Klaus Schlagmann

Persönliche Stile in Psychoanalysen“ –
Bemerkungen zu einem ihrer derzeit führenden Vertreter

anläßlich einer Fachtagung an der „International Psychoanalytic University“ in Berlin, Allerheiligen 2013

Zusammenfassung:

Klaus Schlagmann unterzieht den Aufsatz eines Fachmannes, der als einer der berühmtesten Psychoanalytiker der Welt gilt (Otto F. Kernberg), einer gründlichen Analyse. In dem Aufsatz wird z.B. der Fall einer Frau besprochen, die an Depressionen leidet. Sie hatte als Grundschülerin von (unkonkret) „unter 10 Jahren“ sexualisierte Gewalt von Seiten ihres Vaters erlebt. Kernberg unterstellt ihr, sie habe diese Situation „in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt und sie müsse „ihre Schuld tolerieren“. Dieses (berechtigte) Schuldgefühl sei der Ursprung ihrer Depression. Diesem Gewaltopfern wird in Kernbergs „Therapie“ sogar zugemutet, dass sie lernen müsse, sich mit der sexuellen Erregung des sadistischen Vaters zu „identifizieren“.

 Diese Art von Therapie läuft auf eine glatte Opferbeschuldigung hinaus und muss geradezu bei den Betroffenen Schaden anrichten! Schlagmann kennt aus der Literatur, aus Darstellungen im Internet oder auch aus eigener Praxis Fälle, in denen es zu schädlichen Entwicklungen nach entsprechenden Opferbeschuldigungen gekommen ist. Er fordert deshalb von verantwortlichen PolitikerInnen die Einrichtung eines „Runden Tisch Psychotherapie-„Opfer“.

Professor Otto  F. Kernberg eröffnete an Allerheiligen 2013 am Berliner Privatinstitut „International Psychoanalytic University“ (IPU) die Fachtagung „Persönliche Stile in Psychoanalysen“ . In seinen Therapien hat er es mit Menschen zu tun, die schwerstes Leid erfahren haben: Sie ha- ben eventuell Folter, KZ-Haft, politischen Terror, Vergewaltigung oder sexualisierte Gewalt im Kindesalter überlebt. Inwiefern ist nun gerade Kernbergs „persönlicher Stil“ dazu angetan, solche KlientInnen vor weiterem Leid, vor Verzweiflung oder gar Suizidimpulsen zu bewahren?

Wenn Kernberg von einem Opfer von Folter, KZ-Haft oder Vergewaltigung gefragt wird: „Glauben Sie mir nicht? Sind Sie nicht meiner Meinung? War das nicht entsetzlich?“ – was, glauben Sie, ist aus seiner Sicht die therapeutisch korrekte Antwort?

Möglichkeit A: „Ja, natürlich glaube ich Ihnen! Und ich bin ganz Ihrer Meinung! Die entsetzlichen Erlebnisse, die Sie schildern, erschüttern mich selbst zutiefst! Ich empfinde aufrichtiges Mitleid!“

Möglichkeit B: „Warum brauchen Sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?“

Im Rahmen seiner mit Fortbildungspunkten honorierten Lehre empfiehlt Kernberg die (wörtlich zitierte) Antwort B. Begründung: „Es ist wichtig – ich zitiere da Freud in einem Brief von 1916 an Pfister – dass wir uns vor Mitleid schützen. Wie Sie wissen, ist Mitleid sublimierte Aggression.“

Und nicht nur das: Während es (angeblich) ein Zeichen von Aggression sein soll, mit KlientInnen Mitleid zu haben, ist es umgekehrt – nach Kernberg – heilsam, wenn sich TherapeutInnen mit TäterInnen identifizieren: „Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, …“

Und, halten Sie sich gut fest, für Kernberg ist es Ausdruck einer gelungenen Therapie, wenn er selbst, als Therapeut, solche Täter-Aggressionen gegenüber seinen PatientInnen empfindet. Originalton: „Wenn alles gut geht, dann gibt es Momente, in denen wir sie [unsere KlientInnen; K.S.] am liebsten aus dem Fenster werfen würden, besonders wenn unser Büro im 80. Stock liegt, und dann langsam und freudevoll lauschen, bis wir unten ein leises ‚Plopp’ hören.“ – Lautes Gelächter im Publikum. – „Ich meine das ganz ernst!“ Das fürchte ich auch. Aber die Voll- versammlung von über eintausend „ExpertInnen“ bei den „Lindauer Psychotherapiewochen“ von 1997 lacht erneut. Das entlarvende Tondokument ist bis heute bei „Auditorium Netzwerk“, Müllheim, erhältlich. 1999 wurde der Vortragstext (leicht abgeändert) unter der Überschrift „Persön- lichkeitsentwicklung und Trauma“ in der von Kernberg mit herausgegebenen Fachzeitschrift „Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie“ (PTT), 1, 5-15, beim Verlag Schattauer publiziert. Sämtliche hier angeführten Zitate – mit Ausnahme der obigen, von mir selbst formulier- ten „Möglichkeit A“ – sind wörtlich diesen beiden Publikationen entnommen.

Warum sollte es aber wichtig sein, dass PsychotherapeutInnen sich mit Unmenschen wie KZ- Kommandanten, Folterknechten, inzestuösen und sadistischen Eltern zu „identifizieren“ verste- hen? Nun, es ist angeblich aus irgendeinem – mir von Kernberg nirgendwo plausibel gemachten – Grund erforderlich für die Heilung von Opfern extremer Gewalt, „sich mit dem Täter zu identifizieren“. Anscheinend sollen TherapeutInnen mit gutem Beispiel vorangehen, um KlientInnen diesen Prozess zu erleichtern.

Ein Fallbeispiel von Kernberg: Er erzählt von einer Frau, die von Seiten ihres Vaters, einer „anti- sozialen Persönlichkeit“, sexualisierte Gewalt erlebt hatte, und zwar im Alter von unter zehn Jahren. (Das Alter wird nicht näher konkretisiert, als wäre es völlig unerheblich, ob Derartiges im Alter von 2, 6 oder 8 Jahren geschieht.) „Sie hatte in typischer Weise das Verhalten des Vaters in vielfältiger Art erlebt, als brutalen Eingriff und Verletzung ihrer physischen Identität, … und als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter. Dieses letztere Element war natürlich vollkommen unbewusst und mit schweren Schuldgefühlen verbunden, die in ihrer masochistischen Persönlichkeit zum Ausdruck kamen und sie sich so ihr ganzes Leben wegen dieser ödipalen Schuld opfern ließ. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen musste, konn- te sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewussten und jetzt bewussten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren.“

Eine Grundschülerin erlebt die Vergewaltigung durch ihren Vater also als einen „sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“; dabei lädt sie „(ödipale) Schuld“ auf sich, die sie später „tolerieren“ muss; ihr Triumphgefühl ist ihr zunächst „unbewusst“; und nur ein geschulter Psychoanalytiker wie Otto Kernberg versteht sich darauf, ihre unbewussten Impulse zu entschlüsseln; die Aufgabe der Psychoanalyse ist es, ihr ihre alten Schweinereien bewusst zu machen. Das soll ihr helfen, sich mit den eigenen Verfehlung zurechtzufinden; dadurch kann sie sich endlich selbst als Handelnde erleben und die Opferrolle verlassen: Mit dem Zauberwort „unbewusst“ versucht die Psychoanalyse seit über 100 Jahren selbstzufrieden, ihre unselige Pseudo-Argumentation gegen jeden Widerspruch und jede Kritik von außen zu immunisieren.

Das (angeblich) fruchtbare Ergebnis seiner Arbeit mit diesem Opfer frühkindlicher Erfahrung von sexualisierter Gewalt sieht Kernberg so: „Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Hass gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden.“ Mit welchem Trick es Herrn Kernberg tatsächlich gelungen ist, seine Klientin dazu zu bewegen, sich „mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters“ zu identifizieren (was auch immer das heißen möge), das hat er nicht wirklich verraten. Er offenbart auch nicht, ob und wie lange die Frau diese Art von „Therapie“ überlebt hat, oder ob sie sich nicht vielleicht danach in noch größerer Verzweiflung umgebracht hat.

Suizid während einer psychoanalytischen Behandlung scheint übrigens keine Seltenheit zu sein. Dörte v. Drigalski beschreibt in ihrem Buch „Blumen auf Granit“ die Erfahrungen ihrer Lehranalyse (= psychoanalytische Behandlung, die ein Mediziner oder Psychologe erfolgreich über sich ergehen lassen muss als eine von mehreren Voraussetzungen, um selbst diese Art von Therapie durchführen zu dürfen). Sie erwähnt dort, dass sich während ihrer Ausbildung insgesamt vier ihrer AusbildungskollegInnen das Leben genommen hatten. Ihre Appelle an AusbilderInnen, diese Suizide einmal gründlich zu untersuchen, wurden nicht aufgegriffen.

V. Drigalskis Bericht ist geradezu quälend zu lesen. Sie muss eine Kette von Missverständnis- sen, Missdeutungen oder Entwertungen von Seiten ihres Lehrtherapeuten über sich ergehen lassen. Da, wo sich v. Drigalski – sie arbeitet damals als Kinderärztin – z.B. mustergültig für das Wohl ihrer Klientel engagiert und dagegen aufbegehrt, dass ihr Appell an ihren Vorgesetzten zum Einschreiten abgeschmettert wird, da wird ihr dies von ihrem „Lehrtherapeuten“ – in permanenter Umdeutung und Opferbeschuldigung – als Rivalisieren oder Kastrationswunsch ge- genüber dem Chef ausgelegt. Am Ende war die ganze kostspielige „Ausbildung“ (für zigtausende von DM) wertlos. Der Ärztin wurde nach ca. fünf Jahren das Scheitern ihrer Lehranalyse attestiert, die entsprechende Lizenz zum Durchführen von Psychoanalysen wurde ihr nicht erteilt.

In einem jüngst erschienen Artikel von Günter Bittner „Psychoanalyse als Bildungserfahrung“ (in Boothe & Schneider [Hg.]: „Die Psychoanalyse und ihre Bildung“, 2013) geht dieser etwas näher auf die „Blumen auf Granit“ ein. Ohne ein wirkliches Verständnis für die dort geschilderten Zustände zu entwickeln, resümiert Bittner: „Bildungserfahrungen in meinem Verständnis sind ja nicht nur positive, sondern alle, die den Weg eines Lebens bestimmt haben.“ Statt sich ernsthaft mit den Mechanismen schädigender Psychoanalyse auseinanderzusetzen, verpasst Bittner dieser katastrophalen Geschichte ein Etikett, das das Geschehen brutal verharmlost: „Bildungserfahrungen“! Wer sich ein wenig in der Literatur oder im Internet umsieht, wird leicht mehr Material zu solchen makaberen, den Lebensweg prägenden „Bildungserfahrungen“ vorfinden.

Als Kernberg von einer solchen „Bildungserfahrung“ berichtet, die mit dem Selbstmord der Pati- entin seiner Klinik endet, da bringt er sein Publikum zweimal zu herzhaftem Lachen. Es geht um eine Frau mit (angeblich) antisozialer Persönlichkeit, die (Originalton) „unter Inzest litt, dessen [sic] Vater sie sexuell missbrauchte, mit schweren Depressionen und Selbstmordversuchen, die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn zu sich nach Hause unter Bedrohung schwerer Selbstmord [sic], empfing ihn im Negligé, und nur er konnte sie retten – ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzisstischen Problemen, und eh“ – explosives Gelächter im Publikum, erheiterte Nachfrage von Kernberg: „Ist das hier ungewöhnlich?“, erneut schallendes Ge- lächter – „Und ehm – äh – hahh – und äh, äh – der – nach – sie schrieb – sie hatte ein Tagebuch, und sie hatte auch eine homosexuelle Freundin, sie beging Selbstmord, sandte das Ta- gebuch mit einer genauen Beschreibung des sexuellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten dieser homosexuellen Freundin, die dann ein Gerichtsverfahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete. Also, Sie sehen, wie sie im Tode sich noch r…[ächte?; K.S.], wie sie Opfer und Täter zugleich wurde.“

Es ist schon ein sehr persönlicher – oder wohl besser: ein ganz miserabler – Stil, in dem Kernberg seine „Analyse“ hier vorträgt, bei der m.E. erst einmal jede Menge Fragen aufgeworfen werden, die unbeantwortet bleiben. Es fehlt dabei jeglicher Ansatz, das Verhalten des „jungen Psychiaters in Ausbildung“ tiefergehend kritisch aufzuarbeiten. Die Hauptschuld an dem verhängnisvollen Geschehen wird nicht etwa dem „Fachmann“ zugemessen, der sich in Ausübung seines Berufes befindet und dafür bezahlt wird, sondern vor allem der Klientin selbst.

Diese Fallanalyse greifen Gerhard Dammann und Benigna Gerisch in ihrem Artikel „Narzissti- sche Persönlichkeitsstörung und Suizidalität: Behandlungsschwierigkeiten aus psychodynami- scher Perspektive“ noch im Jahr 2005 unkritisch auf (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 156, 6, 299-309). Frau Prof. Gerisch ist Dozentin am „International Psychoanalytic Institute“, Berlin, das Kernberg als Eröffnungsredner zu Allerheiligen eingeladen hat. Unter der Zwischenüberschrift: „Destruktiver Narzissmus – ein Sonderfall“ (S. 302) texten die AutorInnen: „Eine 34jährige Patientin mit einer destruktiv narzisstischen Persönlichkeitsstörung begann we- gen Leeregefühlen, zeitweiligem Alkoholabusus, Beziehungsproblemen mit ihrer lesbischen Freundin und rezidivierenden suizidalen Phasen eine tiefenpsychologisch fundierte Psychothe- rapie. Nach bereits kurzer Zeit ging es ihr, ihrem Gefühl nach, viel besser, und sie setzte sich zum Ziel, mit ihrem Psychotherapeuten eine Affäre zu beginnen. Seine offensichtliche Unkorrumpierbarkeit, seine intakt erscheinenden Familienverhältnisse und die Tatsache, dass er für sie wie nicht erreichbar schien, reizten sie und ihren Neid dabei besonders. Bald sah sie nur noch in diesem Ziel, ihn zu gewinnen, den einzigen Grund in die Therapiestunden zu kommen. Die Patientin unternahm relativ drastische und eindeutige Anstrengungen, um den Therapeuten zu verführen, bis ihr dieses schließlich auch gelang. … Allerdings beendete der Therapeut bereits nach kurzer Zeit die Beziehung zu ihr, aus Angst davor, seinen familiären Rückhalt zu verlieren, aber auch infolge eigener ethischer Bedenken, nachdem er bereits zuvor die Therapie beendet hatte. Die Patientin geriet darauf hin in eine schwere Krise, fühlte sich verraten, weg- geworfen und von ihrem Therapeuten missbraucht. Sie unternahm dringliche Versuche, ihn als Liebhaber oder zumindest als Therapeut zurückzugewinnen. Nachdem diese Versuche nicht fruchteten, tyrannisierte sie ihn mit Telefonterror. Schließlich suizidierte sie sich und hinterließ einen Abschiedsbrief an ihre geschockte Freundin, aus dem hervorging, dass sie von ihrem Therapeuten sexuell missbraucht worden sei, was sie dadurch belegte, dass sie dem Schreiben den einzigen Liebesbrief, den sie von dem Psychotherapeuten erhalten hatte, beilegte.“

Im anschließenden Abschnitt heißt es: „Dieser von Otto F. Kernberg beschriebenen Patientin war es offensichtlich unerträglich, die unabhängige Existenz des Analytikers und die eigene be- dürftige Abhängigkeit von ihm anerkennen zu müssen, was sich in dem intensiven Neid zeigt. Statt sich damit auseinanderzusetzen, suchte sie jedoch im Agieren Bestätigung, wobei der Therapeut sich auf eine dramatische, skandalöse und suizidbegünstigende Art und Weise mit der Patientin verstrickt hatte, eine Gefahr, die gerade bei diesen Patienten besonders groß ist. Der Suizid ist hier Ausdruck des destruktiven Hasses gegen andere und gegen sich selbst.“ Der Halbsatz zum Versagen des Therapeuten und zu seiner „dramatischen“ (?), „skandalösen“ und (abschwächend) „suizidbegünstigenden“ Art und Weise der „Verstrickung mit der Patientin“ hat wohl reine Alibifunktion, sonst wäre er nicht mit Sätzen eingerahmt, die das Opfer weiter diffamieren („intensiver Neid“, „bedürftige Abhängigkeit“, „destruktiver Hass“).

In dem Absatz, der dieser Falldarstellung unmittelbar vorausgeht, wird zum einen auf Kernbergs „Severe Personality Disorders“ (dt.: „Schwere Persönlichkeitsstörungen“) von 1984 Bezug ge- nommen, zum anderen geben die AutorInnen in dem gerade zitierten Nachsatz an, dass es sich um eine „von Otto F. Kernberg beschriebene Patientin“ handelt. Aber in dem Referenzwerk von Kernberg (1984) finde ich unter den (wörtlich gemeint) von A bis Z durchbuchstabierten Fallbeispielen kein einziges, das von einem solchen Suizid und seinen Begleitumständen berichtet. (Allerdings werden dort durchaus Patientinnen „beschrieben“, z.B. unter L bis N, denen im weiteren Verlauf ihrer „Behandlung“ das geschilderte Elend widerfahren sein könnte.) Auch in zwei anderen Kernberg-Werken, auf die sich die AutorInnen an anderer Stelle ihres Aufsatzes bezie- hen, habe ich eine entsprechende Falldarstellung nicht gefunden. Es würde mich nun also interessieren, woher sie all ihr „Wissen“ beziehen über die (angeblichen) Beweggründe der Klientin bei ihrer fiesen Attacke auf den bedauernswerten Therapeuten. Und ich würde gerne etwas näheren Aufschluss über die Gegenseite bekommen, z.B. über den Inhalt dieses Liebesbriefes des Therapeuten von „offensichtlicher Unkorrumpierbarkeit“. Darüber hinaus wüsste ich gern, wie der Therapeut seine „ethischen Bedenken“ genau formuliert hatte. Zusammen mit Informationen zu etlichen anderen offenen Punkten könnte ich dann vielleicht besser beurteilen, ob ich mich mehr mit dem (angeblichen) „destruktiven Narzissmus“ der Klientin, oder aber mit dem massiv schädigenden, verantwortungslosen Verhalten des Therapeuten beschäftigen sollte. Bezüglich der für mich wissenswerten Details hüllen sich jedoch die AutorInnen in Schweigen, obwohl sie über die Hintergründe präzise informiert zu sein scheinen. Stattdessen befleißigen sie sich einer gänzlich unprofessionellen Diffamierung und Verhöhnung eines Menschen, der sich während seiner Therapie suizidiert hat. Angesichts dieser Umstände gehe ich davon aus, dass die geschilderte Frau nur wegen einer völlig missratenen, unangemessenen „Behandlung“ zu ihrem Selbstmord getrieben worden ist, und dass ihr Therapeut weit davon entfernt war, sein Bestes zu tun, um ihrer Verzweiflung effektiv entgegenzuwirken.

Übrigens: Im Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter in den psychiatri- schen Diensten Thurgau an den Regierungsrat des Kantons vom 17.11.2010, verabschiedet am 12.04.2011, werden die Zustände in der Klinik Münsterlingen untersucht, in der Gerhard Damm- mann als Spitaldirektor und Ärztlicher Direktor tätig ist. In dem Bericht wird von einer Häufung von Suiziden zwischen September 2009 und März 2010 berichtet: Insgesamt hatten sich in ca. einem halben Jahr 8 PatientInnen das Leben genommen (sonstiger Durchschnitt: 2-4). Es wäre interessant zu ergründen, ob das so offensichtlich abschätzige Umgehen des Münsterlinger Spitaldirektors mit Patientensuizid, wie er es in seinem Fachartikel dokumentiert, diese Entwicklung begünstigt hatte.

Aber noch einmal zurück zu dem sehr „persönlichen Stil“ von Professor Kernbergs Psychoanalysen: „Ich spreche hier von einem Mann, der als einziger Überlebender seiner ganzen Familie als Kind im Alter von 12 Jahren [im mündlichen Vortrag heißt es: 8 Jahren; K.S.] aus dem Kon- zentrationslager befreit wurde, in dem seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet wurde“ (Kernberg, 1999, S. 9). Wer könnte unberührt bleiben von dem, was sich hinter dieser lapidaren Schilderung an Elend und Leid verbergen muss, wenn man sich aufgrund dieses einen Satzes nur für einen kurzen Moment in die Situation dieses Kindes hineinversetzt?

Ohne jedoch näher auf die massiv traumatisierende Erfahrung dieses Kindes einzugehen, glei- tet Kernberg mit wenigen Worten zu dessen Auffälligkeiten im Erwachsenenalter über, was im folgenden Satz mündet: „Die Untersuchung dieses Patienten und seiner Familie ergab ein erschreckendes Bild eines Mannes, der ein absoluter Diktator seiner Familie war, seine Tochter in ihrer Kindheit sexuell vergewaltigt hatte, verhinderte, dass sich seine Söhne von ihm unabhängig machen konnten und seine Frau wie eine Sklavin behandelte“. [Im Vortrag ist von zwei Töchtern und einem Sohn die Rede.] Sehr gut kann ich mir vorstellen, dass die geschilderten Extremerfahrungen im KZ das Seelenleben dieses Jungen und sein (offenbar problematisches) Verhalten geprägt haben, dass diese Erfahrungen noch viel später sein Leben überschattet und auch seine Familie in Mitleidenschaft gezogen haben. Mit keiner Silbe wird jedoch der Dynamik einer solchen Entwicklung im Detail nachgegangen. Vielmehr zieht Kernberg ein plumpes Re- sümee: „Ich übertreibe nicht, wenn ich meinen Eindruck wiedergebe, dass dieser Mann sich seiner Familie gegenüber so verhielt, als ob er der Kommandant des Konzentrationslagers sei, in dem seine ganze Familie ermordet wurde.“ Verhöhnt nicht eine solche Gleichsetzung von Opfer und Täter in unerträglichem Maß alle Menschen, die die Hölle eines KZs nur mit schwersten seelischen Blessuren überlebt haben?

Die Argumentation ist aber noch perfider: Ein Schlüsselbegriff ist für Kernberg die „chronische Aggression“. Er weiß (angeblich), wie sie sich entwickelt: Nämlich allein aus der „oralen Wut“ bzw. aus dem „oralen Neid“ des Säuglings. So ist es für Kernberg im Fall dieses Klienten erwie- sen (der ja seiner Familie gegenüber solch „chronische Aggression“ zeigt), dass er seine Verhaltensstörung nicht etwa im KZ bei der Ermordung seiner ganzen Familie entwickelt hat, son- dern als Säugling, während des Gestillt-Werdens. Seinen Hass und seine chronische Aggression bringt er als Kind in das KZ mit hinein.

Während Kernberg die Situation an der Mutterbrust bedenkenlos für lebenslange massive Ver- haltensstörungen verantwortlich macht, sieht er die Wirkung einer ganz anderen Klasse von Ereignissen – „Konzentrationslager, Kriegsneurosen [sic], schwere Unfälle, Vergewaltigung, Geiselnahme, politischer Terror, Folter, andere Formen schwerer physischer und sexueller Misshandlung, besonders in den frühen Kinderjahren, in den ersten zehn oder fünfzehn Jahren des Lebens“ – als vergleichsweise harmlos an. Die Wirkung solcher Traumata, so will Kernberg uns einreden, sei relativ überschaubar: „Das posttraumatische Stresssyndrom ist ein Syndrom, das allen schweren Traumata [den gerade aufgelisteten; K.S.] gemeinsam ist.“ Es sei charakterisiert durch „Angstzustände, Einschränkung der Ich-Funktionen, Wutausbrüche, wiederkehren- de Alpträume und Flash-backs“. Originalton: „Und dieses Syndrom dauert im Allgemeinen zwei bis drei Jahre und hat die Tendenz, langsam zu verschwinden.“ Der aus dem KZ befreite Acht- jährige hätte also – so der „Fachmann“ – eigentlich spätestens ab seinem elften Lebensjahr wieder ein ganz normales Leben führen können – wenn, ja, wenn er nicht als Säugling so schrecklich darin versagt hätte, seine orale Wut zu bezähmen!

Interessant, dass eine ähnliche Argumentation schon der Psychiater Ernst Kretschmer gepflegt hatte. Kretschmer und andere dem Nationalsozialismus nahe stehende Psychiater hatten im schönen Lindau die dortigen Psychotherapiewochen begründet. In Philipp Mettauers Studie „Vergessen und Erinnern“ (2010) über die Gründungsväter der Lindauer Psychotherapiewochen heißt es: „1955 attestierte Ernst Kretschmer als Gutachter in einem ‚Wiedergutmachungsverfah- ren’ eines an Depressionen leidenden Verfolgten des NS-Regimes, ohne diesen jemals gese- hen zu haben, dass es keine verfolgungsbedingten Neurosen gäbe, da die ‚Ausgleichsfähigkeit des Organismus bei schweren psychischen Traumen’ unbegrenzt sei.“ Schwer­ste Gewalterfahrungen führen also nicht zu Depressionen. Sie sind vielmehr aufgrund entsprechender Konstitution von Geburt an angelegt. (Das Gericht sei zwar der Position Kretschmers nicht gefolgt, sein Gutachten habe jedoch Eingang in juristische Kommentare gefunden.)

Es bestärkt also eine Lindauer Tradition, wenn Otto Kernberg ausgerechnet hier seine Lehren präsentiert. Auch das Jahr, in dem er die „Lindauer Thesen“ verkündet (1997), ist sicherlich mit Bedacht gewählt: In diesem Jahr feiert Sigmund Freuds „Ödipuskomplex“ sein hundertjähriges Bestehen. Offensichtlich soll Kernbergs Vortrag damals bekräftigen, was Freud 100 Jahre zuvor als angeblich universelle Kinderperversion aus dem antiken Mythos abgeleitet und zum Dogma erhoben hatte. (Im selben Jahr wird Kernberg zum Präsidenten der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ gewählt, also gewissermaßen zum Nachfolger auf Freuds Thron.)

Eine Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels systematischer, therapeutisch verbrämter Opferbe- schuldigung, auf das ich – neben anderen AutorInnen – seit bald 20 Jahren innerhalb der psy- chotherapeutischen Zunft hinzuweisen versuche, wurde bislang strikt verweigert. Die Ungeheu- erlichkeit dieser Vorgänge übertrifft m.E. den Skandal um die Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Kirchen, Internaten und Heimen bei weitem: Selten – mit Ausnahme vielleicht in der Ideologie der Wandervögel (Christian Füller: „Päderasten in der Jugendbewe- gung. Wandern und vögeln“, taz v. 11.06.2013) – wurden so offen die Urheber von (sexualisierter) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche so drastisch entschuldet. Kaum anderswo werden Opfer von brutalster Gewalt ausdrücklich auf sich selbst zurückgeworfen. Wohl nirgendwo sonst wird eine solche Einstellung als heilsame Therapie verkauft, wird ein solch brutaler geistiger Sadismus als „persönlicher Stil“ oder „Bildungserfahrung“ schöngeredet.

Nun soll Otto Kernberg an Allerheiligen eine Fortbildung an der Berliner „International Psycho- anlytic University“ eröffnen. Für die lernbegierigen Besucher gibt es fürs Zuhören Fortbildungspunkte von der Ärztekammer. Viele Menschen gedenken an diesem Tag ihrer Toten. Manche davon gingen an einem sehr persönlichen Stil ihrer Psychotherapie zugrunde. Kernbergs geplanter Auftritt in Berlin könnte der Öffentlichkeit Anlass geben, der Opfer verfehlter Psychotherapie zu gedenken. Er sollte ein Anstoß sein, in einer Art und Weise all dieser Verletzten und Toten zu gedenken, wie es in Bezug auf die Opfer von „sexuellem Kindesmißbrauch“ und „Heimunterbringung“ versucht worden ist – damit in Zukunft weiteres Elend möglichst weitgehend vermieden wird.

Und ich wünsche mir, …

… dass die PsychotherapeutInnenschaft in einen umfangreichen Diskurs über Fehler und Ver- schlechterungseffekte eintritt bzw. bestehende Ansätze vertieft;

… dass sie weiter und verstärkt an der Entwicklung effektiver, hilfreicher, menschenfreundlicher Methoden arbeitet;

… dass sie die Opfer von therapeutischem Fehlverhalten aufrichtig betrauert, die sich oft ge­nug zu Wort gemeldet haben, in den weitaus überwiegenden Fällen jedoch wohl ein­ge­schüch­tert, stumm, resigniert und/oder unbeachtet geblieben sind;

… dass sie klare Maßnahmen ergreift;

… dass meine Einwände und Kritiken – sofern sie nicht geteilt werden – eine ernsthafte Erwiderung erfahren, die hinausreichen sollte über ein: „Sie haben wohl Ihre eigenen Probleme noch nicht richtig aufgearbeitet! Ich kann Ihnen einen guten Psychoanalytiker empfehlen!“ Oder: „Sie haben wohl nicht verstanden, dass es hier um das Unbewusste geht!“ Oder: „Sie haben offensichtlich von Psychotherapie keine Ahnung!“ (Alles schon erlebt.)

… dass die hier zitierten AutorInnen sich meine Kritik durchlesen und zu Herzen nehmen;

… dass innerhalb unserer Zunft Kernbergs Vortrag – durchaus kontrovers – diskutiert wird;

… dass mir die Organisatoren der „Lindauer Psychotherapiewochen“ endlich meine wieder­holt vorgetragene Bitte gewähren, an genau dem Ort, an dem Otto Kernberg seine fatalen Thesen vor sechzehn Jahren in die Welt gesetzt hat, eine Plattform für eine kritische Diskussion der „Lindauer Thesen“ zu erhalten;

und dass die Bundesregierung einen „Runden Tisch Psychotherapieopfer“ ins Leben ruft, bei dem ExpertInnen das verhängnisvolle Wirken sadistischer Psychothera­peu­tIn­nen aufarbeiten und wirksame Maßnahmen zur Abhilfe vorschlagen.

Diplom-Psychologe/Psychotherapeut Klaus Schlagmann Scheidter Str. 62 66123 Saarbrücken
0681/375 805 KlausSchlagmann [at] t-online.de http://www.oedipus-online.de

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2 Gedanken zu „Klaus Schlagmann

  1. Gina Lange

    Ich denke auch, dass ein hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit vonnöten ist, um Kernberg annähernd richtig zu verstehen. Sich so arrogant zur Kritik von Herrn Schlagmann zu verhalten, überzeugt allerdings keinesfalls davon, dass der Kritiker des Kritikers, hier Herr Hanns Mayer, seinerseits das Konzept der Übertragung und Gegenübertragung erschöpfend betrachtet hat.
    Persönlicher Stil hin oder her, die überwiegend männliche Präsenz und Deutungshoheit in der Wissenschaft der Psychoanalyse lässt Reflektion und Selbstkritik nicht annähernd so zu, wie es sinnvoll und gut wäre. In diesem Sinne sollte diese Diskussion tatsächlich mehr Gewichtung erfahren, endlich.

    Antworten
  2. Hanns Mayer

    Zu der Stelle, die sagt: »Und, halten Sie sich gut fest, für Kernberg ist es Ausdruck einer gelungenen Therapie, wenn er selbst, als Therapeut, solche Täter-Aggressionen gegenüber seinen PatientInnen empfindet.«

    Warum wird hier nicht auch der Zusammenhang zitiert, in dem diese Stelle steht? Kernberg spricht über das sehr ernste Problem der Gegenübertragung in der Therapie. Am Ende des Absatzes bei ihm steht der wohl nicht so unwichtige Satz: »Das heißt auch, eine objektive besorgte, aber nicht verfüh­rende Einstellung dem Patienten gegenüber einzunehmen.«

    Wenn man die Psychoanalyse kritisieren will und man offenbar eine profunde Beschäftigung mit ihr scheut, sollte man zumindest eine Ahnung von wichtigen Grundbegriffen, wie der Übertragung und Gegenübertragung, haben.

    Hierzu Klaus Schlagmann:

    Die Lust zu verspüren, KlientInnen aus dem Fenster des Büros im 80. Stock zu werfen, deren Bemühungen barsch abzuweisen, sich eines Verständnisses durch ihren Therapeuten versichern zu wollen, sich mit KZ-Kommandanten und Folterern zu identifizieren, PatientInnen zu verhöhnen und zu Tätern zu erklären, die durch „sexuellen Missbrauch“ in der Therapie in den Suizid getrieben wurden: in diesen und ähnlichen Empfehlungen Kernbergs erkennt Hanns Mayer also die „objektive besorgte Einstellung“ eines Weisen, dem „das ernste Problem der Gegenübertragung“ nicht verschlossen ist, wovon der Autor ärgerlicher Weise keine Ahnung habe. Nun soll ich mich wohl meines mangelnden Verständnisses für Therapieprozesse schämen und auch noch dankbar sein für diese herablassende „Aufklärung“. Pfui Deibel!

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