Habermas und die deutsche ideologische Hypothek

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aus Science Files vom 15.10.2021

Dr. phil.habil. Heike Diefenbach

zum Beitrag  von Prof. Gérard Dussouy in Polémia vom 15.10. 2021

Habermas und die deutsche ideologische Hypothek

In einer faszinierenden philosophischen Analyse zeichnet Gérard Dussouy das erbauliche Porträt eines Volkes, das einer umfassenden sozialen Indoktrination ausgesetzt ist.

Ein Text, den man aufmerksam lesen sollte, um zu verstehen, was in unseren Nachbarländern geschieht.

In der Tat wird Deutschland seit mehr als fünfzig Jahren von derselben Ideologie beherrscht, die es politisch hemmt und die gleichzeitig das politische Handeln der Europäischen Union bestimmt.

Diese Ideologie erklärt, warum ihre Außenpolitik unabhängig von den an der Macht befindlichen Parteien oder Koalitionen starr, d.h. systematisch auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet ist, und warum sie der Standardträger für alle UN-Desiderate ist.

Das erklärt auch, warum Deutschland, obwohl es eine Industrie- und Finanzmacht ist, sich auf der internationalen Bühne kaum Gehör verschafft und vor allem, warum es nie seine Stimme erhebt, wenn es um die Forderung nach europäischer Emanzipation geht.

Um diese Apathie zu verstehen, muss man natürlich den internationalen Status Deutschlands seit 1945 berücksichtigen, der der einer „begrenzten Souveränität“ ist, wie man zu Zeiten der Sowjetunion von den Volksdemokratien sagte, oder, wenn man es vorzieht, einer „überwachten Souveränität“.

Doch wie der Philosoph Peter Sloterdijk vor einigen Jahren anprangerte, rührt der deutsche ideologische Konsens, so wie er sich aufgedrängt hat, vor allem daher, dass „in den siebziger Jahren, als Habermas an die Macht kam, […] der Anti-Nietzscheismus der Kritischen Theorie, der Frankfurter Schule, zum dominierenden Ton in Deutschland wurde.

Die Kritische Theorie […] hat eine Art ‚Wache am Rhein‘ aufgestellt, sie hat alles getan, um das französische Denken in Deutschland zu minimieren, ob es nun Leute wie Deleuze, wie Foucault oder andere waren“[1].

Dies geht so weit, dass die heute in Deutschland vorherrschende Philosophie nach Sloterdijk zum Erzeuger einer „Hypermoral“ (nach Arnold Gelhen) geworden ist, die sich jedem kritischen Denken widersetzt und jede politische Orientierung, die nicht dem etablierten Status quo entspricht, verbietet.

Es sei darauf hingewiesen, dass der größte Teil des Werks von Jürgen Habermas der Infragestellung des Herrschaftsparadigmas gewidmet ist, das in fast der gesamten politischen Philosophie zu finden ist.

In seiner Studie über diesen Philosophen kommt Arnauld Leclerc zu folgendem Schluss:

„Erstens argumentiert Habermas gegen Arendt, dass es unmöglich ist, Macht unter Ausschluss von Herrschaft zu denken; zweitens argumentiert Habermas gegen Hobbes, Schmitt und Weber, dass es unmöglich ist, Macht auf Herrschaft zu reduzieren, die zwar rationalisiert werden kann, aber niemals legitim ist; drittens argumentiert Habermas gegen die kritischen Theorien der Herrschaft, die von Marx über Bourdieu und die Frankfurter Schule bis hin zu Foucault reichen, dass es absolut unmöglich ist, Herrschaft zu einem Paradigma der politischen Theorie zu machen.[2]

Er plädiert daher für einen Übergang in das postnationale Zeitalter, in dem die Deut­schen nicht mehr ein Volk an sich, sondern Weltbürger sind, und sieht die Globa­lisie­rung als „Horizont ohne Herrschaft“ als Folge der Homogenisierung der Menschen.

Es muss gesagt werden, dass diese neue Situation von den Deutschen ziemlich leicht ak­zep­tiert wurde, da ihre bemerkenswert spezialisierte Wirtschaft stark von der Globa­lisierung profitiert hatte.

Um den jedem Individuum und jedem Volk innewohnenden Ethnozentrismus aufzulösen, wollte Habermas an die „kommunikative Vernunft“ appellieren, die er, wie der amerikanische pragmatistische Philosoph Richard Rorty anmerkt, „als Verinnerlichung sozialer Normen und nicht als Bestandteil des „menschlichen Selbst“ interpretiert“.

Habermas beabsichtigt, die demokratischen Institutionen zu „erden“, wie Kant es zu tun hoffte; aber er will es besser machen, indem er anstelle der „Achtung der Menschenwürde“ einen Begriff der „herrschaftsfreien Kommunikation“ ins Spiel bringt, unter dessen Schirmherrschaft die Gesellschaft weltoffener und demokratischer werden muss.[3]

Jürgen Habermas‘ Ziel ist es, dass kommunikatives Handeln in Verbindung mit einer gut strukturierten Öffentlichkeit den Menschen dazu bringen kann, seine nationale, romantische Identität abzulegen und es der Menschheit zu ermöglichen, sich in ewigem Frieden zu vereinen, indem sie Souveränitäten überwindet und so jeden Anflug von Konflikt beseitigt.

Der Siegeszug von Habermas und die Übernahme seiner Ideen durch offizielle Kreise (wie z.B. den Bildungssektor) führte in der Tat zur kommunikativen und ideologischen Hegemonie seines Lagers in Deutschland, mit der Unterstützung seiner „Verbündeten“, die sich mit der daraus resultierenden politischen Passivität zufrieden gaben, anstatt zu einem Dialog, der diesen Namen verdient.

Durch die Kontrolle der Information, der Medien und der verschiedenen Sozialisations­prozesse war es möglich, die kollektive Repräsentation so zu gestalten, dass die poli­ti­sche Kultur der deutschen Nation radikal verändert wurde.

Bei der Analyse des Programms der politischen und historischen Umerziehung, dem die Deutschen, aber auch die Japaner unterworfen waren, zögert Thomas U. Berger nicht zu schreiben:

„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in die politische und historische Umerziehung des deutschen Volkes hineingeraten. Berger zögert nicht zu schreiben, dass „sie von einer antimilitärischen Propaganda bombardiert wurden, die mindestens so gewalttätig war wie die Propaganda der vorangegangenen Kriegszeit“[5].

Die ideologische Ankylose, unter der die deutschen politischen Parteien leiden, erklärt unter anderem die Zurückhaltung Deutschlands, Emmanuel Macron zu folgen, wenn dieser von „europäischer Souveränität“ spricht und Fortschritte im Bereich der gemeinschaftlichen Verteidigung oder einer europäischen Armee vorschlägt.

Der französische Präsident, selbst ein Anhänger der Thesen von Habermas, den er zu Beginn seiner fünfjährigen Amtszeit besuchte, hätte dies erwarten müssen.

Das Dilemma ist jedoch umso schwieriger zu lösen, als gleichzeitig mehrere Partnerländer Deutschlands, insbesondere die Länder im Süden der Europäischen Union, darunter Frankreich, insofern von Deutschland abhängig bleiben, als es als „Währungsschirm“ dient; und im Falle einer tiefgreifenden Meinungsverschiedenheit oder Trennung droht ihnen der Bankrott.

Wir werden also auf außergewöhnliche Ereignisse warten müssen, bevor die deutsche ideologische Hypothek aufgehoben wird.

[1] Sloterdijk Peter, Le Magazine Littéraire, Interview, Nr. 406, Februar 2002, S. 34.
[2] A. Leclerc, „La domination dans l’œuvre de Jürgen Habermas. Essai sur la relativisation d’une catégorie“, Politeia, N°1 Politique et domination à l’épreuve du questionnement philosophique, November 1997, S. 53–85.
[3] R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Paris, Armand Colin, 1993, S. 205.
[4] J. Habermas, La paix perpétuelle. Le bicentenaire d’une paix kantienne, Paris, Le Cerf, 1996.
[5] T. U. Berger, „Norms, Identity and National Security in Germany and Japan“, Peter J. Katzenstein, The Culture of National Security, New York, Columbia University Press, 1996, S. 317–356.

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Eine grundsätzliche Kritik an den Vorgehensweisen von Jürgen Habermas brachte der amerikanische Philosoph Adolf Grünbaum schon 1984, auf deutsch 1988 in seinem Buch über DIE GRUNDLAGEN DER PSYCHOANALYSE heraus.

Zum Thema Habermas hier weiters noch eine Abhandlung auf dem Blog Reitschuster aus der Feder von Markus Vahlefeld, zuerst erschienen in Achse des Guten:

Der Hund, auf den der deutsche Geist gekommen ist