aus spektrum, Heft 6/1979
Klemens Dieckhöfer
Antipsychiatrie – Kurskorrektur durch die Medizingeschichte?
Vortrag gehalten auf dem Symposion ,Selbstverrständnis der deutschen Medizingeschichte anläßlich des 100. Geburtstages von Paul Diepgen vom 24 – 26.11.1978 in Berlin
Der Psychiatrie sind aufgrund ihrer leichten Verletzbarkeit viele Widersacher erwachsen, seit sie als Wissenschaft Bestand hat. In jüngster Zeit ist es eine Fülle von Schriften, von Foudraine über Basaglia bis hin zu Szasz. Auf der anderen Seite sollte gewiss die offizielle Stellungnahme der Bundesregierung über die Psychiatrie-Enquête den Verantwortlichen zu denken geben. Wie auch immer man die Dinge sieht, alle diese Schriften kennzeichnet ein appellativer Charakter, Bestehendes zu verändern. Die erschreckenden Versäumnisse werden auch in der Enquete angeprangert; die rasche Beseitigung der vielen aufgeführten Mängel wird verlangt mit Recht, das steht außer Frage. Dabei ist aber heute der Eindruck nicht zu übersehen, da8 sich vom anderen, „progressistischen“ Ufer der feuilletonistischen und Polit-Antipsychiatrie (Basaglia, Cooper, Foucault, Foudraine und Güsel Schmacke) eine Phalanx formiert, um gegen die konservative, klassische oder traditionelle Psychiatrie mit allen verfügbaren Mitteln, nicht zuletzt mit dem Hebel der angeblichen Historizität, zu Felde zu ziehen und den Psychiatern gar die zielstrebige Vernichtung des psychisch kranken Menschen anzulasten.
Man sollte meinen, daß es sich bei dem Terminus „Antipsychiatrie“ um eine Wortneuschöpfung handle. Wesentlich erscheint jedoch, daß man sich bei der Erörterung dieses Fragenkomplexes schon darüber im klaren ist, daß dieser Terminus nicht in den letzten Jahren entstanden ist, obwohl er sich zwar bis heute in keinem einschlägigen Lexikon findet. Immerhin tauchte er erstmals schon, soweit wir feststellen konnten, im Jahre 1909 auf, bezeichnenderweise damals als Schlagwort im Sachregister einer Fachzeitschrift, der im Jahre 1945 untergegangenen Psychiatrisch- Neurologischen Wochenschrift.
Die Klagen über die damals noch recht junge medizinische Fachdisziplin Psychiatrie waren offensichtlich derart häufig, dass die Redaktion der Zeitschrift sich genötigt sah, unter dem Begriff „Antipsychiatrische Literatur“ allein im Jahrgang 1909/ 10 elf Fundstellen zu Artikeln aufzuführen.
So definierte der Bayreuther Anstaltspsychiater Beyer damals die antipsychiatrische Bewegung als einen „Auswuchs des von gewissen Seiten schon lange geführten Kampfes gegen die wissenschaftliche Medizin im Allgemeinen“. Die Ausklammerung des Laien, der auf anderem Gebiet ja mitwirken könne. bspw. als Schöffe und Geschworener, dürfe gerade in der Heilkunst nicht geschehen, wo Existenz und persönliche Freiheit aufs höchste bedroht seien, hier müsse der Laie vielmehr ein gewichtiges Wort mitsprechen. So jedenfalls lautete das Glaubensbekenntnis eines Antipsychiaters namens Mellage (zit. n. Beyer,) um die Jahrhundertwende. Das erklärte Endziel, als Laie sachverständig aufzutreten und bei der Beurteilung und Behandlung psychisch Kranker mitzuwirken. spukte also schon damals in den Köpfen der hierzu „Berufenen“. Der Streit hatte sich aufgerankt an der neuen sogen. „Irrengesetzgebung“ und der darin besonders behandelten Frage zur Zwangseinweisung bei Zurechnungsunfähigkeit. Die Heilanstalt wurde mithin noch als Gefangenenanstalt verkannt. In konsequenter Vermeidehaltung wurden solche Fortschritte negiert, die über das lange zuvor schon eingeführte Non-Restraint-Prinzip hinausgingen, also probeweise Beurlaubungen und frühe Entlassungen, um eine Dauerasylierung zu verhindern.
Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit gehört zweifellos zu den wichtigsten und praktisch bedeutsamsten der forensischen Psychiatrie. Der Antipsychiater Szasz lehnt eine solche Zurechnungsunfähigkeit, wie sie von Psychiatern diagnostiziert werde, als Anmaßung ab. Sein geschichtlicher Hinweis, dass diese erstmals in England unter der Regierung Eduards I. (1272 – 1307) zum Tragen gekommen sei, bedarf in diesem Zusammenhang der Korrektur. So kannte schon das römische Recht Straffreiheit, wenn bei dem Angeschuldigten Unfähigkeit zu schuldhaftem Handeln gegeben war. Eine Unzurechnungsfähigkeit lag im römischen Altertum vor bei der „insania“ und dem „furor“, den Cicero (Tusc. III, 5, 11) unter Berufung auf die XII Tafeln als ,,ad omnia cae- citatem“ betrachtet und von einer eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit, der „stultitia“ (diese gewährleistet noch eine „Mittelmäßigkeit gegenüber den Pflichten“) unterscheidet (Trabert).
Scipion Pinel, dem ersten im Pariser Bicêtre angestellten Arzt, wird bekanntlich gerne die Befreiung der Geisteskranken (25.5.1793) in der Französischen Revolution zugeschrieben. Der Strukturalist Foucault hat diese bedeutende, wenn auch insgesamt bescheidene Umwandlung eines Gefängnisses in eine hinlänglich menschenwürdige Krankenanstalt (man bedenke doch: er löste lediglich innerhalb von 4 Jahren 40 Kranken die Fesseln) als ein erzwungenes Tarnungsmanöver hingestellt, das zur Irreführung der Erhebungen von Staats wegen aufgrund der Beschwerden der Gefangenen vorge- nommen worden sei. Diese Behauptung konnte jedoch Daumezon entkräften. Dennoch blieb insgesamt der Makel an dem Wort „Anstalt“ haften, was bis in unsere Tage mit ,,Einsperrung“ identifiziert wird. Daran ändert auch nichts der Hinweis, dass eigentlich schon fast 400 Jahre früher die symbolische Tat Pinels ein Spanier vollbracht hatte: Pater Juan Gilabert Jofre im Jahre 1409 durch Eröffnung des „Hospital de Inocentes“ in Valencia (Dieckhöfer).
Die Entwicklung der Anstalten ließ ja um die Wende zum 20. Jahrhundert einen kontinuierlichen Aufwärtstrend erkennen: Konnte man ursprünglich nur von „Tobhäusern“ sprechen — erinnert sei an den Narrenturm in Wien —, so folgte diesen die geschlossene Anstalt, die ihrerseits bald abgelöst wurde von der agricolen Anstalt mit offenen Abteilungen und ausgedehnter, überwiegend landwirtschaftlicher Betätigung der Kranken sowie einer angestrebten frühen Entlassung ihrer Patienten (Bleuler).
An diesen historischen Tatsachen, die als geschichtliche Ereignisse auch geschichtliche Bedeutsamkeit erlangt haben, wird man nicht vorbeikommen und mit E. Meyer (zit. n. Diehmer) feststellen müssen; Historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist“.
War das Geschichtsbewußtsein unter den aktebn Vertretern der Antipsychiatrie offensichtlich schon nicht sehr ausgeprägt, so scheint auch für viele der heutigen Repräsentanten aus diesem Lager die Wissenschaftsgeschichte erst mit dem eigenen Eintritt ins Schulalter zu beginnen. Wie kommt es sonst, daß die von Kolb so wesentlich geförderte Familienpflege ebensowenig bei den damals schon polemisierenden wie heute agierenden Vertretern der Antipsychiatrie keine Berücksichtigung finden konnte? Die Famlienpflege wurde vor dem 1. Weltkrieg für den Reknvasezeenten als natürliches Übergangsstadium zu eingliederung in den Alltag weithin empfohlen. Zu ihrem Befürwortern zählte u.a. auch der Russe Korsakoff (zit. n. Kolb). Der Anstaltspsychiater Kolb hatte entgegen alllen heutigen Unkenrufen der Linken schon 1911 darauf verwiesen, daß die schönste Anstalt nur ein Notbehelf für den psychisch Kranken sei und die Mehrzahl der Patienten sich in der einfachsten Familienpflege wohler fühle.
Wenn der Erlanger Psychiater G. Specht (1860—1940) (22) im gleichen Jahre 1911 schon davor warnte, das klinische Studium bei den Familienpfleglingen nicht zu vernachlässigen und die Kranken nicht nach Art einer Oberpfleger- Psychiatrie im Hinblick auf eine passable Führung und Arbeitsfähigkeit zu beurteilen, so antizipierten solche Bedenken schon die Antwort auf etwaige Vorwürfe aus der neuen Linken der Jetztzeit, die den Erfolg eines Familienpflegesystems einer repressiv-kapitalistischen Ära nur effizient in Bezug auf eine bessere Kosten-Nutzenverteilung bei überfüllten Anstalten zu sehen gewillt sind. Den gläubigen Schülern der Antipsychiatrie wird verschwiegen, dass die Periode zwischen den beiden Weltkriegen in Deutschland zur Blütezeit sozial-psychiatrischer Aktivitäten (erinnert sei an H. Simon) rechnet, die sie in ihrer Breite, wie Glatzel auch hervorhebt, bis heute nicht mehr erreicht hat.
Mit ideologischer Blindheit geschlagen zu sein scheint eine Gruppe von Bonner studentischen Vertretern der Antipsychiatrie, die in ihrer Broschüre „Kritik der klassischen Psychiatrie“ mit wissenschaftlicher Polemik geschichtliche Entwicklungen aufzeigten, die beim Namen genannt werden müssen. So wird Emil Kraepelin (1856—1926), der sich zwar hinsichtlich seiner. Persönlichkeit am autoritären Ordnungsstaat des Kaiserreiches orientierte und dessen gesellschaftspolitischen Erfordernissen er sich mit patriotischer Haltung nicht entziehen wollte, – dieser Kraepelin wird mit den Worten: „Es ist verkürzt, zu sagen, dass Kraepelins Theorie diese Morde (gemeint ist das NS-Euthanasieprogramm ,Aktion T 4’), die sich im Gegensatz zu den Judenmorden hinter verschlossenen Türen ereigneten, verschuldet hat“ zum Helfershelfer des späteren NS-Regimes gestempelt und als Wegbereiter der NS-Tötungskampagnen von psychisch Kranken deklariert.
Im Namen der Antipsychiatrie („Das Elend mit der Psyche“) berichteten Kursbuchautoren über die Psychiatrie in der UdSSR und in der VR China. Mit dem Hinweis darauf, dass eine polit-ökonomische Analyse nötig sei, um den psychiatrischen Krankheitsbegriff in sozialistischen Ländern zu erläutern – was den Rahmen des Themas jedoch sprengen würde -, konnte man geschickt die Darstellung und Erörterung des bekannten umfangreichen Materials der Amnesty International (Bloch und Reddaway legten 1977 eine zusammenfassende Dokumentation vor) aus verständlichen ideologischen Gründen schlichtweg eliminieren.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie einseitig sich das Bild der Antipsychiatrie darbietet, wobei anmaßender psychiatrischer Laienverstand eine ebenso deletäre Rolle spielt wie mitunter die Tatsache jeglicher Ignoranz in historicis auf der Seite der antipsychiatrischen Mediziner selbst. Werden Daten aus der Geschichte der Psychiatrie aber genannt, so gebricht es meist an ihrer objektiven, vollständigen Berichterstattung, die alleine für eine wissenschaftliche Analyse nur maßgeblich sein kann.
Die Frage „Antipsychiatrie – Kurskorrektur durch die Medizingeschichte?“ wird hier besonders deutlich. Wenn Wegelin forderte, für die Geschichte habe die Individualpsychologie die Grundlage zu bilden, so sollte dies gerade gegenüber den angeschuldigten Psychiatern und den gegen sie gerichteten Vorwürfen nachdenklich stimmen – gewiss kann diese Feststellung a priori kein Plädoyer pro reo sein. Die Geschichte müsse den Gründen nachgehen, um eine „histoire raisonnee“ zu werden, hören wir bei Wegelin. Motive und Ziele der handelnden Personen müssen uns klar vor Augen stehen. Die Antipsychiatrie gleich welcher Provenienz zeichnet sich aber dadurch aus, dass ihr wissenschaftlicher Standort nicht erkennbar wird, geschweige denn der Geist der einzelnen, der sie formiert. Bei dem komplexen Problem der Geschichte jedoch, deren Inhalt bekanntlich von Tatsachen und menschlichen Handlungen geprägt ist, wird man an York v. Wartenburgs These nicht vorbeikommen, dass nämlich Psychologie der Geschichte Geschichte als Wissenschaft sei. Und mit Dilthey können wir festhalten: „Aus dem liebevollen Verständnis des Persönlichen, im Nacherleben der unerschöpflichen Totalitäten… entspringen so die großen historischen Schöpfungen“. Trifft also die Antipsychiatrie auf Psychiater, die Geschichte machten, so wird sie der geschichtlichen Fragestellung nur mit dem Mittel der Einfühlung in die Persönlichkeit des Menschen gerecht werden können. Nicht nur die Frage „wie es war“, sondern das „wie es kam“ ist für die Erforschung, zumal der Psychiatriegeschichte. von eminenter Wichtigkeit. Nur diejenige Form der Antipsychiatrie, die in ihrer historischen Gerichtetheit die Reaktionen aus allen Außen- und Innenumständen aufgreift und sich somit der verstehenden Psychologie i. S. von Gruhle bedient, kann ihren wissenschaftlich begründeten Standort vertreten. Damit soll gewiss keine absolute Deutung oder Rekonstruktion der Vergangenheit festgeschrieben werden.
Wenn Bourguignon glaubt, dass den Ketten der Geisteskranken im 18. Jahrhundert die Zwangsjacke im 19. Jahrhundert und heutzutage die „chemische Keule“ als künstliches Mittel der Bannung gefolgt seien und eher der Narr vom Priester als vom Psychiater gehört und verstanden werden solle, so bedeutet dies eine der vielen pseudoromantischen Verirrungen, wie sie in der Antipsychiatrie ihre Blüten treiben.
Um so mehr ist die Psychiatrie unserer Tage in Berücksichtigung ihres geschichtlichen Werdeganges um mit Schipkowensky zu sprechen, aufgerufen, ihre Patienten weder auf iatropsychogenem noch auf iatrosomatischem Wege zu schädigen.
Erhebt die Antipsychiatrie aber den Anspruch der Wissenschaftlichkeit — womit sie auch der Medizingeschichte zugänglich würde —, so mag man sich mit einer Maxime (XIII, 821) Goethes (16) trösten:
„Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück“.
Literatur beim Verfasser
Prof. Dr. Klemens Dieckhöfer
Oberarzt der Universitäts- Nervenklinik
Wissenschaftlicher Mitarbeiter des medizinhistorischen Instituts
Sigmund- Freud- Str. 25
Bonn