Freuds Wille zur Macht

NY Sun, 29. November 2006

 

Ronald W. Dworkin

Freuds Wille zur Macht

 

Ronald W. Dworkin M.D., Ph.D. praktiziert als Arzt in Baltimore seit 1989. 1995 dissertierte er zusätzlich in politischer Philosophie. Er ist verheiratet mit einer Urenkelin von Präsident Th. Roosevelt.

Dworkin ist Autor von „Artificial Happiness: The Dark Side of the New Happy Class“ (Caroll & Graf). Er ist Senior Fellow am Hudson Institute. Übersetzung (Weinberger/Böhm) und Nachdruck des Artikels mit freundlicher Erlaubnis des Autors und der New York Sun.

 

Die Legende sagt, daß Freud, obwohl in den Philosophien seiner Tage bewandert, das Werk Nietzsches eifrig von sich fernhielt, um die Originalität seiner Ideen von äußeren Einflüssen frei zu halten. Nietzsche nahm von der menschlichen Seele an, daß Werte Projektionen unausgesprochener Begierden und Ängste seien. Das kam Freuds Idee, die am Ende des 19. Jahrhunderts noch im Umbruch war,  sehr nahe, die Wurzeln bewußten Verhaltens lägen in unbewußten Begehren.

 

Nach der Lektüre von Dr. Peter Kramers hervorragender neuer Biographie von Freud (Harper Collins, 213 Seiten, $ 21.95) meint man freilich, daß Freud weniger äußere Einflüsse als seine Selbstentdeckung fürchtete. Denn Dr. Kramers Freud ist praktisch die leibhaftige Verkörperung von Nietzsches Willen zur Macht. Freud war nicht einfach nur unglaublich ehrgeizig. (Im Alter von 4 Jahren versicherte er seiner Mutter, nachdem er einen Stuhl kaputt gemacht hatte, daß er zu einem großen Mann aufwachsen und ihr dann einen anderen Stuhl kaufen würde). Freud war, genauer gesagt, entschlossen, die Welt zu systematisieren, Ordnung ins Chaos zu bringen und seine Theorie vom Leben dem Leben selbst aufzudrücken – eine so durchdrungene Entschlossenheit, daß einer seiner Kollegen sie „psychisches Bedürfnis“ nannte.

 

Diese Kritik an Freud, dem  Systematiker, zieht sich durch Kramers Buch und wird unterlegt durch Freud’s irritierende Neigung, ganze Theorien zur menschlichen Natur aus einer Handvoll persönlicher Beobachtungen abzuleiten.

 

Aus nur einigen wenigen Fällen sexuellen Mißbrauchs theoretisierte Freud, daß Hysterie aus solchen in der Kindheit erlebten Übergriffen herrühre und daß diese allgemein verbreitet seien. Seiner Anklage fehlte jedoch die faktische Basis; die Vorstellung, daß Eltern in ganz Europa ganz alltäglich die „Vaginas, Mundhöhlen und Enddärme“ ihrer Kinder mißbrauchten, strapazierte das Vorstellungsvermögen. Seine Kollegen lachten zu Recht.

 

Seine Theorie vom Oedipus-Komplex baute Freud auf ähnlich grobe Verallgemeinerungen, nämlich die, daß alle Kinder ihre Väter zu töten und mit ihren Müttern zu schlafen wünschten. Ein paar fragwürdige Patienten-Erlebnisse bestätigen jedoch kaum eine neue Erkenntnis über die menschliche Natur.

 

Was sollen wir mit einem Mann machen, der sich laut Kramer den Menschen über eine Theorie und nicht  durch natürliches Verständnis annäherte?

 

Wenn der Wille zur Macht einen Künstler befällt, ist die Folge oft spektakulär und unterhaltsam und gefahrlos dazu, weil der Künstler mit Farbe oder Ton niemanden verletzen kann. Wenn der Wille zur Macht aber einen Politiker befällt, kann das sehr gefährlich sein:

 

Menschen im Griff von Fanatismus biegen Menschen und Ereignisse nach ihrer Theorie von gut und böse. Man denke an Stalins gewaltsame Kollektivierung und an Hitlers Vorstellung von Lebensraum.

 

Freud liegt irgendwo dazwischen: Wenn er schreibt, „wir werden letztlich jeden Widerstand durch die unerschütterliche Natur unserer Überzeugungen besiegen“, hört er sich an wie ein Faschist oder ein Kommissar. Da Freud aber Arzt und kein Politiker war und keine Polizeigewalt besaß, konnte er Menschen nur begrenzt verletzen.

 

Forschung brachte in den 80ern ein Beispiel seiner Art der Verletzung an den Tag. In der Art seiner übereilten Schlußfolgerungen sprach Freud einem männlichen Patienten (der bei Nachprüfung des Falls wohl an einer bipolaren Störung litt)  latente homosexuelle Neigungen zu. Er riet dem Mann, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und seine Geliebte zu heiraten und sagte dann dieser Geliebten, wenn sie nicht mitspielte, würde der Patient möglicherweise niemals „normal“ werden. Das Paar befolgte den Rat Freuds, der mehr ein Befahl war, und heiratete. Drei Jahre später waren sie wieder geschieden und ihrer beider Leben ruiniert.

 

Wiewohl das psychiatrische Establishment Freud heute weithin vom  Sockel geholt hat [1], lebt seine Reputation als ein weiser Mann fort, teilweise auch aufgrund seines immensen literarischen Talents.  Es kursiert das Gerücht, daß Freud einmal zum Nobelpreis für Literatur vorgesehen war. So schön geschrieben sind seine Bücher.

 

Aber Freud’s guter Ruf lebt hauptsächlich deshalb weiter,  weil er immer noch mehr als Wissenschaftler denn als Philosoph angesehen wird. Weil das Wissen in der Wissenschaft kumulativ ist und jede Generation von Wissenschaftlern auf der Arbeit ihrer Vorgänger aufbaut, wird Freuds Werk als Bestandteil des großen Gebäudes angesehen.

 

Das ist falsch. In der realen Wissenschaft haben Dinge Namen, weil sie einen realen Wert darstellen  – daher die Worte „Atom“ oder „Molekül.“ In Freuds Psychoanalyse haben Dinge Wert, weil sie einen Namen bekommen haben – „Oedipus-Komplex“, „Kastrationsangst“ – und nur weil genügend Leute von ihrem Wert überzeugt waren. Wenn Wissenschaftler Atome oder Moleküle ignorierten, existierten diese Partikel und ihre vitalen Effekte immer noch. Wenn Freuds Konzepte ignoriert würden, wäre es mit ihrem Wert, ja ihrer Existenz für immer vorbei. Freuds Analyse ist keine Wissenschaft; sie ist eine Modeerscheinung, die gänzlich vom öffentlichen Beifall abhängt.

 

Freud entdeckte nicht das Unbewußte. Andere Ärzte hatten vor ihm darüber schon geschrieben. Er entdeckte auch keine Phänomene wie „Freudsche Versprecher“, „Verdrängung“ oder „Übertragung“. Was er machte war: Er gab diesen mentalen Phänomenen Namen, machte sie zu Symbolen und benütze die Symbole dann als Straßenschilder und Grenzmarkierungen im weiten Unbestimmten der menschlichen Seele. Er war nur einer der Vielen, die versuchten, den Energie-Riesen Leben zu zähmen.

 

Ordnung aus Chaos. Wille zur Macht. Sie könnten die einzigen Gemeinplätze bezüglich der menschlichen Natur sein, die von der ganzen Freud-Geschichte übrig bleibt.



[1]  Gilt für Amerika. In anderen Ländern, so in Deutschland hofieren besagtes „Establishment“ und die „politisch-mediale Klasse“ den Betrüger Freud nach wie vor und führen die Menschen irre (Weinberger).