Nach 70 Jahren seit der Oktoberrevolution müßten wir eigentlich gelernt haben, diese Totalität - die unbedingte Gültigkeit einer Wahrheit und einer Normalität in allen Phasen des Daseins - ernst zu nehmen. Wer sich der festgelegten Norm, die sich als unbedingte Wahrheit der Diskussion und der Widerlegung entzieht, entgegenstellt, ist nicht nur im Unrecht. Er tut unrecht. Er schadet. Das dominante Interesse der Gesellschaft verlangt die Abstellung des Schadens, die Unschädlichmachung des Schädigers. Die Methoden sind bekannt: Abschirmung, Liquidierung, Isolierung, Abschreckung.

Dem gesellschaftlichen Interesse total nachgeordnet ist der Mensch. Hat er willentlich gegen die Norm verstoßen, ist er zu bestrafen. Droht er rückfällig zu werden, ist er zu verwahren und zu überwachen. Sind ihm böser Wille, kriminelle Energie aber nicht zu unterstellen, stellt er sich aber trotzdem gegen die unbedingte, alles durchdringende Norm, kann er nur "unnormal" , krankhaft verändert sein und bedarf der Therapie, und wo die nicht greift, doch der Pflege und Ruhigstellung. So wird der freie, der kritische Geist sediert. Im totalitären System dient auch die Medizin nicht dem Menschen. Sie behandelt ihn in und gemäß seiner ideologisch vorgegebenen Funktion in der Gesellschaft. Der freie, widersprechende Geist ist e definitione das Gegenteil totalitärer Norm, begrifflich unversöhnlich. So ist letztlich die politische Psychiatrie nicht die verirrte Perversion, sondern die konsequente logische Folge der totalitären Ideologie. Das Scheußlichste an ihr ist, daß ihre gläubigen Vollstrecker den Vorwurf des Mißbrauchs gar nicht verstehen: Nicht weil sie nicht wüßten, was sie tun, sondern weil ihnen das Wesen des Menschen, an dem sie es tun, abhanden gekommen ist.

 

Helmut Bieber

Zur Geschichte des politischen Mißbrauchs der Psychiatrie - Phantasie und Wirklichkeit

Dr. med. H. Bieber ist frei praktizierender Neurologe und Psychiater Nervenarzt)in München. Außer seiner Mitarbeit in der DVpMP als 2. Vorsitzender gilt sein besonderes Engagement dem Ausbau sozialpsychiatrischer Hilfen zur Wiedereingliederung psychisch Kranker und Behinderter. Dr. Bieber ist Mitbegründer und konsultierender Arzt des Sozialpsychiatrischen Zentrums des DPWV in München. Im Folgenden sein Vortrag auf der Tagung "Psychiatrie und Glasnost" W

Seit es psychiatrische Krankenhäuser gibt, taucht immer wieder der Vorwurf auf, gesunde Menschen würden zu Unrecht in ihnen interniert. Dieser Vorwurf mag in Einzelfällen berechtigt (gewesen) sein; in aller Regel ergab rechtsstaatliche Nachprüfung seine Haltlosigkeit. Umgekehrt stieß jedoch die Behauptung, daß nunmehr in einem Staat systematisch gesunde Dissidenten, Andersdenkende zwangsweise in Nervenkrankenhäuser gesperrt würden, bei vielen Menschen auf Skepsis. Wir wissen heute, daß diese Praxis Tatsache ist. Ist sie nun aber Kennzeichen nur unserer Zeit, oder hat es sie, und sei es nur in Ansätzen, schon früher gegeben? Bedroht sie nur Menschen, die etwa der kommunistischen Staatsdoktrin ausgeliefert sind, oder stellt sie auch in westlichen Ländern eine Gefahr dar? Läßt sich hier gar ein Denkmuster für künftigen Umgang mit Andersdenkenden ablesen? Eine Befragung der Kulturgeschichte kann einige Antworten auf diese Frage geben und das Verständnis des ganzen  Phänomens erleichtern.

Vorausgesetzt seien einige grundsätzliche Bemerkungen. Wie keine andere Disziplin der Heilkunde ist die Psychiatrie - als eine relativ junge Wissenschaft - für Mißbräuche anfällig geblieben. Ihr Elend begann schon damit, daß es sie lange Zeit nicht gab. Bis dahin war psychisches Kranksein als "Besessenheit", "Lasterhaftigkeit", "Strafe Gottes oder der Götter" angesehen und entsprechend grausam geahndet worden. Aber auch als sich die Psychiatrie als Wissenschaft konstituiert hatte, zeigten sich Schwierigkeiten, die bis heute ihre erfolgreiche Ausübung zum Wohle der Kranken behindern:

1. Gegenstand der Psychiatrie sind die Störungen des Seelenlebens. Den Begriff "Seele" muß sie jedoch mit anderen Disziplinen - der Rechtswissenschaft, Psychologie, Theologie - teilen, die diesen Begriff zum Teil völlig anders definieren.

Dieser Sachverhalt erschwert für weite Kreise das Verständnis für die Eigentümlichkeiten der Psychiatrie.

 

2. Aber auch innerhalb des Faches besteht keineswegs Einigkeit über die Natur der psychischen Krankheiten. Ursprung und Entstehung dieser Krankheiten liegen tatsächlich vielfach noch im Dunklen. Wie jede andere Wissenschaft kann die Psychiatrie nur auf dem Boden gesicherter Forschung eine Kompetenz gewinnen, die überzeugt und willkürliche Manipulierbarkeit verhindert. Da aber selbst in Grundfragen und -begriffen der Psychiatrie erhebliche Unsicherheiten persistieren, können in ihr mehr wohl als anderswo immer wieder Spekulation und Manipulation Platz greifen.

3. Die Notwendigkeit, schwerer psychisch Kranke vor sich selbst und die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen, hat den Psychiater mit einer (gewiß . beschränkten) Macht ausgestattet. In besonders schweren Fällen kann er Kranke mit Zwangsmaßnahmen belegen. Damit steht der Psychiater in einem Loyalitätskonflikt zwischen seinem Patienten und dem Staat, der ihn mitunter bedrängt, bestimmte, die staatliche Ruhe störende Verhaltensweisen des Individuums als "anomal" festzulegen.

4. Der Psychiater ist immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, daß es eine archaische Verhaltensweise des Menschen gibt, die darauf abzielt, eine, mißliebige, nonkonformistische und starrsinnig bei ihrer Eigenart beharrende Person durch das Votum der psychischen Krankheit oder der geistigen Unzurechnungsfähigkeit auszuschalten. Zweifellos ist diese Form der Aggressionsabfuhr "eleganter", "sauberer" und endgültiger als physisches Abstrafen. Wir wissen ja selbst nur allzu gut, wie schnell uns bei einem Menschen, dessen Motive wir nicht recht verstehen, das Wort "verrückt" über die Lippen kommt!

Die Punkte 3 und 4 stehen in engem Zusammenhang. Jede Kultur und Ideologie schafft durch die ihr innewohnenden Werte auch Verhaltensnormen des Angepaßt- seins, bei deren Überschreiten leicht auf "Anomalie" und damit Krankheit oder Besessenheit erkannt wird. Alexander Mitscherlich sagt: "Das Signal einer abstoßend empfundenen Fremdheit macht die Projektion von Vernichtungsaggression auf diese Fremdgruppen möglich, schaltet das neugierige Interesse aus und schläfert das aggessionshemmende Gewissen ein." Das will heißen: Ausgeschaltet wird das Faszinosum psychischen Andersseins, das ja, wie viele Grunderfahrungen des Menschlichen, ambivalent ist. "Du bist verrückt" ist zweifellos eine negative Wertung, aber eine neue Sache für "toll" oder "irre" zu halten, verrät ihre Attraktivität.

Eine kulturgeschichtliche Betrachtung verrät nun, daß es gerade die Verbindung von rigider Normsetzung mit archaischer Aggressionsabfuhr war, die in der Vergangenheit immer wieder normale, unbequeme, "dissidente" Menschen, eigen- ständige Denker und Pioniere des Neuen in den Ruf psychischer Abartigkeit und Krankheit brachte. Die Existenz dieser unheiligen Allianz hatte schon lange ihren Niederschlag in der Phantasie prophetischer Dichter gefunden, ehe sie in den sowjetischen Spezialnervenkrankenhäusern traurige Wirklichkeit wurde.

Erstmals institutionalisiert tritt uns, soweit ich sehe, die politische Verwendung des Verrückten bzw. für verrückt Erklärten im Mittelalter in der Gestalt des Hofnarren entgegen. Seine wirkliche oder vorgebliche Narrheit wird vordergründig zur Unterhaltung ausgenützt. Seine Faszination besteht aber nicht nur in der Absurdität seiner Äußerungen, sondern ganz wesentlich auch darin, daß sich in einem intoleranten Umfeld seine Absurdität als die eigentliche Wahrheit erweist, die nur von ihm, der keinen Status hat, gefahrlos geäußert werden kann. Die Erkenntnis, daß Wahrheit oft im Mantel der Narrheit erscheint, ja, daß der Narr der eigentliche Verkünder der Wahrheit ist, daß man aber auch: dem, der Wahrheit sagt, ungestraft diesen Mantel umhängen darf, hat einerseits die Phantasie der Dichter von Shakespeare bis Cervantes beflügelt, andererseits aber auch Jahrhunderte später wohl ein Motiv für die Perversion einer Disziplin der Heilkunde geliefert. Don Quijote verkörpert den Prototyp jener Art von Narrheit, die einem Menschen von seiner Umgebung allzu gern als Brandstempel eingedrückt wird, wenn er sich in kompromißloser Wahrhaftigkeit vermißt, gegen menschliche Falschheit und Unterdrückung anzurennen.

"Moderner" noch ist Hamlets vorgeblicher Wahnsinn, in dem sich der Zusammen- prall von Wahrheit und Staatsräson offenbart. Hamlet, mit einer Wahrheit konfrontiert, die für sein Gegenüber, den König, tödlich ist, zieht es vor, selbst das Narrenkleid anzulegen, bevor er des Wahnsinns bezichtigt wird. Der König durchschaut das Spiel: "Was er sprach, obwohl ein wenig wüst, war nicht wie Wahnsinn!" sagt er und gesteht noch: "Ich mag ihn nicht, auch steht's um uns nicht sicher, wenn frei sein Wahnsinn schwärmt." Nach außen jedoch bekräftigt er die scheinbare Verrücktheit, die ihm den Vorwand liefert, den gefährlichen Gegner auszuschalten. Karl Jaspers schreibt über Hamlet: "Er ist einzig als der adlige Mensch, unbeirrbar im Wollen zur Wahrheit und menschlicher Höhe. Er spielt die Rolle des Wahnsinnigen. Wahnsinn ist in der falschen Welt die Maske, die ihm erlaubt, nicht mit seiner Gesinnung zu heucheln, nicht Respekt zu bezeugen, wo er keinen hat."

Mit der Aufklärung werden längst bekannte Erkenntnisse über Verursachung des Wahnsinns durch Krankheiten des Gehirns und des Nervensystems wissenschaftliches Allgemeingut. Nach der Befreiung der Geisteskrankheit von ihren Ketten 1792 durch Pinel etabliert sich die neue Wissenschaft Psychiatrie. Erste Therapien finden in eigens geschaffenen Irrenhäusern Anwendung. Dabei bietet sich Potentaten die Möglichkeit, das Spiel der psychiatrischen Diffamierung im Tarnkleid einer vermeintlich fortschrittlichen Humanität zu verfeinern. Im 19. Jahrhundert häuften sich auch die Fälle der öffentlichen Attestierung von Verrücktheit an unliebsame Gegner aller Art. Gleichzeitig erheben sich erstmals und zukunft- weisend die Umrisse eines totalitären Staates, der jede Deviation mit Psychiatrisierung und Gehirnwäsche bestraft. Eine sozusagen reaktive Richtung der Psychiatrie, als deren Hauptvertreter die deutschen Psychiker Friedrich Gross und.Johann Christian Heinroth zeichnen, fassen Geisteskrankheiten als Fehlleistung auf, die durch moralische Verfehlung, Mangel an Weisheit und Leidenschaften erzeugt werden. In diesem Fahrwasser taucht auch die Zukunftsvision des Frühsozialisten Wilhelm Weitling auf, eines Vorläufers und Lehrers von Karl Marx, der eine Zukunftsgesellschaft "von Freiheit und Harmonie" fordert, in der es keine Gerichtsverfahren und keine Prozesse mehr gäbe, in der vielmehr alle von schlechten Leidenschaften "Besessenen" in Hospitäler geschickt und die "Unheilbaren" in speziellen Inselkolonien festgehalten würden.

 

Die Wirklichkeit zeigt auch schon erste Ansätze zur Realisierung. 1803 wird der Marquis de Sade, nachdem er wegen der Veröffentlichung eines Schlüsselromans, in dem er Kaiserin Josefine und ihren engsten Freundeskreis lächerlich gemacht hatte, ins Gefängnis gekommen war, ohne Verhandlung für unzurechnungsfähig erklärt und in das Irrenhaus von Charenton gebracht. Dies scheint kein Einzelfall gewesen zu sein. Geoffrey Gorer, der den Fall berichtete, schreibt: "Dies war eine beliebte Methode Napoleons, denn de Sade war nicht geisteskrank." 1836 verfaßte der russische Philosoph Pjotr Tschaadajew einen Brief, in dem er Kritik am zaristischen System übt. Er wird daraufhin von Zar Nikolaus I. öffentlich für verrückt erklärt und auf sein Geheiß bei unentgeltlicher medizinischer Betreuung ein Jahr lang unter Hausarrest gehalten.

Im Westen wird insgesamt mehr die verbale "Psychiatrisierung" gepflegt. Im Streit mit dem dänischen Magazin "Der Korsar" wird der Philosoph Kierkegaard als Sonderling bezeichnet und mit Ausdrücken wie "verrückt" und "übergeschnappt" belegt. Richard Wagner wirft seinem musikalischen Konkurrenten Giacomo Meyerbeer in einer öffentlichen Schrift 1851 "Züge des Wahnsinns" vor und läßt ihn, ganz in der Pose des exkulpierenden Psychiaters, dadurch "bedauernswürdig , nicht aber verachtenswert erscheinen", Reaktion möglicherweise auf den Umstand, daß die frühen Werke Wagners ebenfalls für "verrückt" erklärt worden waren.

1866 ist dann Bismarck an der Reihe; er muß es sich gefallen lassen, in der Allgemeinen Wiener Medizinischen Zeitung als psychiatrischer Fall abgehandelt zu werden ("Graf Bismarck und sein Wahnsinn"). Mit Schmunzeln erfährt man: "Hervorragende Psychiatriker Berlins betrachten ihn längst als ein ihrer Behandlung bedürftiges Individuum." Auch die öffentliche Meinung sage, er sei ver- rückt. Ein pubertärer Selbstmordversuch wegen einer Liebesaffäre, eine Relegation vom Gymnasium, weil er einen Professor einen "bürgerlichen Esel" genannt hatte, und die stolze, in Paris gemachte Äußerung "La Prusse - c'est moi“ rechtfertigen flugs die Diagnose: Manie mit Größenwahnsinn.

Es darf angenommen werden, daß es sich bei den angeführten Beispielen nur um die Spitze eines Eisberges handelt. Gegen Ende des Jahrhunderts schlagen sich solche offenbar vielfach geübten Praktiken nun in literarischen Gestaltungen nieder. In seiner Erzählung "Krankheitsstation 6" aus dem Jahr 1892 schildert Anton Tschechow das Schicksal des Arztes Andrej Jefimytsch, dem die Leitung eines verwahrlosten Krankenhauses einer kleinen Provinzstadt übertragen wurde. Unfähig, die triste Realität zu ändern, versucht er sich mit stoischen Philosophemen über die stumpfsinnige Monotonie des Alltags hinwegzutrösten. Einzig in Iwan Gromow, einem Paranoiker, der auf der psychiatrischen Abteilung Nr. 6 des Krankenhauses lebt, findet er einen adäquaten und faszinierenden Gesprächspartner und über ihn Zugang zur Welt des psychisch Kranken. Die täglichen Gespräche und die fast freundschaftliche Beziehung zu dem Kranken tragen ihm bei seinen Mitbürgern rasch den Ruf ein, selbst geisteskrank zu sein. Er wird pensioniert und verarmt in kurzer Zeit. Als er auf die dümmliche Zudringlichkeit seiner Bekannten und Kollegen aggressiv reagiert, wird er nach einer fragwürdigen "Untersuchung" ohne richterliches Urteil nun selbst als "Geisteskranker" auf die Station 6 gebracht. Tschechow zeigt hier beklemmend eindringlich, wie ein Individualist, weil er ein unkonventionelles Verhalten zeigt und eine kritisch-philosophische Befragung der Wirklichkeit wagt, als Andersdenkender ins psychiatrische Abseits gerät.

Eine pseudowissenschaftliche Satire auf unser Thema, wie sie luzider, drastischer, beißender nicht geschrieben werden kann, veröffentlicht Oskar Panizza. Hier ist eine staatliche Mentalität vorweggenommen, die den politischen Gegner zum Träger einer speziellen Geisteskrankheit macht, von Panizza "Psychopathia criminalis" genannt, und die ihn durch Einweisung in ein Irrenhaus als politische Kraft ausschaltet. Die Ähnlichkeit dieses visionären Gedankenspiels mit den heutigen Praktiken der sowjetischen Staatspsychiatrie ist so erschreckend, daß uns das Lachen, zum dem die groteske Komik dieser Vorstellung reizt, im Munde gefriert.

"Gerade jetzt", schreibt Panizza 1898, "wo die 50jährige Erinnerung an die traurigen Vorkommnisse der Jahre 1848 und 1849 wieder eine Menge von Gedenkschriften... auf den Markt wirft, wird uns... klar, was damals hätte vermieden wer- den können, wenn die Kenntnis der Psychopathia criminalis schon im Bereich Psychiatrischer Forschung gelegen hätte... Ein mäßig großes Irrenhaus zwischen Neckar und Rhein, etwa von der Größe der Pfalz... hätte über Nacht... die kriminelle Bewegung, ich wollte sagen: die epidemische Psychose, im Keime er- sticken und unserm Vaterland viel Leids erspart. Die Heilung geht überraschend schnell vor sich. Die milde Behandlung, richtig temperierte Wannenbäder. .. ein bißchen Hyoscyamin und ein bißchen Bromkali... und die politische Einsicht all dieser Internierten wäre bedeutend gewachsen."

Wie in Pest und Cholera sieht Panizza in der Psychopathia criminalis eine Menschheitsgeißel, die lange schon am Werk ist. Sie "zieht sich wie ein roter Faden durch alle revolutionären Bewegungen des Altertums. Sie steckte in Harmodius und Aristogeiton, in Kleon, dem Gerber, sie wühlte in dem jeder sittlichen Basis entbehrenden Aristophanes, und sie ward in dem von einem fabelhaften Ehrgeiz getriebenen Sokrates manifest. Alle diese falschen Idealisten sind kriminelle Psychopathiker."

 

Im einzelnen unterscheidet Panizza vier verschiedene Krankheitsformen: eine paralytische, eine manische, eine melancholische und eine paranoide Form. Eine Untersuchung, ob vielleicht die Syphilis die Ursache der ersten Form sei, will der Autor nicht anstellen: "Ganz im Gegenteil führt jene andere Franzosenkrankheit, an der die Franzosen selbst 1789... litten, viel sicherer zu Erweichung des Gehirns." Die häufigste Form aber ist die manische: "Es ist die stille Wut, das geheime, unruhige Konspirieren, das innere freche Denken, was die Leute auszeichnet. . . Das geht schon mit Schiller an. Es sind die' Räuber', die frechen Phrasen dieses unreifen Halbgenies..., die den jungen Leuten die Köpfe verrücken... Die Räuber müßten immer und unter allen Umständen verboten werden! Nein, das kann nicht so weiter geduldet werden. Diese Leute kommen später alle zur Raserei."

 

Die melancholische Form erkennt der Verfasser gar als "eine echte deutsche Krankheit:" „Bis in die süßesten Geheimnisse des Herzens dringt diese Psychose und offenbart all' eure Sehnsucht... und weil ihr dann das Sehnen nicht lassen könnt, sehnt ihr euch nach anderen politischen Zuständen!" Und an anderer Stelle: "Alles, was die Leute damals auf ihren Schützen- und Turnfesten zusammensehnten, war melancholisches Gewäsch Diese Leute wollten die Einheit Deutschlands, aber sie wollten das alles ohne die deutschen Fürsten. 'Fürsten, gebt die großen / Purpurmäntel her / daraus macht man Hosen / für das Freiheitsheer. ' Das ist Irrenhaus-Poesie. Ein mäßig großes Irrenhaus... hätte diese ganze jammervolle Bewegung... im Keime erstickt." Als Kern der letzten Erscheinungsform der Krankheit, der Paranoia, erkennt Panizza "eine krankhafte Aufblähung des Ichs".

"Was wollen die Leute mit ihrem Ich? Da werden in Landtagen und Volksversammlungen immer diese Iche gefördert..., ins Unendliche getrieben... und schließlich können diese Leute nicht mehr richtig perzipieren... konstruieren total falsche Allegorien vom 'souveränen Ich', vom 'souveränen Volk'... Was bleibt übrig, als die schwer Entgleisten möglichst frühzeitig einem Asyl zu übergeben."

Das Schicksal des Oskar Panizza ist tragisch zu nennen. Mit seinen antiklerikalen und antiautoritären Schriften handelte er sich öffentliche Empörung, später sogar eine Gefängnishaft ein. Schließlich endete er hinter den Mauern einer Heil- und Pflegeanstalt. Wüßten wir heute nicht, daß er später wirklich an einer Psychose litt, so wären wir versucht, in ihm den Fleisch und Blut gewordenen Arzt Andrej Jefimytsch aus Tschechows "Krankenstation 6" zu sehen. Wir sollten uns aber hüten, vorschnell einen Zusammenhang zwischen seinen Schriften und seiner späteren Krankheit zu konstruieren. Angesichts von Diagnosen wie der "schleichenden Schizophrenie mit Reformwahn" aus der Schule des  russischen Professors Sneschnewski im 20. Jahrhundert müssen wir in Panizzas Satire eine glänzende Prophetie erblicken.

Von den Phantasien des 19. jetzt zur Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts. Aus der Frühzeit der russischen Revolution sind zwei Fälle tatsächlicher oder zumindest versuchter Psychiatrisierung bekannt. Als es dem neuen Machthaber nicht gelang, Maria Spiridinowa, eine führende Gestalt der Sozialrevolutionären Partei, durch Gefängnishaft zu entmachten, bedienten sie sich der medizinischen Methode und ließen die erneut zu politischem Einfluß Gekommene 1918 durch das Moskauer

Revolutionstribunal in ein Sanatorium einweisen. Ähnlich erging es Angelika Balabanoff, einer einflußreichen Persönlichkeit der Bolschewikenpartei. Auf Ihre 1920 Lenin gegenüber geäußerte Kritik an der Revolutionsführung erteilte ihr das Zentralkomitee Weisung, sich in ein Sanatorium zu verfügen, eine Weisung, der sie sich damals noch widersetzen konnte.

Im Deutschland der 30er und 40er Jahre hatte es die nationalsozialistische Diktatur offensichtlich nicht nötig, sich der Psychiatrisierung zur Ausschaltung politischer Gegner zu bedienen. Trotzdem liebäugelten auch braune Machthaber

mit der Methode der eleganten Ausschaltung, zumindest verbal. Hitler selbst gibt in seinen "Tischgesprächen" Kostproben: So sagte er von Roosevelt, er besorge seine politischen Geschäfte mit einer Niedertracht, die "die eines geisteskranken Narren" sei. Aber auch vor seinen eigenen Paladinen machte er nicht halt. Überliefert ist sein Kommentar zu dem Alleinflug von Heß nach England, wonach er dessen Rückkehr ausschloß, da es für ihn nur die Alternative "Irrenhaus oder Erschießung" gäbe. Ein anderes Mal merkt er an, daß ein Gauleiter, der seinen Gau vernachlässige, ins Irrenhaus gehöre. Grundsätzlicher ist schließlich die folgende Überlegung: Dadurch, daß die Bibel Allgemeingut geworden sei, seien einer Fülle von Menschen "religiös aufgemachte Gedankengänge" nahegekommen, die sie in Verbindung mit der typischen deutschen Eigenschaft des Grübelns zu einem Großteil... in religiösen Wahn hätten verfallen lassen. Als Abhilfe wollte Hitler "in allen großen Städten Sternwarten errichten lassen", da diese das beste Mittel darstellten, einer geistigen Verkümmerung vorzubeugen!

~schließlich sei noch eines prominenten Opfers gedacht, das die moderne psychiatrische Hexenjagd selbst in den USA forderte: des Dichters Ezra Pound. Weil er im zweiten Weltkrieg über Radio Rom gegen Roosevelts Politik zu Felde gezogen war, wurde er von seinen Landsleuten 1943 in Italien verhaftet und nach vier Monaten Straflager in Pisa nach den USA gebracht. Dort wurde seine Dichtung in einer öffentlichen Kampagne als "Werk eines Irrsinnigen" verunglimpft, er selbst, wohl zur Vermeidung eines Landesverratsprozesses, in eine staatliche Anstalt für kriminell veranlagte Irrsinnige gesperrt. Erst auf Betreiben seiner Dichterkollegen wurde er 1958 als "harmlos verrückt" entlassen. 1954 war er gleichzeitig mit Hemingway für den Nobelpreis vorgeschlagen worden. Damals verriet Hemingway Zeitungsreportern, was er bei der Entgegennahme des Preises in Stockholm sagen wolle: "Meiner Ansicht nach hätte der Preis ebensogut an Pound gehen können. Es gibt in Amerika eine Denkweise, die so weit geht zu behaupten, daß ein Mann für das einfache Verbrechen an der Konformität, ein Dichter zu sein, bestraft werden müßte. Nach solchen Maßstäben hätte Dante wegen Verfehlungen des Urteils und des Stolzes wahrscheinlich sein Leben in einer Anstalt verbringen müssen."

Neben diesen Einzelfällen werden nun auch in unserem Jahrhundert Stimmen laut, die eine untergründige geistige Strömung aufgreifen und zunehmend unver- hohlen auf eine systematische staatliche Reglementierung des Andersdenkenden durch psychiatrische Maßnahmen abzielen. Was sich bei Panizza noch als Satire liest, rückt in George Orwells 1949 geschriebenem Roman "1984“ schon in den Bereich der realen Möglichkeit: In der staatlichen Folterkammer erläutert der Funktionär O'Brien seinem Opfer, dem gefangenen Dissidenten Winston, das Prinzip: "Soll ich Ihnen sagen, warum wir Sie hierher gebracht haben? Um Sie zu heilen! Um Sie geistig gesund zu machen! Merken Sie sich, Winston, daß niemals ein Mensch, den wir an diesem Ort bringen, unsere Hände ungeheilt I verläßt." Letztlich geht es aber um die Unterbindung der Entstehung von Dissidenz überhaupt, um Planung statt Korrektur, um einen neuen Massenmenschen, der, von Kindesbeinen an psychologisch zurechtgeschliffen, nur noch zu geistigem Uniformismus taugt. Und wieder ist der Nervenarzt dabei. O'Brien beschreibt das so: "Die Kinder werden ihren Müttern gleich nach der Geburt weggenommen werden, so wie man einer Henne die Eier wegnimmt. Der Geschlechts- trieb wird ausgerottet, die Zeugung wird alljährlich vorgenommene Formalität werden. Unsere Neurologen arbeiten gegenwärtig daran."

Noch zynischer geht der utopische Staat in Aldous Huxleys "Schöner neuer Welt" an die Erzeugung und Bildung neuer Untertanen. In diesem 1932 erschienenen Roman geht es darum, wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben. Eine Voraussetzung ist dabei die Anwendung der psychologischen Technik des Konditionierens. Dem Abweichler, und das ist prospektiv jedermann, werden schon als Kleinkind alle staatlich unerwünschten Denkmöglichkeiten verhaltenstherapeutisch ausgetrieben.

Es ist nicht bei Phantasien und Utopien geblieben. Es war abzusehen, daß eines Tages eine staatliche Macht die bequeme Möglichkeit, sich mit Hilfe der Psychiatrie unerwünschter politischer Gegner zu entledigen, in systematischer Weise benutzen würde. Im sowjetischen Staat wurden um die Mitte des Jahrhunderts die Weichen für eine solche Entwicklung gestellt.

Konnten in Rußland noch in den 30er Jahren gegen Dissidenten verschiedene außergerichtliche Formen der Unterdrückung erfolgreich angewandt werden, so war um 1950 bereits eine gewisse rechtliche Handhabe erforderlich geworden. Erfahrungen mit der Psychiatrie hatte man bereits, da schon in den 30er und 40er Jahren politische Gegner "psychiatrisiert" wurden, damals allerdings aus humanitären Gründen. Jetzt aber konnte es, wie Bloch und Reddaway in ihrem für unser Thema grundlegenden Buch "Dissident oder geisteskrank?" betonen, "planmäßige Regierungspolitik" werden, ein "reguläres Strafverfahren, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen würde, zu umgehen, die Systemkritiker auf unbestimmte Zeit als Zwangsinternierte in psychiatrischen Kliniken zu sperren und ihre Überzeugungen als die von Geisteskranken zu diskreditieren."

Ein Moment der Überzeugung kam hinzu, worauf Wladimir Bukowski hingewiesen hat. Laut offizieller marxistischer Diktion wird das Bewußtsein vom Sein geprägt. Ist das Sein sozialistisch, muß es das Bewußtsein auch sein. Anders ausgedrückt: Im sowjetischen Kommunismus "gibt es" keine sozialen Ursachen für strafbare Handlungen. Finden solche trotzdem statt, so sind sie entweder das Ergebnis von Bestechung durch den Kapitalismus, oder das Andersdenken und -handeln wird durch einen krankhaften Prozeß hervorgerufen.

Schließlich hat der russische Denker Igor Schafarewitsch 1978 das Phänomen des Mißbrauchs der Psychiatrie als "das logische Resultat einer tief verwurzelten, kompromißlosen materialistischen Ansicht von der Natur des Menschen" bezeichnet. "Wenn man im Menschen nichts anderes sieht als eine Mischung von ,sozialen oder biologischen Kräften", schreibt er, "dann verlieren die Konzepte von Schuld und Strafe jede Bedeutung, so wie sie bedeutungslos sind, wenn sie gegen eine Maschine angewendet werden. So wie ein kaputter Computer nicht vor Gericht gestellt und nicht bestraft, sondern repariert wird, so ist es notwendig, eine Person zu reparieren, die aufgehört hat, nach dem offiziellen Programm zu funktionieren. Für exakt diesen Zweck gibt es psychiatrische Krankenhäuser."

Psychiater im In- und Ausland, allen voran unsere Kollegen in England und den USA, haben seit fast zwanzig Jahren unermüdlich gegen diesen systematischen Mißbrauch unserer Wissenschaft protestiert und die Angelegenheit im Laufe der Zeit doch mit Erfolg vor höchste fachliche und politische Gremien gebracht. In letzter Zeit haben sich die Zeichen gemehrt, daß die sowjetische Staatsmacht unter dem Druck der öffentlichen Kritik, aber wohl auch im Zeichen von Glasnost und Perestrojka, von dem Mißbrauch abzulassen gewillt ist. Ob es sich dabei um ein Manöver oder um Zeichen eines echten Umdenkens handelt, wissen wir noch nicht. Veranstaltungen wie die heutige werden daher vermutlich auch in naher Zukunft noch nötig sein, um das Augenmerk der Öffentlichkeit auf diese Form der Menschenrechtsverletzung zu lenken.

Auch wenn viele Voraussetzungen die Entstehung des Mißbrauchs in der Sowjetunion begünstigten, war es möglicherweise nur ein Zufall, daß sich ein systematischer Mißbrauch der Psychiatrie erstmals dort manifestierte. Wir sollten, sensibilisiert durch eine Mentalität, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, daran denken, daß sich das gleiche auch in anderen Ländern, vielleicht auch im Westen, ereignen könnte. Täuschen wir uns nicht: Sozialutopisten träumen auch weiterhin den Traum von der Manipulierbarkeit der Menschen und Gesellschaften. Es war ein amerikanischer Psychiater, der auf eben jenem Weltkongreß der Psychiatrie in Honolulu, auf dem der Mißbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion verurteilt wurde, vorhersagte, daß im Jahre 2000 der Typ des Individualisten abgelöst sein werde durch Gruppen-Menschen. Der Individualist werde sich das Urteil gefallen lassen müssen, er sei reaktionär und "geistig nicht ganz normal"! Lassen Sie uns wachsam sein!

Als nächster Redner sprach auf der Tagung "Psychiatrie und Glasnost" Leonid Pljuschtsch

Geboren 1939, Ukrainer, war Pljuschtsch als Mathematiker am Kybernetischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Ukraine tätig, bis er im Juli 1968 über Samisdat-Aktivitäten seinen Forschungsauftrag verlor. Er initierte eine "Aktionsgruppe zum Schutz der Menschenrechte". Im Januar 1972 wurde er, verhaftet, angeklagt unter Artikel 70 StGB RSFSR, im Serbski-Institut zweimal begutachtet, für schizophren erklärt, nach bereits anderthalbjähriger Haft im Juli 1973 ins Spezielle Psychiatrische Krankenhaus von Dnjepropetrowsk gesperrt, dort massiv mit Neurolepticis behandelt, so und in verschiedenen anderen Weisen mißhandelt, auf die unablässigen Bemühungen seiner Frau, seiner Freunde und schließlich auf internationalen Druck hin im Januar 1976 entlassen und von einem Tag auf den anderen in den Westen abgeschoben. Er lebt mit seiner Familie seitdem in Paris, mit ukrainisch-linguistischen Arbeiten beschäftigt.

Die Geschichte von P. ist vielfältig publiziert worden, u.a. in Der Fall Pljuschtsch, Molden, Wien, und auch in Bloch und Reddaway "Dissident oder geisteskrank", Pi per 1978, München.

Von seinem Vortrag liegt uns kein Redemanuskript und keine Bandaufzeichnung vor. In dem Vortrag ging Pluschtsch vor allem auf (im Januar 1988 noch aktuelle Fälle (den von Lew Uboschko und Sirwat Awakin) ein. Er riet zur Vorsicht gegenüber Perestrojka und forderte zu weiterer Hilfeleistung für die Opfer der psychiatrischen Repression auf.

 

Danach sprach auf der Tagung "Psychiatrie und GIasnost" Dr. jur. Otto Luchterhand, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ostrecht der Universität zu Köln über

 

Konstitutionelle und gesetzliche Fundierungen der Freiheitsrechte in der UdSSR und ihre Limitierungen unter psychiatrischen Aspekten.

 

Da die juristische Thematik mit dem Untergang des UdSSR erloschen ist, verzichten wir auf den Nachdruck dieses Vortragstextes.

 

Es meldete sich dann aus der Versammlung zu Wort der damals in Deutschland lebende, nach der Wende als Außenminister Polens dienende

 

Prof. Wladyslaw Bartoszewski,

 

während der deutschen Okkupation seines Landes Häftling in Auschwitz, Widerstandskämpfer in der Heimatarmee, später Häftling in stalinistischen Gefängnissen, danach Generalsekretär des polnischen P.E.N.-Zentrums, Mitbegründer der Fliegenden Universität und der Solidarität, derzeit Lehrstuhlvertreter für politische Wissenschaften am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, für sein versöhnliches Wirken zwischen Polen und Deutschen 1986 ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er sagte auf der Tagung "Psychiatrie und Glasnost" in einer spontanen Dissionsbemerkung:

 

 

Ich glaube, es wäre angemessen zu sagen, daß nicht die in der Psychiatrie behandelten Leute in der Sowjetunion schizophren sind, vielmehr ist. das ganze System schizophren. Wenn man immer etwas anderes denkt, etwas anderes redet, etwas anders macht und etwas anders verlangt, wünscht man doch eine andere Meinung zu wecken, als man im Grunde genommen verdient. Wenn man die Leute als Werkzeuge der Macht behandelt, so ist das auch schon schizophren. Ich glaube, daß Graf Stauffenberg Recht gehabt hat mit der Behauptung, die Anomalität beruht auf einem anderen Menschenbild. Hier kommen Fragen, die wir heute sicher nicht beantworten können. Denn solche Fragen können weder Psychiater noch Juristen beantworten. Eher können das Sowjetologen oder die Forscher, die sich viel besser in der ganzen Problematik der Sowjetunion auskennen. Hier kommt nämlich die Frage, inwieweit ist bei allem, was dort vor sich geht, unvergleichlich mehr als in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, inwieweit ist das der Ausfluß der unseligen, schrecklichen Tradition der Despotie. Der Mensch ist in diesem Land auch in der Zeit des Kampfes um Fortschritt, um die Revolution, Werkzeug des Staates gewesen, und leider ist der Mensch Werkzeug des Staates geblieben. Das muß doch irgendwelche Folgen haben. Wenn man die Sache so anschaut, so kann, glaube ich, der Mensch, der sich gegen die Obrigkeit auflehnt, als ein Irrsinniger erscheinen. In meiner Heimat gilt eher der Mensch, der sich der Obrigkeit anpaßt und sich ihr nicht entgegenstellt, als auffällig.

 

(Zu den einzelnen Referaten gab er bei der Tagung in Bonn eine  Reihe weiterer gewichtiger, zum Teil auch kontroverser Diskussionsbeiträge. Wir können sie leider nicht wiedergeben, da eine Bandaufzeichnung von ihnen nicht vorliegt. W)

 

 

Cornelia Gerstenmaier

 

Menschenrechte in der UdSSR unter Gorbatschow

Dr. phil. C. Gerstenmaier ist Herausgeberin der Zeitschrift Kontinent und Vorsitzende der gleichnamigen Vereinigung

 

Der russische Dichter Naum Korshawin hat unlängst gesagt, in der Sowjetunion gäbe es keine, Verletzung der Menschenrechte. Eine solche Verletzung könne es schlechterdings nicht geben, da in der UdSSR überhaupt keine Menschenrechte gewährt würden. Diese Formulierung Korshawins ist zumindest umstritten in einem Augenblick, da die Sowjetunion erstmals in ihrer Geschichte - vielleicht freilich nur vorübergehend und in einer experimentellen Phase - gewisse Prinzipien der totalitären Herrschaft zur Disposition zu stellen scheint.

Gorbatschows "Glasnost" hat in der Sowjetunion - augenfällig seit Frühjahr., 1987 - eine Mehrheit an bürgerlichen Freiheiten, jedenfalls an Meinungsfreiheiten, beschert. Indes fehlt bislang jede gesetzlich verankerte Garantie für eine ungehinderte, anhaltende Wahrnehmung dieser Rechte. Eine solche Garantie könnte sich künftig im Bereich des Psychiatriemißbrauchs abzeichnen, wenn auch bisher nicht von einer Psychiatriereform die Rede und es nicht abzusehen ist, in welchem Ausmaß politisch "Andersdenkende" davon betroffen sein werden. Der bisherige Verlauf der KSZE-Verhandlungen in Wien läßt keine günstigen Schlüsse zu bezüglich nennenswerter Zugeständnisse der UdSSR, soweit es um Menschenrechte oder um "grenzüberschreitende menschliche Kontakte" geht. In bezug auf die Menschenrechte war die Sowjetunion auch während des Washingtoner Gipfeltreffens zu keinen Zugeständnissen bereit; bei den Wiener Verhandlungen scheint die sowjetische Absicht erkennbar, die KSZE-Verhandlungen zu einer Art Abrüstungsforum umzufunktionieren.

Ungeachtet der weiterhin unbefriedigenden Situation der Menschenrechte in der UdSSR wurde 1987 eine Reihe konkreter Fortschritte erzielt. Der signifikanteste ist die vorzeitige Entlassung von über 200 politischen Häftlingen seit Februar 1987, der bereits vereinzelte Freilassungen und die Entlassung von Andrej Sacharow aus ungesetzlicher Verbannung im Jahre 1986 vorausgegangen waren. Die Zahl der Ausreisegenehmigungen für Deutsche und Juden hat 1987 erstmals seit acht Jahren wieder beträchtlich zugenommen: Gegenüber 698 Ausreisen deutschstämmiger Sowjetbürger 1986 waren es 1987 14.210 Deutsche, die die UdSSR verließen. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl ausreisender Juden aus der UdSSR: Während 1986 hier nur 914 Ausreisebewilligungen erteilt wurden, waren es 1987 insgesamt 8.155.

Zugleich konnten auch wieder armenische Sowjetbürger in größerer Zahl das Land verlassen. Bemerkenswert ist der Anstieg bei der Zahl jener Sowjetbürger, denen private Reisen in den Westen - meist zum Zweck von Verwandtenbesuchen - gestattet wurden, gleichzeitig konnten etliche ehemalige Sowjetbürger ihre in der UdSSR lebenden Angehörigen besuchen. Seit über einem Jahr ist von einer Überprüfung der "Antisowjetismus"-Paragraphen (70 und 190-1) die Rede, ohne daß es bisher zu deren Revision, geschweige denn Eliminierung gekommen wäre. Der unter Andropow ins Strafrecht eingeführte Paragraphen 188-3, der den Behörden - letztlich den Lagerbehörden unmittelbar - Neuverurteilungen von Häftlingen ad infinitum ermöglicht, wurde zwar in seltenen Fällen in der Presse kritisch angesprochen, es scheint indes keine Rede davon, ihn außer Kraft zu setzen. Vielmehr wurde im Oktober letzten Jahres ein weiterer Paragraph ins Strafrecht eingeführt, der wie Paragraph 188-3 eine beträchtliche Ausdehnung von Willkommensmaßnahmen ermöglicht. Paragraph 188-4 bedroht Angehörige von Häftlingen mit zwei Jahren Freiheitsentzug (bisher waren es nur Geldstrafen), falls diese versuchen, den Inhaftierten  "verbotene Gegenstände" (wie Geld, Bücher, Briefe, womöglich aber auch harmlose Gegenstände) zu übermitteln.

Wo allenthalben über eine beabsichtigte "Humanisierung" des Strafrechts und Strafvollzugs geredet wird, muß die Einführung dieses Paragraphen als empfindliche Strafrechtsverschärfung betrachtet werden, wie denn überhaupt die in Arbeit befindliche Justizreform in der UdSSR unverändert unter dem Aspekt der Abhängigkeit der Justiz von Staat und Partei zu sehen ist. Nur deshalb kann sich jetzt die Justiz in dem ihr zugestandenen Rahmen reformieren. Diese Reform besteht offenbar primär in der Ausweitung der Selbstüberwachung der Justiz und in der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften.

 So bedeutsam und in höchstem Maße begrüßenswert die Freilassung sowjetischer Gewissenshäftlinge ist, so bleibt doch nicht zu vergessen, daß es sich in diesen Fällen um Begnadigungen, nicht jedoch um Amnestie, geschweige denn um Rehabilitierungen handelt. Damit bleiben die Freigelassenen für den Staat weiter- hin Straftäter und somit auch ihre Handlungen und Überzeugungen unverändert strafwürdig. Als nur Begnadigte sind sie zudem unter Umständen existenzgefähr- denden Behinderungen ausgesetzt, was meist damit beginnt, daß die Zuzugsgenehmigung für den früheren oder einen anderen Wohnort verweigert wird. (Übrigens wurde auch das Ehepaar Sacharow bis heute nicht de jure rehabilitiert; die Titel der Sacharow 1980 aberkannten Staatspreise wurden nicht zurückgegeben.

Von der im Juni 1987 dekretierten Amnestie waren nur ganz vereinzelte politische Gefangene betroffen; in diesen Fällen handelte es sich jeweils um eine zumeist geringfügige Verkürzung der Haftzeit. So wurde dem litauischen Bürgerrechtler Viktoras Petkus, der insgesamt 23 - zuletzt 10 -  Haftjahre verbüßt hatte, im August 1987 im Zuge der Amnestie ein Hafttag erlassen, bevor er in die Verbannung geschickt wurde. Tatsächlich sind jedoch seit einem Jahr fast keine politisch motivierten Verhaftungen aus der Sowjetunion bekannt geworden. Dies schließt nicht aus, daß es solche - zumal an der Peripherie - gibt. Aber das Faktum bleibt bestehen, daß die Behörden offensichtlich angewiesen sind, Repressionen in letzter Konsequenz zu vermeiden und sich statt dessen - etwa nach dem Beispiel Polens - auf administrative Maßnahmen zu beschränken. Wenn dieser Status erhalten bliebe, wäre dies – obgleich weit entfernt von rechtsstaatlichen Zuständen - ein immenser Fortschritt.

Keine Anzeichen gibt es bisher jedoch für eine Besserung des Strafvollzugs, der '-, auch in den 80er Jahren rund einem Drittel aller Häftlinge (die Kriminellen eingeschlossen) das Leben gekostet haben soll. Der jüngste hier bekannte Todes- fall eines Gewissenshäftlings ist der des am 26. Dezember in einem Lager verstorbenen 23jährigen Armeniers Sarkis Ogadzanjan, der einen Monat vor Ablauf seiner zweijährigen Haftzeit offenbar an Tbc und Unterernährung starb, wie Unterernährung und Unterkühlung überhaupt zu den häufigsten Todesursachen im Strafvollzug zählen.

Der ganzseitige Artikel eines sowjetischen Staatsanwalts in der ansonst auf "liberale Imagepflege" bedachten Zeitung Moskovskie Novosti zu Beginn dieses Jahres wiederholt in althergebrachtem Zynismus bekannteste Klischees der sog. Vergangenheit, die eben durchaus noch Gegenwart ist. Die Existenz politischer Gefangener wird hier wie stets bestritten und übelste Denunziation von Bürgerrechtlern wird, wie auch in anderen offiziellen Presseartikeln üblich, fortgesetzt. Die vom KGB-Chef Tschebrikow, aber auch ansonsten in der Presse publizierte Charakterisierung inoffizieller, meist Menschenrechts-Gruppen als "asozialer Abschaum" bzw. als Handlanger ausländischer Geheimdienste, ist gleichfalls nicht neu, ermutigt aber auch nicht Hoffnungen auf demokratische Wandlungen.

Während obskuren chauvinistischen, antiwestlichen Gruppen und Vereinigungen im Zeichen von "Glasnost" erstaunlich viel Toleranz entgegengebracht wird, schreitet die Miliz bei zahlenmäßig ungleich kleineren Demonstrationen von Bürgerrechtlern - neuerdings auch wieder von Juden, und anderen ethnischen ~ Minderheiten - häufig rigoros ein. Festnahmen und schwere Prügel bilden hier keineswegs eine Ausnahme. Die im Juli 1987 in Moskau demonstrierenden Krimtartaren wurden binnen weniger Tage hinter den Ural zurückverfrachtet und sind dort ständigen Pressionen ausgesetzt.

Ende August 1987 wurde ein Demonstrationsverbot für Moskaus Innenstadt erlassen, wie auch von Demonstrations- und Versammlungsfreiheit an anderen Orten der UdSSR keine Rede sein kann. Das primär Menschenrechtsfragen gewidmete Seminar des Moskauer "Presseclub 'Glasnost'" vom letzten Dezember fand trotz faktischen Verbots dennoch statt. Etliche Partizipanten, einschließlich Vertretern der deutschen "Grünen", wurden jedoch teils mit drastischen Mitteln - so Festnahme und Androhung von Prozessen - an der Teilnahme gehindert.

Obgleich die in Vorbereitung befindliche Justizreform auch darauf abzielt, Über- griffe des KGB und der Justizbehörden zu begrenzen, ist nicht zu erwarten, daß die Parteiführung dem politischen Strafrecht - und das impliziert die Mißachtung des Menschenrechte - entsagen wird. In der aktiven Wahrnehmung der Menschen- und Grundrechte sehen die sowjetischen Machthaber eine Gefährdung des Staates. Diese Haltung ist im sowjetischen Recht verankert, und es gibt keine hinreichenden Anzeichen für eine Änderung dieses Rechtssystems außerhalb einer grundlegenden Systemveränderung.

Bislang gibt es keinerlei Absichtserklärungen, geschweige denn Ansätze für die Schaffung rechtsstaatlicher Institutionen, die die Rechte des Individuums, dessen Schutz vor dem Zugriff der Parteidiktatur gewährleisten würden. Die sowjetische Verfassung sieht keinerlei Grenzen der Regierungsmacht vor. Alle auch derzeitigen Geschehnisse in der Sowjetunion vollziehen sich im Rahmen eines nicht in Frage gestellten Machtmonopols des Einparteiensystems, ohne Aussicht auf Gewaltenteilung, ohne Kontrolle der Machtelite, einer Macht, deren Sicherheitspolizei die Grenze zwischen "Erlaubtem" und "Unerlaubtem" zu ziehen und dafür zu sorgen weiß, daß jedermann diese Grenze kennt.

Erst Ende Oktober hat der ZK-Sekretär Lukjanow vor der ausländischen Presse betont, daß die "Vorrechte des KGB nicht beschnitten" würden. - Wie so vieles j unter Gorbatschow ist auch die Propaganda intelligenter, um nicht zu sagen attraktiver geworden. So muß man sich fragen, was von der Gründung einer offiziellen Menschenrechtsorganisation am Vorabend des Washingtoner Gipfeltreffens zu halten ist. Derlei Organisationen sind auch in der UdSSR nicht ganz neu; bemerkenswert ist in diesem Fall die Versammlung teils eindrucksvoller Namen wie der der Schriftsteller Baklanow und Adamowitsch, des Journalisten Fjodor Burlazkij (er führt den Vorsitz) und des Moskauer Oberrabiners Schajewtsche. Es gibt indes Anzeichen dafür, daß die Gründungsinitiative bei der Propagandaabteilung des ZK der KPdSU liegt, mit dem Ziel, die offizielle sowjetische Interpretation der Menschenrechte zu "kanonisieren", nach außen glaubhafter zu vertreten, mit dem Ziel auch, dem Plan einer Menschenrechtskonferenz in Moskau Nachdruck zu verleihen und endlich mit der Absicht, die Tätigkeit der unabhängigen Menschenrechtsgruppen zu blockieren.

Zusammenfassend läßt sich zu diesen - nur in einigen Schwerpunkten skizzierten - Anmerkungen folgendes sagen: Unter Gorbatschow sind vereinzelte, durchaus gewichtige Fortschritte im Bereich der Menschenrechte zu verzeichnen, sie haben jedoch derzeit vorwiegend funktionale Bedeutung, ergeben sich nicht aus mehr Rechtsbewußtsein, sondern aus dem Kalkül politischer Zweckmäßigkeit. Sie entbehren nach wie vor einer gesetzlich wirksamen Untermauerung und unterliegen damit weiterhin der willkürlichen Interpretation und Handhabung der Partei und ihrer Organe. Mit vollem Recht vertreten sowjetische Bürgerrechtler die Meinung, daß nicht die Zahl der politischen Häftlinge entscheidend ist, sondern vielmehr der Umstand, daß es solche überhaupt gibt. Solange auch nur ein einziger - so argumentieren sie - seiner Überzeugung wegen eingesperrt oder verfolgt wird, werden mit diesem Faktum andere Bürger eingeschüchtert, - kann es keine demokratischen Verhältnisse, keinen echten Wandel geben.

  

 

Nach Dr. Gerstenmaier sprach R. van Voren, damals Generalsekretär der IAPUP, über „Neuere Entwicklungen im Psychiatriemißbrauch“. Obwohl van Voren (J. Bax) gut deutsch spricht, trat er mit einen englischen Vortrag vor die Versammlung, überraschte er die Tagungsleitung auch erst unmittelbar vor der Rede von seiner englischer Redeabsicht. Auf die Wiedergabe der kaum mehr aktuellen Ausführungen verzichten wir hier. Nach van Voren sprach

 

Anatolij Korjagin

Fortsetzung des Gesprächs über psychiatrische Repressionen

Dr. med. A. Korjagin, Psychiater (zuletzt in beratender Position am Psychiatrischen Bezirkskrankenhaus Charkow), ging von 1979 an in den Widerstand gegen den politischen Mißbrauch des Fachs. Als letztes der Mitglieder einer in Moskau wirkenden inoffiziellen "Arbeitskommission zur Untersuchung der Verwendung der Psychiatrie zu politischen Zwecken" wurde er 1981 arrestiert. Über sechs Jahre lang hatte er im Straflager und Gefängnis auszuhalten. Wegen seines Einsatzes für die Ethik der Medizin wurde er zum Mitglied verschiedener nationaler Psychiatergesellschaften ernannt, 1983 zum Ehrenmitglied des Weltverbands für Psychiatrie. 1985 erhielt er den Alternativen Friedensnobelpreis. Verurteilt zu insgesamt 14 Jahren Freiheitsentzug wurde er im Februar 1987 auf internationalen Druck hin vorzeitig aus der Haft entlassen. Im April des gleichen Jahres konnte er mit seiner Familie ausreisen. Er lebt jetzt in Zürich. Sein Vortrag auf der Tagung "Psychiatrie und Glasnost" ist inzwischen schon in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG erschienen.

Langjährige gemeinsame Anstrengungen der Menschenrechtsverteidiger in der UdSSR und der Öffentlichkeit im Westen haben schließlich dazu geführt, daß die sowjetischen Behörden sich zu einigen Zugeständnissen auf dem Gebiet der politischen Repressionen unter Verwendung der Psychiatrie bereit fanden.

1.Viele Gewissensgefangene sind aus psychiatrischen Kliniken entlassen worden, einige wurden aus psychiatrischen Sonderkliniken in allgemeine psychiatrische Kliniken verlegt.

 2. Die sowjetischen Massenmedien waren genötigt, Mängel in der Organisation des psychiatrischen Dienstes in ihrem Land sowie Fälle von Mißbrauch der Psychiatrie zur Sprache zu bringen.

3. Die Behörden der UdSSR entschlossen sich zur Annahme einer "Verordnung über Bedingungen und Verfahren bei psychiatrischen Hilfeleistungen", in der ein besonderer Punkt darauf hinweist, daß frühere Patienten sowjetischer psychiatrischer Sonderkliniken künftig in Kliniken behandelt werden, die dem System des Gesundheitsministeriums der UdSSR angehören.

Das alles kann als direktes Eingeständnis der Tatsache von Psychiatriemißbräuchen im Land gewertet werden, deren Ernsthaftigkeit so groß ist, daß sie sogar einen besonderen gesetzgebenden Akt erforderlich machte.

Es steht außer Zweifel, daß das System der Betreuung psychisch Kranker in der UdSSR sich in einem erbärmlichen Zustand befindet und daß jemand, der auf Grund einer Störung seiner psychischen Gesundheit ein Verbrechen verübt hat, als Kranker in einer psychiatrischen Klinik behandelt und nicht in der Gewahrsam von Gefängniswärtern gehalten werden sollte. Darum sind jegliche Versuche zu begrüßen, die Behandlungs- und Lebensbedingungen sowjetischer psychisch Kranker zu verbessern.

Bedeutet indessen alles oben Aufgezählte, daß jetzt in der UdSSR auf grundlegende Veränderungen auf dem Gebiet politischer Repressionen mit Hilfe der Psychiatrie gehofft werden darf? - Die heute vorliegenden Tatsachen geben leider keinen Anlaß zur Zuversicht.

1. Noch immer werden viele gesunde Menschen aus politischen Gründen in psychiatrischen Kliniken unter Haftbedingungen festgehalten, unter ihnen die der ganzen Welt bekannten Sergej Below und Anna Michajlenko.

2. Im Laufe der letzten zwei Jahre gab es neue Fälle von Verwahrung sowjetischer Dissidenten in psychiatrischen Kliniken aus politischen Gründen (Sch. Fedina, L. Uboschko, S. Awagjan und andere).

3. Die sowjetischen Behörden und die führende Schicht in der sowjetischen Psychiatrie leugnen die Tatsache der politischen Psychiatriemißbräuche im Land rundweg ab, mehr noch, sie führen durch die Massenmedien eine aktive Kampagne, um im Bewußtsein der Öffentlichkeit ein falsches Bild zu schaffen. Eine treffende Illustration hierzu liefern die unlängst in der Zeitung "Sowjetskaja Rossija" erschienen, Aussagen des Gesundheitsministers der RSFSR A. I. Potapow.

Dadurch, daß sie Psychiatriemißbräuche in ihrem Land nur so weit zugeben, als diese sich auf einer alltäglichen Ebene abspielen, die sich angeblich nicht unterscheidet von der Ebene, auf der auch in anderen Ländern solche Mißbräuche vorkommen, bürden. die Massenmedien die Verantwortung dafür in erster Linie der Psychiatrie als Wissenschaft auf; diese sei eben dermaßen "obskur", daß sie die verschiedensten Interpretationen ein und desselben psychischen Zustandsbildes zulasse, so daß ein Patient für krank oder gesund befunden werden könne, je nachdem, aus welcher Sicht man an ihn herangehe. Zur Veranschaulichung ist man sogar bereit, die vorher für die Rechtfertigung psychiatrischer Diagnosen Andersdenkender so unentbehrliche Theorie von Prof. Sneschnewskij als für die sowjetische Psychiatrie schädigend zu "erklären", da sie, wie es nun heißt, zur "Ausweitung des Begriffs 'Schizophrenie'" geführt habe.

Diese Behauptung ist nicht stichhaltig, da bei jeder beliebigen Interpretation des Schizophreniebegriffs für die Feststellung dieser Diagnose bei einem Patienten eine Störung bestimmter psychischer Funktionen vorliegen muß. Das war nie der Fall bei jenen Andersdenkenden, die den sowjetischen Psychiatern immer wieder als Beispiele von Opfern der sowjetischen Strafpsychiatrie angeführt wurden: V. Tarsis, General P. Grigorenko, N. Gorbanewskaja, J. Below, V. Dawydow, A. Nikitin, N. Achmetow, W. Titow und viele andere, über die zu sprechen die sowjetischen Psychiater sich hartnäckig weigern.

Die Beschuldigung des Mißbrauchs wird auch gegen einzelne Psychiater erhoben, die sich aus Gewinnsucht mit Fehldiagnostik abgeben oder sich infolge von "ungenügender Ausbildung" in der Diagnose irren.

In bezug auf Gewissensgefangene ist diese Erklärung ebenfalls unhaltbar. Von ihnen konnten die Psychiater keine Bestechungsgelder für vorsätzlich gestellte Diagnosen empfangen haben, und sie waren auch nicht von unerfahrenen Anfängern untersucht worden, sondern stets von bestens ausgebildeten Ärzten mit langjähriger Praxis, im Serbskij-Institut in der Regel von Professoren.

Schuld an Mißbräuchen sollen ferner Mängel in der Organisation der psychiatrischen Hilfeleistungen sein. Zu den Dissidenten hat das keinerlei Bezug. Hier wurden Hospitalisierung, Verwahrung und Entlassung immer nach dem direkten Diktat der Psychiater des KGB durchgeführt.

Weiter richtet sich die Beschuldigung an das Fehlen einer besonderen Gesetzgebung zur Wahrung der Rechte psychisch Kranker. Doch bei Dissidenten gelangten auch bereits früher bestehende gesetzliche Verordnungen in der Regel gar nicht zur Anwendung. So existiert z.B. eine Vorschrift für die notfallmäßige Einweisung in die psychiatrische Klinik, die eine obligatorische Untersuchung des Patienten innert 24 Stunden vorschreibt zur Abklärung der Frage, ob eine Hospitalisierung gerechtfertigt ist, und die die Verpflichtung zur Einweisung durch den medizinischen Dienst und unter Mitwirkung von medizinischem Personal regelt. Aber galt diese Vorschrift je als verbindlich im Fall von Dissidenten? (Hierüber habe ich bereits 1980 in meinem Artikel "Patienten wider Willen" in der Fachzeitschrift "Lancet" geschrieben).

So anerkennen also die Behörden und die ärztliche Elite zwar die Notwendigkeit, Psychiatriemißbräuche in der UdSSR in Zukunft zu verhüten, ziehen dabei aber offenbar die politischen Mißbräuche nicht einmal in Betracht; sie führen lediglich ein "paralleles Gespräch zu einem ähnlichen Thema".

All das schafft die fundierte Gewißheit, daß die sowjetischen Behörden weiterhin psychiatrische Repressionen als politische Strategie im Kampf gegen das Anders- denken in ihrem Land einsetzen und überhaupt nicht beabsichtigen, darauf zu verzichten.

Die sowjetischen Massenmedien haben einen zielgerichteten Wirbel um die Reformen auf dem Gebiet der Psychiatrie veranstaltet. Dabei fällt Psychiatern vom~ Typ des Ministers A. Potapow, die nicht direkt an politischen Repressionen beteiligt sind, eine besondere Rolle zu, nämlich die von Personen, welche schein- bar objektiv an der Frage der Psychiatriermißbräuche interessiert sind. Indessen, die "Selbständigkeit" des Urteils sowjetischer Parteifunktionäre vom Gesundheitswesen ist jedem hinlänglich bekannt, der mit dem Wesen des Sowjetsystems vertraut ist. A. Potapow und seinesgleichen sind lediglich einzelne Geigen in einem wohlklingenden Orchester, das von der Propagandaabteilung des Zentralkomitees und dem KGE, dirigiert wird. Zweck dieses Orchesters ist es, die Partitur "umgekehrt" zu spielen, das heißt, die Sache auf den Kopf zu stellen: Nicht die sowjetischen Behörden und das KGE vergewaltigen die Psychiatrie, indem sie sie zu einem Werkzeug des politischen Terrors machen, sondern der psychiatrische Dienst selbst ist schuld an den Mißbräuchen, und seinetwegen leidet der Ruf., der Behörden. , Alle diese Propagandamanöver verfolgen das Ziel, die sowjetische Psychiatrie und den KGB-Apparat vor der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren, und zwar in erster Linie im Westen. Die sowjetischen Psychiater setzen denn auch alles daran, wieder dem Weltverband für Psychiatrie beizutreten, aus dem sie 1983 ausgetreten waren, um dem beschämenden Ausschluß aufgrund des Mißbrauchs der Psychiatrie zu politischen Zwecken zu entgehen.

Ich bin der Meinung, daß die sowjetischen Psychiater erst dann wieder in den Weltverband für Psychiatrie aufgenommen werden können, wenn sie die folgenden Bedingungen erfüllt haben:

1.      Das Eingeständnis der Tatsache psychiatrischer Mißbräuche aus politischen Gründen in der UdSSR, die Verurteilung dieser Form von Repressionen und den Verzicht darauf.

2. Die bedingungslose Freilassung aller noch in psychiatrischer Haft befindlichen Gewissensgefangenen mit ihrer anschließenden absoluten verbindlichen Rehabilitation in diagnostischer und sozialer Hinsicht.

3. Die Teilnahme an den Mechanismen eines internationalen Kontrollorgans zur Verhütung psychiatrischer Mißbräuche zu politischen Zwecken.

Das ist der Weg, den die sowjetische Psychiatrie zu beschreiten hat, um wieder" zum vollberechtigten Mitglied des Weltverbands für Psychiatrie zu werden. Und erst dann kann man auf das Ende der psychiatrischen Repressionen in der UdSSR hoffen, wenn in dieser Richtung konkrete Schritte unternommen werden. Vorderhand dürfen wir uns keinem Optimismus hingeben. Wir können Gorbatschow nicht Beifall klatschen für seine Versprechungen oder dafür, daß er endlich aufgehört hat, diejenigen zu quälen, die bis heute aus der "Psychuschka" entlassen worden sind; ebensowenig, wie man etwa einem Verbrecher dafür Dank schuldet, daß er angefangen hat, weniger Verbrechen zu verüben. Wir müssen unermüdlich von den sowjetischen Behörden fordern, diese unmenschliche Methode des Abrechnens mit Andersdenkenden aufzugeben, und von den Psychiatern der UdSSR, sich zu weigern, ein gehorsames Instrument in den Händen der sowjetischen Rächer zu sein. Wir müssen unseren Kampf fortsetzen. Und niemand darf, es wagen, uns vorzuwerfen, wir befaßten uns mit Politik, da die Kritik einer antihumanen Politik der Behörden keineswegs gleichbedeutend ist mit politischer Aktivität. Wir kämpfen nicht um die Macht, sondern für die menschliche Würde, an der die Macht sich vergeht, gegen die physischen und seelischen Leiden, welche die Staatsmacht Menschen zufügt. Das ist die Pflicht aller, die in jedem Menschen ihren Bruder sehen.

Friedrich Weinberger

Die Reaktionen der westlichen Psychiater auf den Psychiatriemißbrauch  

Bei der Abhandlung der Reaktionen der westlichen Psychiater auf den Psychiatriemißbrauch der UdSSR möchte ich mit persönlichen Erlebnissen beginnen. Anfang 1970 - ich hatte eben meine nervenärztliche Weiterbildung abgeschlossen und mich im Gefühl, beruflich nunmehr zur Selbstverantwortung gerufen zu sein, in eigener Praxis niedergelassen - Anfang der siebziger Jahre gingen zunehmend Meldungen durch die Presse, nach denen in der UdSSR Dissidenten oppositioneller Meinungsäußerungen wegen in psychiatrische Anstalten gesperrt wurden. Ich kannte die Gepflogenheiten der Fachrepräsentanz, die Strategen der psychiatrischen Berufspolitik, noch nicht. Ich erwartete, daß demnächst eine Stellungnahme der Fachgesellschaft herauskommen würde. Es kam aber nichts. Im Herbst 1971 fand in Mexico-Stadt ein psychiatrischer Weltkongreß statt. Vom Hörensagen erfuhr ich, daß der Psychiatrie-Mißbrauch infolge Zugangs neuen Materials dort hinter vorgehaltener Hand, nicht aber offen, nicht wirklich hörbar angesprochen worden wäre. Im April 1972 stieß ich schließlich im NERVENARZT, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN), auf eine Mitteilung dieser Fachgesellschaft, in der es unter anderem hieß:

"(1) Jeder Mißbrauch psychiatrischer Methoden und Institutionen zu ideologisch-politischen Zwecken widerspricht ebenso den Regeln der Ethik des ärztlichen Berufes wie den Prinzipien einer allgemein-verbindlichen Sozial-Ethik...

(2) Die DGPN ist eine ärztliche und wissenschaftliche Organisation, die fachspezifische Aufgaben zu erfüllen hat. Ein politisches Engagement der DGPN ist nur insoweit möglich, als sie sich um die fachliche Beeinflussung der Gesundheits- und Sozialpolitik mit dem Ziel einer Verbesserung der Hilfe für psychisch Kranke und im Sinn der Förderung von Psychiatrie und Psychohygiene bemüht... (3) Die DGPN hat weder die rechtliche Kompetenz noch eine reale Möglichkeit, tatsächliche oder vermeintliche Fälle des Mißbrauchs... in anderen Ländern zu überprüfen und dazu Stellung zu nehmen... (4) Die publizistische Verwertung tatsächlicher oder vermeintlicher Fälle des Mißbrauchs... im Sinn einer Aufhetzung der öffentlichen Meinung gegen die Psychiatrie ganz allgemein ist als unverantwortlich zu verurteilen..."

Ich empfand diese Erklärung als glatt an der Sache vorbeigehend, als wortreiche Variante des bisherigen Schweigens, ja als dessen Verschlimmerung. Satz 1, die Feststellung, daß der Mißbrauch der Disziplin ärztlicher Ethik widerspricht, konnten jederzeit auch die Sowjets unterschreiben. Stets wiesen sie ja solchen Mißbrauch weit von sich. Völlig unerfindlich blieb in Satz 2 und 3, warum die Fachgesellschaft hier zur Stellungnahme keine Kompetenz und keine Möglichkeit haben sollte. Und Satz 4 konnte nichts anderes als eine Abschreckung jeglicher Publizistik vom Mißbrauchsthema bedeuten, wo doch Publizistik kaum noch aufgekommen war und nichts nötiger erschien als eben diese. Von "Hetze" sprach seinerzeit auch Reichsjustizminister Schlegelberger, um die aufgekommenen Klagen über das Nazi-Morden in den damaligen Heil- und Pflegeanstalten zu ersticken.

Wenige Monate später, im Herbst 1972, sollte in Wiesbaden die in zweijährigen: Turnus angesetzte Mitgliederversammlung der DGPN stattfinden. Ich trat ihr, um Mitspracherecht zu bekommen, schnell bei. In der Versammlung berührte der Präsident der DGPN im Rahmen seines Rechenschaftsberichtes dann neben vielen öden Vereinsregularien auch besagte Resolution. Gedämpft, geölt, gelassen, wie er berichtet hatte, fragte er, ob jemand zur Diskussion sprechen wollte. Nachdem sonst keinerlei Sprechbedürfnis in der etwa 300-köpfigen Versammlung war, meldete ich mich zu Wort und trug vor, daß ich bewußte Resolution doch als etwas unzulänglich empfände. Ich erwartete natürlich, daß die meisten der Kollegen ähnlich empfinden und wir leicht eine Korrektur durchsetzen würden. Indignierte Blicke richteten sich jedoch von allen Seiten auf mich. Das Wort ging an den Marburger Gerichts- und Sozialpsychiater Prof. Ehrhardt, der die Entschließung verfaßt hatte. Er verteidigte sie. Das Wort ging an weitere Kollegen. Sie alle waren mit der Resolution zufrieden. Nicht eine einzige Stimme der Unterstützung fand ich in der Versammlung, und ich begriff, daß ich mich angesichts dieses Problems von grundsätzlicher Bedeutung, von unaufgebbarem Anspruch auf eine zähe Auseinandersetzung würde einrichten müssen.

Ein anderer deutscher Psychiater hatte freilich, wie ich später erfuhr, bereits vor mir an anderem Ort in gleichem Sinn seine Stimme erhoben. Prof. Walter von Baeyer, ehedem Ordinarius für Psychiatrie in Heidelberg, der unter Hitler saubere Hände behalten hatte und der sich in besonderer Weise um die Wiedergutmachung der den Verfolgten des Naziregimes angetanen seelischen Beschädigungen gekümmert hatte, war 1966 als erster Deutscher in der psychiatrischen Weltgemeinschaft wieder zu Ehren gekommen. Als Vizepräsident des Weltverbands für Psychiatrie mühte er sich 1971 beim erwähnten Weltkongreß in Mexico-Stadt wie kein anderer, den eben eingegangenen, bedrängenden Meldungen vom Mißbrauch des Fachs in der UdSSR, den später bekannt gewordenen Fallberichten von Wladimir Bukowski, Aufmerksamkeit zu verschaffen. Prof. von Baeyer scheiterte in Mexiko im Weltverband jedoch ähnlich wie ich ein Jahr später in Wiesbaden in der deutschen Psychiaterversammlung. Meine Kritik an besagtem DGPN-Beschluß brachte ich ausformuliert noch in einer alle Psychiater des Landes erreichenden Fachzeitschrift, dem SPEKTRUM der Psychiatrie und Nervenheilkunde, zur Veröffentlichung. Sie erschien im Frühjahr 1973 unter dem Titel "Qui tacet consentire videtur - wer schweigt, scheint zuzustimmen". Auch darauf aber keinerlei Reaktion.

Im Herbst 1973 trug ich das Problem nochmals in einem Psychiaterkreis vor. Die damals in Bad Kissingen versammelten niedergelassenen bayerischen Nervenärzte verwarfen die Aufforderung, eine Verurteilung des Mißbrauchs auszusprechen, jedoch ebenso. Im Frühjahr 1974 - die Diskussion um die Reform der psychiatrischen Krankenversorgung in der Bundesrepublik war damals auf dem Höhepunkt - hatte ich Gelegenheit, auf dem Deutschen Ärztetag in Berlin zu sprechen. Ich forderte die Delegierten u.a. auf, "an diesem Tag der Psychiatrie nicht auseinanderzugehen, ohne ein Zeichen des Protestes gegen den Mißbrauch der Heilkunde, ohne ein Zeichen der Solidarität mit seinen Opfern gegeben zu haben". Der Ärztetag faßte daraufhin auch eine entsprechende Resolution. Nur sagen, wo die Schurkerei stattfindet und die Verantwortlichen sitzen, wollte auch er nicht.

Im Herbst 1974 fand im üblichen Turnus wieder ein Kongreß der DGPN statt, diesmal in München. Die Angelegenheit war soweit doch öffentliches Thema geworden, daß die Führung der DGPN erstmals ihr breitere Behandlung einräumen mußte und dabei an dem Prominentesten derer, die hier etwas zu sagen hatten, nicht vorbeigehen konnte. Prof. von Baeyer - seine Rede ist veröffentlicht in "Standorte der Psychiatrie" (Urban und Schwarzenberg, 1976) - beklagte, daß "unsere Fachgesellschaft, die DGPN, bisher eine dezidierte Stellungnahme zu den erwähnten Vorfällen abgelehnt hat mit der Begründung, daß u.a. auch englische Kollegen... zu keiner abschließenden Beurteilung gekommen seien". Er führte dann eine Resolution des britischen Royal College of Psychiatrists vom Juli 1974 an, die den "gegenwärtigen Einsatz der Psychiatrie in Sowjetrußland für Zwecke der politischen Repression" eben doch und zwar ausdrücklich "beklagt" und "verurteilt" hatte. Von Baeyer führte als Beweis der Mißbrauchsrealität die 1971 zum Weltkongreß in Mexiko, 1973 auch auf deutsch herausgekommene Dokumentation von Bukowski "Opposition - eine neue Geisteskrankheit in der Sowjetunion" an. In ihr wiesen zu einigen Dissidenten die authentischen Gutachten selbst die wissenschaftliche Brüchigkeit und damit den Mißbrauchscharakter der sowjet- psychiatrischen Praxis aus. Prof. von Baeyer appellierte an die Kollegen um so eindringlicher, a1s sich die sowjetischen Spezialisten bei dieser Praxis zum Beweis ihrer Wissenschaftlichkeit häufig, wenn auch zu Unrecht, auf deutsche Autoren beriefen.

Von Baeyers bewegendes Referat und auch ein unterstützendes Wort von mir verpufften jedoch erneut. Nur ein kleiner Erfolg stellte sich ein: Einige Mitglieder von amnesty international, die einen "Fall", ein Mißbrauchsopfer, betreuten und die uns jetzt sprechen gehört hatten, sowie einige weitere Kollegen gesellten sich zu uns. Aus dem Kreis, der sich damals zusammenfand, entstand Anfang 1977 unter dem Ehrenpräsidium Prof. von Baeyers die Deutsche Vereinigung gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie e.V., die erste und bislang einzige spezifisch dieser neuen Form von Unterdrückung entgegentretende Organisation; in unserem Land. Die Kollegen sprachen wir damit verstärkt auch in den folgenden Jahren immer wieder auf die Vorgänge an. Unsere Worte blieben meist aber "wie in den Brunnen geworfen!" (Bukowski).

Daß in anderen Regionen der Welt die Psychiater schon frühzeitig wesentlich anders reagierten, habe ich am Beispiel der Engländer bereits angedeutet. Wie sie das taten, wurde sehr ausführlich dokumentiert in zwei Büchern von Bloch & Reddaway, das erste auch auf deutsch erschienen unter dem Titel "Dissident oder geisteskrank?" im Piper-Verlag, München - Zürich, 1977. Ich kann mich hier deshalb auf das Nachzeichnen der großen Linien beschränken. 1977 war der Widerstand gegen den Mißbrauch des Fachs unter den Psychiatern weltweit zwar (wie auch heute noch) reichlich gespalten, aber insgesamt doch zu solcher Stärke herangewachsen, daß es beim psychiatrischen Weltkongreß in Honolulu mit der knappen Mehrheit von 90 gegen 88 Stimmen zur Verurteilung besagter Sowjetpraktiken kam. Erstmals standen wir, die wir ob entsprechender Forderungen im eigenen Land bekämpft, verlacht oder totgeschwiegen geblieben waren, erstmals standen wir jetzt inmitten der Mehrheit der Psychiater der Welt! Der DGPN gefiel es aber auch nach diesem Verdikt, den Mißbrauch in Frage zu stellen und seine Veranstalter zu loben. Deren Vertreter in Honolulu, dem damaligen stellvertretenden Gesundheitsminister der UdSSR Prof. E. Babajan, bescheinigte die DGPN bzw. der für sie federführende Prof. Ehrhardt in einem Bericht über den Kongreß (NERVENARZT 49, S.127-129, 1978) u.a. "bemerkenswertes Geschick ", "unbeirrbare Hartnäckigkeit" und eine "rhetorische Brillanz", mit der die westlichen Kontrahenten nicht hätten "konkurrieren könnten". Herrn Ehrhardt, dem Hauptschönfärber des Mißbrauchs, dem Hauptverteidiger der Mißbraucher unter den deutschen Psychiatern über die Jahre, verlieh - das muß zur Vollständigkeit auch noch gesagt sein -. der Deutsche Ärztetag 1986 gegen unseren Protest die Paracelsus-Medaille, die höchste Auszeichnung, die die deutsche Ärzteschaft vergibt.

Die Entwicklungen in der internationalen Fachwelt nach Honolulu sind Ihnen wohl zumindest in ihren Umrissen bekannt geworden. Unter dem weiter zunehmenden Druck der Psychiater in mehreren, insbesondere angelsächsischen Ländern, und in der begründeten Furcht, beim nächsten Weltkongreß im Sommer 1963 in Wien vor aller Öffentlichkeit aus dem Weltverband für Psychiatrie, dem WVP, hinausgewiesen zu werden, zog sich die Allunionsgesellschaft der Neuropathologen , und Psychiater, die AUGNP der UdSSR, im Januar 1963 aus dem Verband zurück, von zwei, drei Schwestergesellschaften begleitet. Welches Zittern davor schon durch einige andere Fachgesellschaften ging, können Sie sich nach dem Vorgetragenen wohl denken. I

m Herbst 1962 hatte die DGPN turnusgemäß wieder eine Mitgliederversammlung abzuhalten. Weil alle anderen Mittel erfolglos geblieben waren, stellten Prof. von Baeyer und ich entsprechend den Entschließungen, die die Briten, die Amerikaner, die Schweizer und andere bereits getroffen hatten, in der DGPN-Versammlung in Münster den Antrag, die Gesellschaft möge beim Weltkongreß in Wien im Juli 63 ebenfalls für den Ausschluß der AUGNP votieren, wenn bis dahin nicht alle internierten Gewissensgefangenen entlassen wären. Unser Antrag wurde als "utopisch" verrissen. Die DGPN beschied sich in einer Resolution dahingehend, daß sie unter Umständen ein solches Votum "erwägen" würde.

Das Kneifen löste aber nun erstmals öffentliche Kritik aus. Unter der Überschrift "Sie werden im Weltverband mit den Schindern alleine auf der Bank sitzen" berichtete die FAZ vom 04.10.1962 davon. Zum Glück führten, wie erwähnt, in genügend anderen Fachgesellschaften, insbesondere angelsächsischen, die Erwägungen bald doch zu solchen Entscheidungen, daß die AUGNP von sich aus den Rückzug antrat (s.o.). Ihr Lavieren empfanden jetzt aber wohl auch einige deutsche Psychiater als peinlich. Im neu herausgekommenen Band 2 des repräsentativen Übersichtswerks "Psychiatrie der Gegenwart", quasi der fortlaufend aktualisierten Visitenkarte der deutschen Psychiatrie, steht im Kapitel "Ethische Fragen der Psychiatrie" der Satz: "Auch die DGPN hatte (1962)... beschlossen, den Ausschluß der psychiatrischen Fachgesellschaft der Sowjetunion auf dem VII. Weltkongreß zu beantragen".

 

Die Fakten verbiegen "dürfen" offensichtlich auch die Führer des Weltverbands für Psychiatrie. Klar hatte die Generalversammlung, das oberste Beschlußgremium des WVP, 1983 in Wien entschieden, daß die sowjetische Fachgesellschaft dem Verband fernzubleiben hätte, solange der Mißbrauch des Fachs anhält. Die Vertreter des Verbandes aber, der Grieche Prof. Stefanis als Präsident und der Däne Prof. Schulsinger als Generalsekretär, tun bis heute so, als gäbe es die Entscheidung nicht. Sie dienen den Repräsentanten der Allunionsgesellschaft, an ihrer Spitze Prof. Georgij Morosow, den Wiedereinzug an. Zumindest rühmte sich Morosow, dem u.a. Pljuschtsch seine zweieinhalb Jahre Zwangspsychiatrie verdankt, erst im vergangenen Oktober bei einer Fachtagung in Mailand dieses Angebots. Schulsinger, zur Rede gestellt, bestritt es zwar, führte damit aber doch eher aller Welt vor Augen, daß die Äußerung bewußter Unwahrheit, wenn nicht bei seinem umworbenn Verhandlungspartner, dann eben an der Führungsspitze der Weltpsychiatrie heimisch geworden ist. Welcher Geist an dieser Spitze herrscht, mag noch ein anderes Beispiel beleuchten. Im vergangenen Juli verstarb Prof. Andrej Sneschnewski, der mit der Lehre von der "schleichenden", quasi symptomlosen Schizophrenie den Grundstein für den Mißbrauch des Fachs gelegt und ihn gutachtlich auch reichlich, u.a. im Fall von Pljuschtsch praktiziert hat. Diesen Herren ehrte die Weltverbandsführung in ihrem NEWSLETTER vom vergangenen Oktober-November als "Vater der gegenwärtigen sowjetischen Psychiatrie", als "großen Kliniker und Forscher, dessen Name unserer wissenschaftlichen Gemeinde weltweit bekannt geworden ist durch seine systematischen Studien zur Klassifikation von psychischen Krankheiten". Für die "internationale Kooperation der Psychiater" habe der Herr sich eingesetzt.

Nicht immer aber waren die Parteinahmen westlicher Psychiater, westlicher und internationaler Fachgesellschaften für die Vertreter und damit die Sache des Terrors derart plump. Häufiger traten sie versteckt, beinah unauffällig auf. Wir hörten schon, daß ein wesentlich unterhaltendes Moment des Mißbrauchs darin liegt, daß die Angelegenheit für die Allgemeinheit schwer einsehbar ist. Manche psychischen Krankheitszustände bedürfen tatsächlich des geschärften psychiatrischen Sachverstands, um erfaßt zu werden. Den Umstand nutzten die Sowjets, um nicht-fachkompetente Kritik abzuschmettern. Um so wichtiger waren kompetente Stellungnahmen. Um so mehr liefen andererseits Schweigen und seine wortbewehrten Abwandlungen, liefen auch halbherzige, verschwommene Psychiater-Kritiken auf eine Duldung des Übels hinaus. Sacharow erhob anläßlich der Nicht-Behandlung des Problems durch einen internationalen Psychotherapeuten-Kongreß in Oslo 1973 schon die Klage: "Wo soll man denn die Kräfte für den Kampf mit dieser Gefahr hernehmen, wenn selbst die Ärzte von ihr nicht hören, nicht sprechen wollen?" Zur Unterstützung des Übels gerieten auch die Zweifel, die westliche Kollegen immer wieder an der Mißbrauchswirklichkeit äußerten. Von ihr müsse er "erst noch überzeugt werden", sagte etwa WVP-Präsident Stefanis 1983 gleich hei seinem Amtsantritt. Und Weltverband wie Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde sprachen, wenn sie ja das Thema berührten, bevorzugt von einem "tatsächlichen oder vermeintlichen" oder auch einem "möglichen" Mißbrauch. Ganz beiläufig rückten solche Äußerungen das Verbrechen vom Konkreten weg ins Vage, Unwahrscheinliche, die Verantwortlichen dafür in den Schein rechtmäßigen Tuns und nur die Opfer weiter in den Geruch psychischer Krankheit und Unzurechnungsfähigkeit. Angesichts einer seit Anfang der 70er Jahre eindeutigen und in der Folge immer erdrückender gewordenen Beweislast nahm solches Verhalten nicht selten Züge des Komplizentums an.

Dazu aber noch einige Beispiele aus unserem Land. An einem Mittwochnachmittag des Juli 1982 sprach Prof. von Baeyer erneut in München zum Thema. Zu dem in der Bibliothek der Psychiatrischen Universitätsklink, in kleinerem Kreis also angesetzten (in Auszügen in diesem Rundbrief abgedruckten) Vortrag kam alles, was in der Gegend psychiatrisch Rang und Namen hatte. Die Ehre war man dem Nestor der deutschen Psychiatrie, der von Baeyer inzwischen war, doch schuldig. Nach dem Vortrag gab es eine Diskussion. Von ihr habe ich mir einige Notizen gemacht, aus denen ich jetzt referiere. Ein Diskussionsredner meinte, er habe keine Schwierigkeiten, für den Mißbrauch des Fachs das politische System der UdSSR verantwortlich zu machen. Nicht verantwortlich machen dürfe man aber einzelne Psychiater. Warum man das bei so offenliegender Verantwortlichkeit nicht dürfe, dazu gab er keine Erklärung. Er meinte auch, man müsse in Deutschland besonders sensibel sein, weil hier schon viel schlimmere Dinge geschehen seien. Daß auch seine eigene "Sensibilität" bis dahin hauptsächlich darin bestanden hatte, das Problem unter den Teppich zu kehren, davon sagte er nichts. Ein anderer vornehmer Psychiater meinte, Vertreter des Weltverbands (er nannte auch Namen) hätten doch vor Jahren Facheinrichtungen in der UdSSR besucht und hätten über sie anschließend nur Positives berichtet. Mißbilligung darüber klang an. (Der Vorgang ist übrigens ausführlich in dem erwähnten Buch von Block und Reddaway geschildert). Daß auch er selbst eine solche Besuchsreise gemacht und anschließend nur Positives berichtet hatte - sein Bericht kann im Anhang der berühmten Psychiatrie-Enquete nachgelesen werden -, davon sagte der Redner nichts.

Ein weiterer prominenter Fachvertreter stellte den Mißbrauch in Frage unter Verweis auf Wladimir Bukowski. Dieser könnte doch nicht, wo es oft geschehe, als Mißbrauchsopfer bezeichnet werden. Schließlich sei er im Serbski-Institut 1972 als gesund befunden worden. Daß Bukowski dort erstmals 1963 als geisteskrank eingestuft wurde, daß er mehrmals, insgesamt über zwei Jahre in psychiatrischen Anstalten saß und daß er 1972 nur deshalb für gesund erklärt und zu Gefängnishaft verurteilt wurde, weil er wegen der eben zum Weltkongreß nach Mexiko in den Westen geschickten Mißbrauchsdokumentation ("beim besten Willen" sozusagen) nicht erneut ins Irrenhaus gesteckt werden konnte, das fiel dem Herrn weder ein noch auf. Ein weiterer angesehener Fachmann, Gerichtspsychiater, meinte, in subtilerer Form gäbe es Psychiatriemißbräuche doch auch hier. Kein Grund sozusagen, sich über die Vorgänge in der UdSSR allzusehr zu erregen. Warum er sich nicht über Mißbräuche erregt und ihnen entgegentritt, wenn es sie hierzulande gibt, darüber sagte er wieder nichts. Die gesamte Diskussion verlief im diesem Stil, ja Diskussionen dieses Themas verliefen, sofern sich die Psychiater hierzulande überhaupt dazu hergaben, meistens so. Den Herren machte es offensichtlich Spaß, nach von Baeyers Klarlegungen alles wieder durcheinanderzuwerfen. In der Mißbrauchsfrage schwach daherzureden, sich uninformiert zu geben und damit zu zeigen, daß man mit der Sache, "mit der Politik", wie man abschätzig sagte, selbst "nichts am Hut hat", galt in feinsten Psychiaterkreisen eben als fein und ehrenwert.

Manche von Ihnen werden sich fragen, wie Derartiges möglich war und ist - international und insbesondere in unserem Land. Sollte die Beschämung über die Verbrechen in der Psychiatrie der Nazi-Zeit alle Wahrnehmung für die aktuellen Untaten im Fachbereich lahmgelegt haben? Oder sollten unsere Psychiater von der erwähnten Reform der psychiatrischen Krankenversorgung in den letzten Jahren so erschöpft gewesen sein, daß ihnen zu Weiterem keine Kraft mehr blieb? Die Aufgaben der Reform haben in ähnlicher Weise auch unsere britischen, amerikanischen Kollegen wahrgenommen. Ihr Blick für das Mißbrauchsgeschehen trübte sich deshalb nicht. Auch die Aktiven unserer Vereinigung - Prof. von Baeyer, Dr. Bieber und ich - haben an den Diskussionen um die Reform lebhaft Anteil genommen. Eine wirkliche Erklärung für das gezeichnete Psychiater-Verhalten habe ich letztlich nicht.

Gewiß ist der Mißbrauch des Fachs für uns Psychiater alle etwas Unangenehmes. Seine Behandlung versprach von vornherein nichts als Auseinandersetzung, Einbußen an erfreulichen Begegnungsmöglichkeiten, an angenehmen Reise- und Kongreßprogrammen. Auch war das Wegsehen von östlichen Menschenrechtsverletzungen weithin politischer Brauch. Fast verständlich, daß manche Ärzte da ihre Rolle verkannten und sie es den Politikern gleichtun wollten, die ja oft genug auch mit Schurken verhandeln. Außerdem ist manchen Kollegen wohl der Fortschritt der Disziplin schlecht bekommen. An sich ist die Psychiatrie ja ein kleines Fach. Die Krankheiten, die es hier gibt, kann man an den Fingern zweier Hände aufzählen. Zu keiner dieser Krankheiter. kennen wir die Ursachen. Keine können wir wirklich ausheilen. Aber seit der Entwicklung der Psychopharmaka ist die Psychiatrie doch aus ihrer früheren medizinischen Schlußlichtrolle herausgekommen. Sie kann heute das Los vieler Kranker, gerade Schwerkranker, entscheidend verbessern, und das ist gewiß viel. Daß der Fortschritt der Psychiatrie "vergleichbar oder in vieler Hinsicht dem in anderen medizinischen Bereichen gar überlegen ist", wie WVP-Präsident Stefanis in besagtem NEWSLETTER schrieb, ist wohl übertrieben. Aber manchen steigen halt auch kleine Gewinne gewaltig in den Kopf, und sie nehmen in nationalen Führungspositionen, noch mehr in solchen von Weltverbänden, eine Großartigkeit an, in der sie die Nöte der realen Welt nicht mehr erreichen.

Ich spreche diese Dinge so deutlich an, weil die Wahrheit einmal gesagt werden muß. Der Einsatz der Psychiatrie zur Unterdrückung war in der UdSSR, die auf Reputation Wert legt, nur möglich, solange er von der internationalen Fachwelt mehr oder minder hingenommen wurde. Nachdem deutlicher wurde, daß er nicht hingenommen wird, beginnt die Praxis zu bröckeln. Einige der internierten "psychiatrisierten" Gewissensgefangenen sind inzwischen freigekommen. In der sowjetischen Presse wurde umfänglich über Fehlpraktiken und Mißstände im Fach, auch über einzelne ungerechtfertigte Internierungen, berichtet. Ein Gesetz bedroht jetzt den gar mit Strafe, der einen gesunden Menschen solcher Internierung unterwirft. Der Kern der Angelegenheit ist jedoch bis heute unberührt: Wie eh und je leugnen die sowjetischen Offiziellen, daß es den eigentlichen, systematisch betriebenen Mißbrauch des Fachs zur Unterdrückung gegeben hat und gibt. Entsprechende Klagen "entbehren der Grundlage", fand kürzlich erst Herr Morosow bei besagter Tagung in Mailand. Wenn uns die Herren aber bezüglich der Vergangenheit mit Beteuerungen kommen, die nachweislich unwahr sind, geben ihre Beteuerungen für die Zukunft wenig Hoffnungsgrund.

Die Positionen einiger westlicher Fachkollegen, Fachgesellschaften stehen im Kern ebenso unverändert. Beim Taktieren und Lavieren, das sie mit ihrer Resolution von 1972 begonnen hat, ist die DGPN über die Jahre geblieben. Forsch gibt sie die Resolution jetzt (so 1982) noch als "eindeutige Verurteilung jeglichen Mißbrauchs" aus. Solches Verhalten kann diesem aber wie in der Vergangenheit so auch in Zukunft zupaß kommen. Es kann die Sowjets in der Hoffnung bestärken, sich dieses "elegante" Unterdrückungsmittel doch noch erhalten zu können. Mir scheint, daß, neben der Mißbrauchspraxis selbst die vielfältig variierten, in voller Freiheit erbrachten Zuträgerdienste westlicher Psychiater den fast ebenso großen Skandal darstellen. Und was mich besonders ratlos macht, ist, daß gerade diese Seite des Mißbrauchs, die die westliche Öffentlichkeit doch am ehesten hätte wenden können, von ihr am allerwenigsten Aufmerksamkeit erfahren hat. Über neue Internierungen und Verlegungen, über Tod oder Entlassungen von Gewissensgefangenen berichteten unsere Zeitungen ab und an. Aber an die Hintergründe des Psychiatrie-Mißbrauchs, die ihn mit ermöglichten und ihm zugehören wie Ziffer und Adler der gleichen Münze, wollte niemand rühren, die Psychiater nicht und nicht die übrigen Ärzte, die Medien nicht (mit Ausnahme vielleicht der FAZ), die Kirchen, die Politiker und auch unsere großen Menschenrechtsgesellschaften nicht. Den Psychiatrie-Mißbrauch gab es wohl auch, weil er in seinem Bedingungsgefüge gedeckt wurde - und zwar nicht nur von Psychiatern! Daß deren Helfersdienste mitunter von ähnlicher Unwahrheit durchwirkt waren wie die sowjetischen Mißbrauchspraktiken selbst, macht das verbreitete Schweigen um so unverständlicher. Nicht nur weil dieses Verhalten Zustimmung zu Bösem bedeutet, es vielleicht gar befördert, sondern auch, weil Unwahrhaftigkeit darunter in die verschiedensten Winkel unseres Fachs einzudringen droht, deshalb versuchen wir auch diese Seite des Problems der Öffentlichkeit nahezubringen.

 

Wenn ich so kritische Weisen anschlage, so möchte ich abschließend doch nochmals den großen Einsatz hervorheben, den unsere Kollegen in anderen, insbesondere angelsächsischen Ländern geleistet haben und leisten. Durch diese Anstrengungen haben wir ja jetzt doch in der Peripherie des Mißbrauchskomplexes wesentliche Verbesserungen erreicht. Um so eher aber werden wir ihm auch in seinem Kern beikommen und um so eher wird die moralische Krise überwunden sein, die sich in seiner Begleitung in Teilen der westlichen Psychiatrie eingestellt hat, als auch Sie, meine Damen und Herren, an den Vorgängen Anteil nehmen. Die öffentliche Behandlung dieser Angelegenheit ist auch erforderlich, weil Grundmuster von Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wahr und Unwahr, für das menschliche Zusammenleben unaufgebbare Grundorientierungen, auf dem Spiel stehen, wenn menschlicher Geist beliebig als Irrsinn gehandelt wird und Heilkunde zum Mittel des Terrors verkommt. Dem zu wehren, entspricht gewiß allgemeinem Interesse.

 

 

Dem Rundbrief wurde angefügt ein Interview, das der Journalist Adelbert Reif mit Weinberger nach der Tagung führte.

Psychiatrie und Glasnost" - Rückschau und Ausblick

Reif hatte auf der Tagung "Psychiatrie und Glasnost" über "Die Reaktionen der westlichen Presse auf den Psychiatrie-Mißbrauch" gesprochen. Von seinem freigehaltenen Referat liegt keine Bandaufzeichnung vor. Ein Schwerpunkt von Reifs journalistischer Arbeit ist das Interview, mit dem Probleme der Zeit, das Denken von Zeitgenossen ausleuchtet (z.B. in "DIE WELT", "SCHWEIZERISCHE HANDELSZEITUNG" und anderen Blättern). In seiner bevorzugten Arbeitstechnik sollen seine bei der Tagung geäußerten Erfahrungen und Beurteilungen hier nochmals zum Ausdruck kommen. Gleichzeitig sollen damit eine Bilanz der Tagung versucht und einige zwischenzeitlich noch eingegangene wichtige Informationen vermittelt werden. Das Zwiegespräch fand statt am 1. Mai 1988. W

R.: Sie haben, Herr Dr. Weinberger, für das Verhalten vieler, glücklicherweise nicht aller Ihrer Kollegen dem Psychiatrie-Mißbrauch gegenüber plausible Gründe genannt. Als Journalist bin ich außerstande, das verbreitete Totschweigen der Problematik in den deutschen Medien zu erklären. Mich erstaunt dieses Verhalten um so mehr, als die Rolle der Psychiatrie gerade auch in unserem Land weithin (und gewiß zu Recht) kritische, manchmal gar überkritische Aufmerksamkeit genießt. Dem horrenden Thema des Psychiatrie-Mißbrauchs haben aber lediglich die FAZ und im deutschsprachigen Ausland die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG kontinuierliche Aufmerksamkeit geschenkt. Um der Sache auf den Grund zu kommen, haben wir selbst 1983 und 1985 Interviews aufgenommen, die ich jeweils in mehreren Zeitungen, auch ärztlichen, zur Publikation bringen konnte (kleine Auszüge in RB 2/83 und 1/86 FW), dabei die Widerstände erfahrend, auf die das Thema bei Herausgebern und Redaktionen weithin stößt.

 

W.:  Daß die Medien allgemein dafür wenig übrig haben, ist noch verständlich. Lieschen Müller ist fürs Psychiatrische allenfalls ansprechbar, wenn es da Komisches oder Gruseliges zu berichten gibt. Weniger verstehe ich das Schweigen der ärztlichen Presse, die doch explizit die Aufgabe hat, die Ärzte korrekt über (u.U. auch unangenehme) Vorgänge im Medizinischen zu unterrichten. Voll und, wie Sie sagten, zu Recht konfrontieren Redakteure dieser Blätter derzeit ihre Leser mit dem Versagen der Ärzte im Nationalsozialismus. Daß auch sie heute Teilhaber an solchem Versagen sind, scheint ihnen nicht aufzugehen.

R.: Wobei den Vogel wohl der Chefredakteur der MÜNCHNER MEDIZINISCHEN WOCHENSCHRIFT abschoß, der mir 1982 auf mein Ersuchen, ein Interview mit Ihnen wenigstens in Ausschnitten zu publizieren, zur Antwort gab, das Thema des Psychiatrie-Mißbrauchs sei für seine Zeitschrift tabu, und zwar deshalb, weil er einige Abonnenten in Ostblockländern nicht verlieren möchte. Ähll1ich waren sicher die Motive vieler anderer Redaktionen, die das Thema ebenso, nur eben lautlos umschifften. Daß sich ein Redakteur aber selbst coram publico. einen Maulkorb verpaßt und dies auch noch schriftlich bestätigt, das hat Herrn; Dr. Aumiller von der MMW wohl noch niemand nachgemacht.

W.: Die Frage ist dennoch, ob solch offene Nachrichtenunterdrückung nicht noch besser ist als die häufiger geübte "partielle Berichterstattung", die etwa neue Mißbrauchsfälle reportiert, aber einer Analyse des Gesamtkomplexes konstant ausweicht, die "freie Presse" spielt, die sensibelsten Punkte aber ausspart und so mit beiträgt, daß es allgemein bei einem Achselzucken bleibt.

R.:  Als "gutes" Beispiel einer so verkürzenden, letztlich verfälschenden Berichterstattung kann die des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTS über die Bonner Tagung ( 6/88) angesehen werden. Über wichtige Aussagen berichtete das Blatt korrekt. Nur von Ihren kritischen Bemerkungen wie auch den Ausführungen Dr. Biebers, von den Aussagen der mit der Sache vornehmlich befaßten, die Tagung mit leitenden deutschen Ärzte und von der Kritik an deutschen Ärzten verlautete im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT nichts. "Glasnost", Offenheit, so scheint es, ist auch in manchen Gegenden des "freien Westens" noch etwas Unbekanntes.

W.: Immerhin ist ein Reporter des Ärzteblatts zu der Tagung gekommen. Von den hochrangigen Psychiatern ließ keiner sich blicken. Man muß d ärztlichen Organen die Aversion ihrer Leser gegen das Thema zugute halten. Z gerne spielen diese, gleichgültig ob im konservativen oder liberalen, im roten oder grünen Lager zu Hause, die über alle Zweifel Erhabenen. Wie sehr sie das Mißbrauchsthema dabei stört, scheint selbst in Nachrufen auf, die zum Ableben unseres Ehrenpräsidenten erschienen. Der Kampf gegen dieses Übel, den Prof. von Baeyer während der letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens engagiert mit geführt hat, existiert da einfach nicht mehr. Einige Herren stört dieser Kampf offenbar so sehr, daß sie ihn selbst ihrem eigenen Lehrer und Förderer, dem Prominentesten in ihrer, unserer Reihe, kurzerhand streichen.

R.: So vielschichtig die Weisen, so unausrottbar ist hierzulande offenbar der Hang, der Despotie zu dienen und den Widerstand gegen sie auszuradieren. Ich erinnere mich noch an die Worte des Schriftstellers und Psychiaters Heinar Kipphardt, mit dem ich bei Erscheinen seines Bühnenstücks "MÄRZ" Ende der siebziger Jahre eine Unterredung hatte. Das Stück - der Titelheld ist ja eine fiktive Figur - wurde vielfach als Abbild der bundesdeutschen Psychiatrie, als Anklage und Ausgangspunkt ihrer Reform genommen. Ich fragte Kipphardt, der früher in der DDR beheimatet war, ob er nicht auch ein Wort zu den viel skandalöseren Vorgängen des Psychiatrie-Mißbrauchs in der UdSSR sagen wollte. "Einen Teufel werde ich tun", war die Antwort. - Einzelne Verbesserungen sind nun in der UdSSR doch eingetreten. Sollte eine "Perestrojka", eine Umbildung jetzt nicht auch bei deutschen Psychiatern noch möglich sein?

W.: Ich bin zuversichtlich, hie wie da aber von Euphorie entfernt. An der Spitze der sowjetischen Fachgesellschaft steht weiter der notorische G. Morosow. Nachfolger von A. Sneschnewski als Direktor des (führenden) Instituts für Psychiatrie der Akademie der medizinischen Wissenschaften ist der ebenso notorische M. Wartanjan geworden. Über die Hälfte der vor der Entlassungswelle 1987 bekannten internierten Dissidenten sitzt nach jüngsten Informationen immer noch. Was aber die deutschen Psychiater betrifft, so hat ihr Lavieren an sich seit langem keine Chance mehr. International sind wir längst schon in der Mehrheit. Und unsere Position ist stärker geworden. Ende April gab es unter den amerikanischen Psychiatern eine Abstimmung über den weiteren Kurs ihrer Fachgesellschaft. Eine Gruppe kalifornischer Kollegen versuchte nochmals, das (natürlich auch dort umstrittene) Mißbrauchsthema vom Tisch der APA zu bekommen. Ihr Abstimmungsantrag, von den üblichen Beschwörungen des "wissenschaftlichen Dialogs" begleitet, scheiterte jedoch. Unsere Position wird sich weiter behaupten - gewiß beim nächsten Weltkongreß für Psychiatrie 1fl89 in Athen und irgendwann vielleicht auch in unserem Land.

R.: Sie sind, Herr Dr. Weinberger, zusammen mit Dr. Bieber Mitte März in München mit dem Chefpsychiater im sowjetischen Gesundheitsministerium Dr. Tschurkin und dem Direktor des Leningrader Bechterew-Instituts Prof. Kabanow zusammengetroffen. Erfuhren Sie von den einschlägigen Absichten und Motiven etwas Neues?

W.: Die Absichten und Motive liegen offen auf. Die Sowjets wollen in die Weltgemeinschaft ihrer Kollegen zurück. Neu war für uns, daß in Zusammenhang mit, der Sneschnewski-Schule der Name Lyssenko fiel. Lyssenko war der führende "Kopf der sowjetischen Biologie, bis die Abwegigkeit seiner Lehre so peinlich wurde, daß er 1964 stürzte. Sollte die Erwähnung seines Namens ein Hinweis dafür sein, daß auch die Tage der Sneschnewski-Schule, der fachlichen Grundlage des Mißbrauchs, gezählt sind? Überraschend war für uns auch, daß die Kollegen beinah wie selbstverständlich über die Behandlung von Dissidenten in der Psychiatrie sprachen, was vordem doch nie über offiziell-sowjetische Lippen gekommen war. Daß hinter solchen Behandlungen staatliche Politik stände, gestanden hätte, stellten sie jedoch wieder in Abrede.

R.: Verlangt ein solches Eingeständnis von ihnen nicht zuviel Selbstüberwindung? Muß ein solches Eingeständnis wirklich sein?

W: Verzichteten wir darauf, so könnte hüben wie drüben das Lavieren weitergehen und, wie Dr. Korjagin ausführte, die psychiatrische Unterdrückung morgen verstärkt wieder beginnen. Außerdem kann es für die jetzigen Machthaber, wenn sie die Hinterlassenschaften des Stalinismus wirklich tilgen wollen kein allzu großes Opfer sein, den staatlich betriebenen Mißbrauch der Psychiatrie zuzugeben, indem sie ihn den Sünden ihrer Amtsvorgänger zurechnen.

R.: Die FAZ schrieb kürzlich die eingetretenen Verbesserungen den "jahrelangen Bemühungen westlicher Psychiater-Gesellschaften und ihnen nahestehender Gruppierungen" zu (s. nächste Seite). Werden unter diesen Ehrenschirm jetzt nicht auch einige Gesellschaften zu schlüpfen versuchen, die jene Bemühungen lange Zeit eher torpedierten?

W.: Sie sprechen nochmals die Generallinie an, die bewußte Fachgesellschaften dem Psychiatrie-Mißbrauch gegenüber an den Tag gelegt haben. Wir wollen nicht übersehen, daß sie wie viele andere Bürger und Gruppen unseres Landes seinen Opfern und/oder deren Verteidigern im Einzelfall da und dort auch Hilfe leisteten. Jene "Generallinie" ließ auch manche Menschenrechtsgesellschaften ungerührt, die in der Einzelhilfe zum Teil wesentlich rühriger waren, als wir es sein konnten. Inwieweit das Tun hier das Lassen dort aufwiegt, über Verdienste also wie Versäumnisse wollen wir nicht endgültig urteilen. Unsere Offenheit in der Darlegung des Geschehens soll eher anderen, u.U. der Nachwelt - die Rundbriefe der DVpMP gehen auch an etliche Bibliotheken -, eine selbstständige Urteilsbildung darüber ermöglichen, wie die Psychiater, die Ärzte unserer Zeit, wie unsere Gesellschaft insgesamt die Herausforderung des "psychiatrischen Terrors" annahmen. Zuerst aber dienten, dienen uns Offenheit, Öffentlichkeit als Mittel, den Mißbrauch unseres Faches abzustellen. Wenn wir durch sie diesem Ziel jetzt vielleicht ein wenig näher gekommen sind, haben sie sich schon gelohnt.

 

Weiter beigefügt war dem Rundbrief ein Beitrag, den Claus-Einar Langen, Korrespondent der FAZ, am 6.4.88 in seiner Zeitung publiziert hatte. Den Kongreß, der für die DVpMP eine ihrer öffentlichkeitswirksamsten Veranstaltungen war, hat Langen, der bei anderen Gelegenheiten, Treffen etwa der IAPUP (s.o.), gern als  Sprecher der Deutschen Mitgliedsgruppe auftrat, geschnitten.

 Auch in hohen Ämtern wird nichts mehr beschönigt

ERLANGEN, 5. April. Die am I. März dieses Jahres in der Sowjetunion in Kraft getretenen Bestimmungen zur Behandlung psychisch Kranker und zum Schutz ihrer Rechte könnten vielleicht ein Schritt in Richtung auf ernstgemeinte Bemühungen um ci ne Reform der sowjetischen Psychiatrie sein. In den nächsten Monaten sollen im Register rür Geisteskranke etwa zwei Millionen Namen sowjetischer Bürger gelöscht werden; das wären etwa dreißig Prozent der bisher als geisteskrank geltenden und deshalb amtlich erfaßten Personen in der Sowjetunion. Eine Registrierung, von der allein in Moskau demnächst etwa fünfzigtausend Einwohner verschont wer- den sollen, bedeutet für die Nichthospitalisierten zum Beispiel Einschränkungen bei der Arbeitsplatzwahl und bei Reisen. Von der Herausnahme aus dem Register sind allerdings auch Menschen betroffen, die eines kriminellen Delikts beschuldigt worden waren, aber von Psychiatern gegen , Bestechungsgelder für unzurechnungsfähig erklärt und der Bestrafung entzogen wurden. Bis auf diese Gruppierung wird kaum eine Entscheidung auf dem von Parteichef Gorbatschow beschrittenen Weg der Umgestaltung eine große Zahl von Sowjetbürgern so unmittelbar berühren wie die beabsichtigte Befreiung von Furcht und Schrecken vor willkürlicher Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Außerdem soll die Registerlöschung wieder mehr Vertrau- en in die Psychiatrie herstellen. Der Leiter des Leningrader Bechterew-Instituts, Kabanow, der mit den Auslandskontakten der sowjetischen Psychiater-Gesellschaft betraut werden soll, sagte, er hoffe, daß durch die neuen Gesetze die Stigmatisierung der sowjetischen Psychiatrie beseitigt und den Menschen die Angst vor Psychiatern genommen werde.

 

Es verdient Respekt, daß gewisse Psychiater m holten Ämtern Tatsachen nun nicht mehr leugnen und nichts beschönigen. Zu ihnen gehört der Chefpsychiater im Moskauer Gesundheitsministerium, Tschurkin, von dem gesagt wird, er sei eine Vertrauensperson des Geheimdienstes KGB. Zu den erwähnten Eingeständnissen zählen Äußerungen etwa wie: Das Fehlen eines starken Gesetzes habe zu Fehlern bei der Diagnose und bei Klinikeinweisungen geführt; von Behörden sei Druck auf Psychiater ausgeübt worden. um die Internierung geistig gesunder Menschen in psychiatrischen Kliniken zu erreichen; hier habe es sich um Willkür gehandelt; die Schuldigen, seien streng bestraft worden; die Kampagnen im Westen gegen den Mißbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion hätten die Gründung einer großen Zahl von Organisationen zur Verteidigung der Opfer dieser Willkür zur Folge gehabt. Abwehrend verhält sich aber immer noch der Leiter des Gerichtspsychiatrischen Moskauer Serbskij-Instituts und Vorsitzende der Allunions-Gesellschaft der Neuropathologen und Psychiater, Morosow. Wie es heißt, habe er auf niederländische Besucher, die unlängst im Serbskij-lnstitut waren, unter ihnen der frühere Außenminister van der Stoel, einen selbstsicheren und sogar aggressiven Eindruck gemacht. In dem Institut wurden sowjetische Zeitungsberichte über Mißbräuche und Mißstände in der Psychiatrie des Landes als das Werk ..unverantwortlicher Idioten" bezeichnet. Immerhin, das kann nicht übersehen werden, hat die zum Teil scharfe Kritik sowjetischer Medien einen Aufstand und Aufruhr unter psychiatrischen Patienten und ihren Angehörigen bewirkt: In Moskau sol1 es in mehr als sechzig Fäl1en zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Psychiater gekommen sein, zwei Psychiater sol1en getötet worden sein.

 

Zu dem sich jetzt abzeichnenden Umdenken in der sowjetischen Psychiatrie hat maßgeblich das jahrelange Bemühen westlicher Psychiater-Gesel1schaften und ihnen nahestehender Gruppierungen um eine Offenlegung des Mißbrauchs der Heilkunde zu politischen Zwecken in der Sowjetunion beigetragen. Bei der Registerlöschung geht es jetzt aber um die große Mehrheit der nichtpolitischen Fäl1e. Eine grundsätzliche Überprüfung von Forschung und Lehre in der sowjetischen Psychiatrie  ist deshalb nicht mehr auszuschließen. Wenn eine 'Registrierung 'von zwei Mil1ionen Sowjetbürgern als (angeblich) Geisteskranke nicht mehr aufrechter- halten wird, dann könnte das viel1eicht eine Annäherung an westliche Diagnose-Kriterien bedeuten. Damit würden der "Moskauer Schule", die die sowjetische Psychiatrie bisher beherrschte, ein großer Teil ihrer Grundlagen genommen werden. Nach einer Untersuchung der kanadischen Universität West-Ontario führte die ungewöhnlich häufig diagnostizierte ..schleichende Schizophrenie" der ..Moskauer Schule" zu einer Brandmarkung normaler Menschen als krank". Etwa "neurasthenische Zustände" oder ..neurotische Depressionen" gelten als Symptome der schleichenden Schizophrenie". Sowjetischen Autoren zufolge sollen mit der frühzeitigen Diagnose der ..schleichenden Schizophrenie" auch prophylaktische Absichten verbunden werden: Die Diagnose soll vor gesellschaftlich gefährlichen Handlungen" schützen helfen, da die ..meisten Patienten erst nach einem Gesetzesverstoß mit einem Psychiater in Kontakt kommen".

 

Psychiatrische Behandlung - so sehen es die neuen Gesetze vor - soll unter Beachtung der Prinzipien der Menschlichkeit und des Mitgefühls gewährt werden. Berücksichtigung finden sollen aber auch die ..Prinzipien der Demokratie und der sozialistischen Gesetzlichkeit". Für Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen kann das weiterhin von Nachteil sein, vor allem für jene, die immer noch in psychiatrischen Kliniken festgehalten werden. Eine Bemerkung des Chefpsychiaters im Gesundheitsministeriums, Tschurkin, stützt diese Sorge: ..Nur weil eine Person ein Dissident ist, bedeutet das nicht, daß sie oder er auch geistig gesund ist." Mitfühlende Methoden bei der Behandlung in einer ..respektvollen und menschlichen Art und Weise, ohne Verletzung der menschlichen Würde des Patienten" sollten aber künftig bei wörtlicher Auslegung des Textes inhumane "therapeutische" Methoden ausschließen. Es handelt sich zum Beispiel um das Injizieren hoher Dosen Schwefel als Disziplinarmaßnahme, mit denen Patienten in psychiatrischen Kliniken große Schmerzen zugefügt werden.

 

In bezug auf den bisherigen Mißbrauch ist es von Bedeutung, daß künftig die ..Internierung einer Person in einer psychiatrischen Klinik, die als geistig gesund bekannt ist, ein kriminelles Vergehen in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Unionsrepubliken darstellt". Der Akzent liegt hier .auf „als geistig gesund bekannt ist", was Ärzten, die im Dienste des KGB stehen, Konstruktionen schwierig machen dürfte. Zudem sind die psychiatrischen Sonderkliniken aus der Zuständigkeit des Innenministeriums herausgenommen und dem Gesundheitsministerium unterstellt worden. Das hat vermutlich die Einflußnahme des KGB in diesen Kliniken geschwächt. Möglicherweise werden dort die KGB-Offiziere in weißem Kittel durch Fachärzte ersetzt. Den Gesetzen zufolge muß ein Psychiater ..unabhängig handeln und i darf sich nur von medizinischen Kriterien und dem Gesetz leiten lassen". Personen, die mit den Befunden über ihren geistigen Zustand nicht einverstanden sind, haben die Berechtigung, Einspruch beim zuständigen Chefpsychiater zu erheben. Das kann auch die Familie oder ein gesetzlicher Vertreter tun. Bei Notaufnahmen in psychiatrische Kliniken ist ebenfalls ein Einspruch beim Chefpsychiater möglich. Hat der Leitende Arzt der Klinik selbst die Notaufnahme angeordnet, dann kann der Einspruch des Patienten, seiner Familie oder des gesetzlichen Vertreters an den Chefpsychiater der höheren Gesundheitsbehörde gerichtet werden. Auch den Schutz durch die Gerichte sehen die neuen Bestimmungen vor.

Unter Vermischtes, Nachgetragenes standen im Rundbrief 1/88 noch Nachrichten  über einzelne Mißbrauchsfälle, die vereinzelt damals noch bekannt geworden waren

Tshisekedi Wa Mulumba, Gründungsmitglied und Führer der oppositionellen, verbotenen "Union für sozialen und demokratischen Fortschritt" in Zaire, wurde im Januar 1988 verhaftet, bevor er vor einer Versammlung seiner Anhänger zu Wort kommen konnte. Er hatte eine Beschneidung der Macht von Präsident Mobutu fordern wollen. Ende Januar wurde das Verfahren gegen ihn ausgesetzt, um ihn wegen "Persönlichkeitsstörungen" einer psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen. Diese wurde von Ärzten des "Centre medico-social de Kinshasa" durchgeführt. Das Gutachten stellte laut Radiomeldung fest, daß Tshisekedi an Megalomanie (Größenwahn) leide. Er wurde zwangsinterniert, inzwischen (auf internationalen Druck hin) jedoch wieder entlassen. Dafür sind jetzt, wie es heißt, einige Psychiater, die T. nicht als krank hatten erklären wollen, Verfolgungen ausgesetzt. Sie fürchten um ihr Leben.

Ronalds Gaubis berichtete am 26.03.88 westlichen Reportern von einer Demonstration in Riga, die gegen die Verschleppung von Letten unter Stalin gerichtet war. Gaubis fügte seinem Bericht hinzu, daß er erst kürzlich aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden sei. Sechs Monate habe er dort zugebracht, nachdem er an Kremlchef Michail Gorbatschow den Antrag gerichtet hatte, seine sowjetische Staatsbürgerschaft aufzuheben und ihn zu seinen Verwandten nach Westdeutschland ziehen zu lassen. (IAPUP-Documents No. 7)

Viktor Smirnow aus Tomilino, geb. 1950, Mitglied der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte der Behinderten, wurde Anfang Februar 1988 zwangsweise in das psychiatrische Krankenhaus Nr. 2 des Tschechow-Distrikts, Gebiet Moskau, eingewiesen. (USSR NEWS BRIEF 4/88)

Maxim Sladki: Im Gegensatz zu Maxim Gorki (der Bittere) hatte der Schriftsteller Wladimir Maximow das Pseudonym Maxim Sladki (der Süße) gewählt. Bittere Ironie: Sladkis Leben war alles andere als süß. Der Leningrader kam noch jung, zum Säuberungshöhepunkt 1937, in Haft. Nach Verbüßung seiner Strafe, 1947, versuchte Sladki eine "Union der sowjetischen Lagerveteranen" zu gründen, und wurde unverzüglich wieder festgenommen. Nach elf weiteren Jahren hinter Gittern steckte man den Gequälten in die Psychiatrie. Aus dieser Zeit stammt sein Essay über das Moskauer "Serbski"-Institut für Gerichtspsychiatrie, wofür er, nicht einmal ein Jahr In Freiheit, erneut, diesmal für immer in der Psychiatrie-Anstalt Sytschewka im Gebiet Smolensk verschwand. Sladkis bekanntestes Untergrundwerk war der Roman "Die Nike von Petrograd". Der verfolgte Poet starb im vorigen oder vorletzten Jahr. (DER SPIEGEL vom 25.04.88)

Jegor Wolkow, (s. RB 1/83, 3/84, 1/86), geb. 1927, 1967 nach Organisation eines Streiks verhaftet, seit 1968 ununterbrochen interniert im Speziellen psychiatrischen Krankenhaus von Blagoweschtschensk, schließlich an Tbc und Magengeschwüren leidend, verstarb am 01.03.1988, nachdem er (auf internationalen Druck hin) endlich freigelassen worden war. (USSR NEWS BRIEF 7-8/88)

"Positive Entwicklungen in der Sowjetunion in Fragen der Menschenrechte" gibt es nach Meinung von Gerald Nagler, des geschäftsführenden Direktors der Internationalen Helsinki-Föderation. Nagler äußerte diese Auffassung im Januar 1988 während einer Besichtigungstour in der UdSSR, wo eine Expertengruppe der Föderation Voraussetzungen für eine Menschenrechtskonferenz in Moskau prüfte. 1987 habe es, so Nagler, keine neuen Verurteilungen wegen politischer Delikte gegeben. Diese Entwicklung habe sich aber nicht in allen Sektoren verbreitet. Eklatant deutlich geworden sei dies im Bereich der Psychiatrie. "Hier gibt es überhaupt keine Glasnost", sagte Nagler. (DPA, 29.01.88)