Ödipuskomplex als Beleidigung des Geistes …

Der „Ödpuskomplex“ als systematische Beleidigung des Geistes und der Seele
Fester Bestandteil einer alten Zersetzungsstrategie?

Kurzfassung – Genaue Quellenangaben in der Langfassung: http://www.oedipus-online.de/Oedipus_Zepf.pdf.)

Bis an sein Lebensende tut Sigmund Freud so, als hielte er seine Erfindung des Ödipuskomplexes für eine geistige Großtat und epochale Entdeckung: Jeder Junge wolle im Alter zwischen 2 und 8 Jahren mit seiner Mutter eine sexuelle Beziehung eingehen, deshalb den Vater aus dem Weg räumen („positiver“ Ödipuskomplex). Gleichzeitig sei jeder Knabe von seinem „negativen“ Ödipuskomplex beherrscht, nämlich sich auch die sexuelle Beziehung zu seinen Vater zu wünschen und deshalb die Mutter aus dem Weg räumen zu wollen. [* Anmerkung: Dies ist eine weniger bekannte Sicht Freuds (in: „Das Ich und das Es“, 1923; GW XIII, S. 235-289): „Eingehende­re Untersuchung deckt zumeist den vollständigeren Ödipuskomplex auf, der ein zweifacher ist, ein positiver und ein negativer, abhängig von der ursprünglichen Bisexualität des Kindes, d.h. der Knabe hat nicht nur eine ambivalente Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, sondern er benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtliche feminine Einstellung zum Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen die Mutter. Dieses Eingreifen der Bisexualität macht es so schwer, die Verhältnisse der primitiven Objektwahlen und Identifizierungen zu durchschauen, und noch schwieriger, sie faßlich zu beschreiben.Anmerkung Ende *] Für die Mädchen gelte analog dasselbe.

Um die Konsequenzen dieses Konzeptes zu illustrieren: Otto Kernberg, ein berühmter Vertreter der Psychoanalyse, spricht z.B. von einer Frau, die an Depressionen litt, weil sie als Grundschülerin (unkonkret: „unter zehn Jahre alt“) der sexualisierten Gewalt ihres Vaters ausgesetzt war. Sie habe damals – so Kernbergs Verständnis – diese Situation „in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt. Um ihre Depressionen zu überwinden, müsse sie „ihre Schuld tolerieren“. Kernberg spricht hier auch von „ödipaler Schuld“.

Weil wohl in einer aufgeklärten Welt solche Opferbeschuldigung zunehmend schlechter ankommt, sieht sich die psychoanalytische Glaubensgemeinschaft offenbar genötigt, an der Theorie des alten Freud nachzubessern. So z.B. vier saarländische Autoren – Siegfried Zepf, Florian Daniel Zepf, Burkhard Ullrich & Dietmar Seel – in: „Ödipus und der Ödipuskomplex. Eine Revision.“ (2014, Psychosozial-Verlag, Gießen, 121 S). Bis auf Florian Daniel Zepf  sind sie sämtlich Mitglieder im „Saarländischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e.V.“ (SIPP).

Freuds Bezugspunkt bei der Erfindung seines Komplexes ist das grandiose, zweieinhalbtausend Jahre alte Theaterstück „König Ödipus“ von Sophokles aus dem antiken Athen, der Wiege der Demokratie. Bei ihrer Zusammenfassung dieses höchst spannenden, klugen, überschaubaren Textes (Reclam-Heft von 63 Seiten) übergehen sie einfach zentrale Elemente der Erzählung, bedienen sich z.T. falscher Begriffe und geben z.T. einfachste Sachverhalte nicht korrekt wieder. [* Anmerkung: Einige Beispiele: „Ödipus besucht das von der Pest bedrohte Theben“ – er ist dort jedoch schon seit Jahren ein angesehener König! Man müsse „den Mörder des vormaligen Königs Laios finden und aus dem Land weisen“, so angeblich das Gebot des Orakels, damit die Pest verschwinde – und keine Erwähnung, dass dieses Orakel auch eine Sühne fordert, die „Tod mit Tod vergilt“; genau diese Sühne wird am Ende des Stückes vollzogen sein! Nach den vier Autoren lautet der Bericht des Ödipus an seine Mutter über den tödlichen Konflikt mit dem ihm unbekannten Vater am Dreiweg: „Auf der Flucht hätte er an der Scheide dreier Wanderwege einen Mann und einen seiner Begleiter erschlagen. Der andere sei geflohen.“ Nicht nur, dass es sich bei Sophokles um eine markante Scheide dreier „Wagenwege“ handelt, hier wird auch von einem Trupp von fünf Männern gesprochen. Auch äußert sich hier Ödipus eindeutig über seine (Fehl-)Wahrnehmung des Ausgangs dieses Streits: „… und ich erschlag sie alle.“ (Ein Mann aus dem Gefolge war entkommen, ohne dass Ödipus dies bemerkt hatte.) Gänzlich verwischt wird das hochdramatische Ende: Zuvor stand die Behauptung von Mutter Iokaste im Raum, Vater Laios habe seinen Sohn als Säugling aussetzen lassen; am Ende berichtet jedoch ein Zeugen glaubwürdig, dass er Ödipus als Säugling von dessen Mutter Iokaste erhalten habe mit dem Befehl, ihn zu vernichten. Iokaste ist hier also der Lüge überführt! Die Aussage des Kronzeugen wird von den Autoren jedoch unterschlagen; sie geben die Lüge der Iokaste als Wahrheit aus. Auch unterschlagen sie, dass Ödipus kurz darauf den bezeichnenden Impuls zeigt, seine Mutter zu töten – in der griechischen Mythologie nur denkbar, wenn die Mutter für den Tod des Vaters verantwortlich ist, wie auch in diesem hoch spannenden Drama um „König Ödipus“. (Ausführlich dazu in der Langfassung: http://www.oedipus-online.de/Oedipus_Zepf.pdf, S. 11-21.) Anmerkung Ende *] So können sie natürlich die klare Dynamik und die einzelnen Höhepunkte der ganzen Geschichte gar nicht verstehen. Und das ist keineswegs unerheblich: Schließlich geht es ja auch bei Menschen mit psychischen Störungen darum, dass deren Lebens- und Kranken-Geschichten verstanden werden!

Vorgeblich bemühen sich die vier Autoren um eine „Revision“ des Freudschen Konzeptes. Freud habe da, so geben sie zu Bedenken, etwas gewaltig missverstanden: Aufgrund eigener neurotischer Verstrickungen habe er es unterlassen, sich das Verhalten der Eltern genauer anzusehen. Tatsächlich ginge aber das Problem eigentlich von den Eltern aus. Hierzu legen die Vier nun nicht etwa empirische Studien und Beobachtungen vor, sondern beziehen sich – von jeglichem Verständnis der Originaltexte befreit – ganz auf diverse griechische Mythen-Bruchstücke, die die Abgründe von Elternfiguren belegen sollen. Das mythologische Material wird verfälscht und zurechtgebogen. Beispielsweise behaupten die Vier, dass Laios selbst als Kleinkind ausgesetzt worden sei, so, wie sein Sohn Ödipus. Dabei sind die antiken Quellen eindeutig: Danach ist Laios ziemlich genau 20 Jahre alt, als er von zwei Widersachern aus seiner Heimatstadt vertrieben wird. Oder: Der Vater von Iokaste habe sich das Leben genommen – das sei vermutlich ein Indiz dafür, dass er seiner Tochter sexualisierte Gewalt angetan habe. Dabei findet sich in den antiken Quellen nirgends ein Hinweis auf einen Inzest zwischen Iokaste und ihrem Vater. Und auch dessen Suizid ist freie Erfindung der Autoren, die – sich auf unzuverlässige moderne Quellen berufend – den Vater von Iokaste mit dessen gleichnamigen Enkelsohn verwechseln, der sich tatsächlich auf Geheiß eines Sehers das Leben genommen hatte. Derartig unbefangen werden also Schauergeschichten über Laios und Iokaste erfunden.

Die vier Autoren sind sich scheinbar gewiss, hier neue Abgründe der Menschheit enthüllen zu können, die die Welt erschüttern werden: Es seien nämlich an erster Stelle alle Eltern, die gegenüber allen ihren Kindern hetero- und homosexuelle Impulse entwickelten. Gleichzeitig wollten sie diese Kinder aber auch aus dem Weg räumen, weil sie sie als Rivalen zum jeweiligen Ehegatten empfinden würden. Und diese inzestuösen bzw. mörderischen Impulse würden sich nun auf die Kinder übertragen. Genauso hätten die Eltern diese Impulse zuvor von den Großeltern übertragen bekommen, diese wiederum von den Urgroßeltern usw. Die Kette muss wohl bis auf Adam und Eva zurückgehen, die diese Deformation wahrscheinlich direkt bei der Vertreibung aus dem Paradies mit auf den Weg bekommen hatten. Klinisch relevant sind jedoch nicht die elterlichen Haltungen, sondern lediglich die von dem Kind aufgenommenen „ödipalen“ Impulse und Komplexe.

Nachdem ich mich nun schon viele Jahre mit Freuds Theorie beschäftige, bin ich in letzter Zeit immer mehr überzeugt, dass Freud den Unsinn, den er von sich gegeben hat, selbst gar nicht wirklich geglaubt hat. Plausibler scheint mir, dass er ganz bewusst eine grandiose Lüge in die Welt gesetzt und ausgebaut hat.

[* Anmerkung: In: „Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge“ (1999) zeigt der Autor Han Israëls auf, wie Freud z.B. behauptet, er habe einen Morphiumsüchtigen durch Verabreichung von Kokain heilen können. Tatsächlich jedoch stellt er an seinem Beobachtungsobjekt, seinem Freund Ernst Fleischl von Marxow, fest, dass dieser von beiden Drogen immer größere Mengen konsumiert und daran zugrunde geht. Er stirbt mit nur 45 Jahren. Freud besitzt die Frechheit, für diese katastrophale Fehlbehandlung in mehreren Fachaufsätzen zu werben und sie sogar gegen den deutlichen Widerspruch eines Drogenexperten zu verteidigen! Anmerkung Ende *]

Mit seiner Lüge vom „Ödipuskomplex“ dient er sich den Mächtigen dieser Welt an, denen sein Opfer-Beschuldigungs-Konzept bestens in den Kram passen muss. Und so glaube ich auch nicht wirklich, dass das Autoren-Quartett für wahr halten kann, was es da in die Welt setzt, sondern dass es – zur Bewahrung der alten psychoanalytischen Ideologie – dem Freudschen Lügengebäude skrupellos ein weiteres Stockwerk obenauf setzt. Grotesk verzerrt werden die Eltern erstmals ausdrücklich mit ins Spiel gebracht. (Dies ist tatsächlich eine Neuerung gegenüber dem alten Freud.) Aber am Ende bleibt der Freudsche Unsinn – unter dem Deckmäntelchen der scheinbaren Revision – in Reinform erhalten: Es bleibt bei der sadistischen Theorie, die die kindlichen Opfer von Gewalt zu den eigentlichen Tätern erklärt (vgl. Kernberg). Und selbst, wenn mit dem Umweg über die Pauschalbeschuldigung der Eltern die ganze Theorie immer aberwitziger wird, Kritik daran wird die Autoren nicht anfechten: Man hat ja innerhalb der psychoanalytischen Glaubensgemeinschaft bereits jahrzehntelange Erfahrung damit, den Widerspruch kritischer Geister gegen die monströsen geist- und sinnlosen Unterstellungen der Psychoanalyse an sich abprallen zu lassen.

Und wie geht das psychotherapeutische Fußvolk mit diesem Jahrhundertwerk von Zepf u.a. um? Im Mitteilungsblatt der Psychotherapeutenkammer des Saarlandes wird es ausführlich rezensiert, und zwar von Dr. Petra Schuhler, leitender Psychologin in der Klinik Münchwies (FORUM 55; 10/2014, S. 24ff): vier Seiten voller unkritischer und verständnisloser Lobeshymnen.

Je mehr ich mich mit psychoanalytischen Wirklichkeitsverdrehungen und Lügen beschäftige, desto mehr halte ich bewusste Verdummung und dreiste Behauptung von offenkundig Unwahrem für ein Phänomen, das in der heutigen Zeit in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geradezu zur Gewohnheit wird. Freud ist ein Wegbereiter der Lüge im Bereich von Psychologie und Psychiatrie geworden. Seine Neffe Edward Bernays hat sich ganz offen als Lügenexperte den Unternehmen und der Politik angedient. Das, was früher „Propaganda“ genannt wurde, hat er als „PR“ (= „Public Relations“) verharmlost. Ob Politikern oder Unternehmern: gerne hat er ihnen geholfen, mit bewussten Inszenierungen und Lügen die Bevölkerung zu manipulieren.

Lügen, Lügen, Lügen“ – so trompetete der republikanische US-Präsidentschaftskandidat über Anschuldigungen seiner Person in der Presse, und lenkte damit für einen Moment von höchster Stelle aus die Aufmerksamkeit auf Unehrlichkeit in der öffentlichen Berichterstattung. Mag Herr Trump alles daran setzen, um der Wahrheit über sich selbst zu ihrem Recht zu verhelfen. Möge er aber auch so wahrheitsliebend sein, dass er sich generell gegen Lügen verwahrt. Wollte er sich tatsächlich ganz generell zum Anwalt der Wahrhaftigkeit machen, dann könnte er – aus meiner Sicht – z.B. bei den folgenden Anlässen ansetzen:

– Eine schon ältere Lüge besagt, dass es Lee Harvey Oswald war, der John F. Kennedy erschossen hat. Das ist eindeutig widerlegt durch z.B. den Zapruder-Film, der festhält, wie Kennedy von vorne seinen tödlichen Kopfschuss erhält. (https://www.youtube.com/watch?v=iU83R7rpXQY, bzw. https://www.youtube.com/watch?v=tU7uryubPIA). Wenn Oswald überhaupt geschossen haben sollte (was nicht feststeht), dann kann er Kennedy nur von hinten getroffen haben. Wer ermittelt endlich einmal die wahren Täter und ihre Hintermänner?

– Die „Brutkastenlüge“ (vgl. http://www.gegenfrage.com/brutkastenluege/ ) führte zum Irak-Krieg des Jahres 1990 mit tödlichen Folgen für zigtausende von Menschen. Wer zieht diejenigen zur Verantwortung, die diese Inszenierung bestellt und umgesetzt hatten?

– Die Lüge von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins begründete den zweiten Irakkrieg im Jahr 2003 (vgl. http://www.upi-institut.de/irakkrieg.htm). Wann werden diejenigen, die diese Lüge in die Welt gesetzt und wider besseres Wissen propagiert haben, endlich zur Rechenschaft gezogen?

– Der ehemalige bundesrepublikanische Verteidigungsminister Rudolph Scharping begründete den Kriegseintritt der Bundeswehr gegen das ehemalige Jugoslawien am 24.03.1999 ebenfalls mit einer Lüge über das (angebliche) Massaker von Rogovo (ARD, Monitor: „Es begann mit einer Lüge“: https://www.youtube.com/watch?v=MYcRjHX50og). Wer trägt dazu bei, die ganzen Kriegshetzer und -propagandisten der damaligen Zeit nachträglich für ihre tödlichen Verbrechen zu belangen?

– Die „Rußlungen-Lüge“ behauptet, dass in der Lunge von Uwe Mundlos Ruß zu finden war, so dass er als derjenige gilt, der Uwe Böhnhardt erschoss, dann Feuer im Campingwagen des NSU-Trios legte, bevor er sich selbst erschoss (vgl. https://sicherungsblog.wordpress.com/2014/05/). Dass sich weder in der Lunge des einen, noch in der des anderen Uwe irgendwelcher Ruß befand, lässt auch die offizielle Darstellung dieses Geschehens als Lüge erkennen. Wer ermittelt endlich die wahren Hintergründe zum Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos? Wer ermittelt die Hintergründe der Morde, die den Sündenböcken des NSU-Trios in die Schuhe geschoben werden?

– Selbst beim letzten Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt gibt es ernstzunehmende Hinweise auf groteske Lügen (z.B. https://www.youtube.com/watch?v=rjEWmwS99vw). War Anis Amri tatsächlich so kooperativ, dass er folgsam offizielle Dokumente hinterlassen hat, die seine eindeutige Identifizierung ermöglichten? Warum wurden diese Papiere erst viele Stunden nach dem angeblichen Anschlag im „Tatfahrzeug“ entdeckt? Wie soll dieser Anschlag tatsächlich abgelaufen sein? War am Ende alles nur eine Inszenierung, quasi makaberes Straßentheater, um die gutgläubige Bevölkerung einmal mehr in Angst und Schrecken zu versetzen und sich der eigenen Täuschungsfähigkeit einmal mehr zu versichern und sie zu trainieren?

Und die Liste der Lügen und Intrigen ließe sich sehr, sehr umfangreich ergänzen.

Das groteske Lügengebäude von Freud beleidigt schon seit über einhundert Jahren den menschlichen Geist und die menschliche Seele. Sein Neffe Edward Bernays hat das Lügen für Politik und Wirtschaft systematisiert und kultiviert. Wie lange lassen wir uns noch gefallen, auf so vielen Ebenen getäuscht und verwirrt zu werden? Wie laut und deutlich muss derartigem Betrug noch widersprochen werden, bis wir endlich wahrhaftige Aufklärung durchsetzen?

Wer schweigt, macht sich mitschuldig!

Über blinde Flecken in der psychoanalytisch-/psychotherapeutischen Ethik-Diskussion –
am Beispiel des „Ethikvereins e.V.“ und eines „Verbändetreffens

Von Dipl.-Psych. Klaus Schlagmann, Saarbrücken

Prof. Otto F. Kernberg gilt als einer der berühmtesten Psychiater und Psychoanalytiker der Welt. Bei einer der größten Psychotherapiefortbildungen im deutschsprachigen Raum, den „Lindauer Psychotherapiewochen“ referiert er den Fall einer Frau mit (angeblich) antisozialer Persönlichkeit, die „unter Inzest litt, dessen [sic] Vater sie sexuell missbrauchte, mit schweren Depressionen und Selbstmordversuchen, die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn zu sich nach Hause unter Bedrohung schwerer Selbstmord [sic], empfing ihn im Negligé, und nur er konnte sie retten – ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzisstischen Problemen, und eh“ – explosives Gelächter im Publikum, erheiterte Nachfrage von Kernberg: „Ist das hier ungewöhnlich?“, erneut schallendes Gelächter – „Und ehm – äh – hahh – und äh, äh – der – nach – sie schrieb – sie hatte ein Tagebuch, und sie hatte auch eine homosexuelle Freundin, sie beging Selbstmord, sandte das Tagebuch mit einer genauen Beschreibung des sexuellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten dieser homosexuellen Freundin, die dann ein Gerichtsverfahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete. Also, Sie sehen, wie sie im Tode sich noch r… [ächte?; K.S.], wie sie Opfer und Täter zugleich wurde.“ (Nachzuhören ist dieses Zitat im O-Ton in dem verlinkten youtube-Beitrag ab Min. 18:28.) Zwei Jahre später wird der Vortrag – leicht überarbeitet – in der von Kernberg mit herausgegebenen Fachzeitschrift „Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie (PTT)“ publiziert; die zitierte Fallgeschichte wird durch eine Zwischen-Überschrift scheinbar auf das Kernproblem fokussiert: „Transformation des Opfers in einen Täter“. (Kernberg wurde kurz nach diesem Vortrag für vier Jahre zum Präsidenten des psychoanalytischen Weltverbandes IPA gewählt.)

Weitere sechs Jahr später nehmen Gerhard Dammann und Benigna Gerisch das zitierte Beispiel zum Anlass, die Betroffene weiter zu diffamieren.

Auf z.B. diesen eklatanten Fall von Machtmissbrauch und Grenzverletzung in der Psychotherapie, belegt mit einer Fülle von konkreten Zitaten und Quellenangaben, spreche ich seit nun ziemlich genau sechzehn Jahren immer wieder Kolleginnen und Kollegen an. Und das Ergebnis ist meist das gleiche: Ich selbst werde zum Buhmann erklärt, man will mit mir und der ganzen Angelegenheit nichts zu tun haben. So auch jetzt wieder einmal. Meine Einladung zu einer Auseinandersetzung zu dem o.g. Fall im April 2016 führt am Ende zu einer brüsken Abfuhr von dem sog. „Verbändetreffen  gegen Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch in Psychotherapie und psychosozialer Beratung“ – und zwar ausdrücklich „im Namen der [aller?] Teilnehmer und Teilnehmerinnen“. Unter dem Banner des „Verbändetreffens“ versammeln sich (Stand: Mai 2014, bereinigt um 2 Verbände, die nach deren eigener Auskunft nicht mehr vertreten sind):

BAPt (Bundesverband akademischer Psychotherapeuten)
DeGPT (Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie)
DGIP (Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie e.V.)
DGLE (Deutsche Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse e.V.)
DGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie); vertreten durch Dr. Giulietta Tibone;
DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie)
DGTA (Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse)
DGVT (Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie)
DPGG (Deutsche Psychologische Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie)
DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung); vertreten durch Dr. Isolde Böhme
DVG (Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie)
EMDRIA (EMDRinternational association); vertreten durch Dr. Andrea Schleu
Ethikverein e.V. – Ethik in der Psychotherapie; vertreten durch Dr. Jürgen Thorwart
GNP (Gesellschaft für Neuropsychologie)
GWG (Gesellschaft für personenzentrierte Psychotherapie und Beratung e.V.)
UDH (Union Deutscher Heilpraktiker)
VAKJP (Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten); vertreten durch Dipl. -Psych. Dietrich Winzer

(Zur leichteren Zuordnung sind oben diejenigen VerbandsvertreterInnen namentlich angeführt, die am nachfolgenden Disput mitwirken.)

Aber nun erst mal der Reihe nach. Im April 2016 sende ich eine Mail an Dr. Jürgen Thorwart, der für den 3. Mai in München mit einem Vortrag zum Thema „Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie“ angekündigt ist. Veranstalter ist die Psychiatrie-Beschwerdestelle „Kompass“, angesiedelt unter dem Dach des „Netzwerks Psychiatrie München e.V.“. [Dieses „Netzwerk“ darf sich rühmen: „Wir werden gefördert vom Bezirk Oberbayern.“ (!) (vgl. Rundbrief 1/15 der GEP, S. 19).] Das „Netzwerk“ hat einen Aufsichtsrat, der – so die Selbstdarstellung – über die grundlegende Ausrichtung der Vereinsarbeit entscheidet. Herr Thorwart sitzt in diesem Aufsichtsrat, ebenso im Vorstand des Vereins „Ethik e.V. – Ethik in der Psychotherapie“. Diesen Ethik-Verein wiederum repräsentiert er auch auf einer höheren Ebene, im sog. „Verbändetreffen  gegen Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch in Psychotherapie und psychosozialer Beratung“. Thorwart, „Aktivist“ zu „Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie“, den ich anspreche, um ihn um Austausch und Zusammenarbeit zum Thema zu bitten, reagiert jedoch auf den von mir konkret belegten, oben zitierten Missbrauchsfall mit einer brüsken Zurückweisung, u.a. mit dem Vorhalt, ich würde ja nur „mit dem Prügel wild und völlig undifferenziert auf die Psychoanalyse einschlagen“.

Daraufhin unterrichte ich die Mitglieder des „Ethikvereins“ von Thorwarts Reaktion und bitte um Unterstützung. Antwort der Vorsitzenden Dr. Andrea Schleu: Man habe einstimmig beschlossen, nicht mit mir kooperieren zu wollen.

In einem Beitrag für den Rundbrief 1/16 der „Walter-von-Baeyer-Gesellschaft für Ethik in der Psychiatrie e.V.“ beschreibe ich die Vorgänge und zitiere aus Thorwarts Mail. Ebenso informiere ich die Mitglieder des „Verbändetreffens gegen Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch“. Von dort beziehen später Dr. Isolde Böhme und Dietrich Winzer Stellung gegen mich, bevor mir dann – am 08.08.2016 – Dr. Giulietta Tibone eine Absage im Namen der (aller?) „Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Verbändetreffens“ erteilt: Meine konkreten Ausführungen – dargelegt in Beiträgen zu den Fachzeitschriften „Sexuologie“ bzw. „psychoneuro“ sowie in einem Aufruf zur Einführung eines „Runden Tisch Psychotherapie-Opfer“ – seien zwar „einzeln korrekt“, aber ansonsten „pauschal gehalten und dahingehend unausgewogen, dass sie widersprechende andere, sehr verbreitete psychoanalytische Positionen völlig verschweigen.“ Ich führte „einen so erbitterten wie aussichtslosen Kriegmit langjährigen, geschätzten Mitgliedern“ des Verbändetreffens.

Das Kartell des Schweigens hat wieder einmal funktioniert. Ausgerechnet Gremien wie „Ethikverein“ oder „Verbändetreffen“, die sich angeblich der Aufklärung verschrieben haben und dem Machtmissbrauch entgegentreten wollen, blocken eine längst überfällige Diskussion über systematische Verschlechterungseffekte durch bestimmte Therapiemethoden ab. Haben „Ethikverein“ und „Verbändetreffen“ etwa genau diese Funktion: die Diskussion über Missstände zunächst an sich zu ziehen und – bei Bedarf – radikal auszubremsen? Warum verstummt man dort so schnell, wenn man mit skandalösem „psychoanalytischem“ Material konfrontiert wird, das in Fachzeitschriften veröffentlicht ist bzw. offiziell als Lehrmaterial für Psychotherapeutenausbildung gehandelt wird?

Wenn auch womöglich einzelne wohlmeinende Mitglieder in diesen Clubs sitzen mögen, so setzen sich doch offenbar schnell unverbesserliche DogmatikerInnen durch, die sich Freuds und Kernbergs Lehren fest verbunden fühlen, denen als Fundament die Unterstellung kindlicher Beteiligung („eigener Anteil“) an sexualisierten Übergriffen bzw. ganz generell Opferbeschuldigungen oder Opfer-Täter-Umkehrungen dienen, worauf dann das ganze weitere Theoriegebäude fest aufsitzt.

Am 23.07.2016 beantragt Herr Thorwart bei der Psychotherapeutenkammer des Saarlandes die Einleitung eines „berufsrechtlichen Verfahrens“ gegen mich, weil sich ihm „die Frage stellt“ ob ich „zur Ausübung des Approbationsberufes eines Psychologischen Psychotherapeuten ausreichend geeignet“ sei. Das Beschwerdeverfahren wird dort am 25.08.2016 eingestellt. Diese Einstellung des Beschwerdeverfahrens nehme ich nun für mich in gewisser Weise als Ermutigung, mein Engagement fortzusetzen gegen solche Böcke, die sich selbst zu Gärtnern erklären. So auch mit dieser unten verlinkten Publikation, in der ich das Geschehen noch einmal ausgiebig zusammenfasse und dokumentiere, ausführlich Querverweise und links zu den Quellen einfüge sowie am Ende auf die immer wieder gepriesenen Segnungen der „modernen“ Psychoanalyse eingehe.

Dieses Schreiben soll gleichzeitig Aufruf und Ermunterung sein für all diejenigen, die sich ernsthaft mit dem Thema Macht, Machtmissbrauch und Grenzverletzung in Psychotherapie und Beratung auseinandersetzen wollen. Gerne würde ich die Entwicklung einer entsprechenden Arbeitsgruppe anstoßen und koordinieren. Nutzen Sie die unten angegebene Kontaktadresse.

 

Der ausführliche Text zu diesem Disput findet sich unter diesem link. Dort werden zunächst (S. 1-12) die Abläufe ausführlich dargestellt, dann (S. 13-57) die einzelnen Quellen dokumentiert.

Dipl.-Psychologe
Klaus Schlagmann
Scheidter Str. 62
66123 Saarbrücken
KlausSchlagmann@t-online.de
www.oedipus-online.de

Bemerkungen zu Otto F. Kernberg

Persönliche Stile in Psychoanalysen“ –
Bemerkungen zu einem ihrer derzeit führenden Vertreter

anläßlich einer Fachtagung an der „International Psychoanalytic University“ in Berlin, Allerheiligen 2013

Zusammenfassung:

Klaus Schlagmann unterzieht den Aufsatz eines Fachmannes, der als einer der berühmtesten Psychoanalytiker der Welt gilt (Otto F. Kernberg), einer gründlichen Analyse. In dem Aufsatz wird z.B. der Fall einer Frau besprochen, die an Depressionen leidet. Sie hatte als Grundschülerin von (unkonkret) „unter 10 Jahren“ sexualisierte Gewalt von Seiten ihres Vaters erlebt. Kernberg unterstellt ihr, sie habe diese Situation „in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt und sie müsse „ihre Schuld tolerieren“. Dieses (berechtigte) Schuldgefühl sei der Ursprung ihrer Depression. Diesem Gewaltopfern wird in Kernbergs „Therapie“ sogar zugemutet, dass sie lernen müsse, sich mit der sexuellen Erregung des sadistischen Vaters zu „identifizieren“.

 Diese Art von Therapie läuft auf eine glatte Opferbeschuldigung hinaus und muss geradezu bei den Betroffenen Schaden anrichten! Schlagmann kennt aus der Literatur, aus Darstellungen im Internet oder auch aus eigener Praxis Fälle, in denen es zu schädlichen Entwicklungen nach entsprechenden Opferbeschuldigungen gekommen ist. Er fordert deshalb von verantwortlichen PolitikerInnen die Einrichtung eines „Runden Tisch Psychotherapie-„Opfer“.

Professor Otto  F. Kernberg eröffnete an Allerheiligen 2013 am Berliner Privatinstitut „International Psychoanalytic University“ (IPU) die Fachtagung „Persönliche Stile in Psychoanalysen“ . In seinen Therapien hat er es mit Menschen zu tun, die schwerstes Leid erfahren haben: Sie ha- ben eventuell Folter, KZ-Haft, politischen Terror, Vergewaltigung oder sexualisierte Gewalt im Kindesalter überlebt. Inwiefern ist nun gerade Kernbergs „persönlicher Stil“ dazu angetan, solche KlientInnen vor weiterem Leid, vor Verzweiflung oder gar Suizidimpulsen zu bewahren?

Wenn Kernberg von einem Opfer von Folter, KZ-Haft oder Vergewaltigung gefragt wird: „Glauben Sie mir nicht? Sind Sie nicht meiner Meinung? War das nicht entsetzlich?“ – was, glauben Sie, ist aus seiner Sicht die therapeutisch korrekte Antwort?

Möglichkeit A: „Ja, natürlich glaube ich Ihnen! Und ich bin ganz Ihrer Meinung! Die entsetzlichen Erlebnisse, die Sie schildern, erschüttern mich selbst zutiefst! Ich empfinde aufrichtiges Mitleid!“

Möglichkeit B: „Warum brauchen Sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?“

Im Rahmen seiner mit Fortbildungspunkten honorierten Lehre empfiehlt Kernberg die (wörtlich zitierte) Antwort B. Begründung: „Es ist wichtig – ich zitiere da Freud in einem Brief von 1916 an Pfister – dass wir uns vor Mitleid schützen. Wie Sie wissen, ist Mitleid sublimierte Aggression.“

Und nicht nur das: Während es (angeblich) ein Zeichen von Aggression sein soll, mit KlientInnen Mitleid zu haben, ist es umgekehrt – nach Kernberg – heilsam, wenn sich TherapeutInnen mit TäterInnen identifizieren: „Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, …“

Und, halten Sie sich gut fest, für Kernberg ist es Ausdruck einer gelungenen Therapie, wenn er selbst, als Therapeut, solche Täter-Aggressionen gegenüber seinen PatientInnen empfindet. Originalton: „Wenn alles gut geht, dann gibt es Momente, in denen wir sie [unsere KlientInnen; K.S.] am liebsten aus dem Fenster werfen würden, besonders wenn unser Büro im 80. Stock liegt, und dann langsam und freudevoll lauschen, bis wir unten ein leises ‚Plopp’ hören.“ – Lautes Gelächter im Publikum. – „Ich meine das ganz ernst!“ Das fürchte ich auch. Aber die Voll- versammlung von über eintausend „ExpertInnen“ bei den „Lindauer Psychotherapiewochen“ von 1997 lacht erneut. Das entlarvende Tondokument ist bis heute bei „Auditorium Netzwerk“, Müllheim, erhältlich. 1999 wurde der Vortragstext (leicht abgeändert) unter der Überschrift „Persön- lichkeitsentwicklung und Trauma“ in der von Kernberg mit herausgegebenen Fachzeitschrift „Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie“ (PTT), 1, 5-15, beim Verlag Schattauer publiziert. Sämtliche hier angeführten Zitate – mit Ausnahme der obigen, von mir selbst formulier- ten „Möglichkeit A“ – sind wörtlich diesen beiden Publikationen entnommen.

Warum sollte es aber wichtig sein, dass PsychotherapeutInnen sich mit Unmenschen wie KZ- Kommandanten, Folterknechten, inzestuösen und sadistischen Eltern zu „identifizieren“ verste- hen? Nun, es ist angeblich aus irgendeinem – mir von Kernberg nirgendwo plausibel gemachten – Grund erforderlich für die Heilung von Opfern extremer Gewalt, „sich mit dem Täter zu identifizieren“. Anscheinend sollen TherapeutInnen mit gutem Beispiel vorangehen, um KlientInnen diesen Prozess zu erleichtern.

Ein Fallbeispiel von Kernberg: Er erzählt von einer Frau, die von Seiten ihres Vaters, einer „anti- sozialen Persönlichkeit“, sexualisierte Gewalt erlebt hatte, und zwar im Alter von unter zehn Jahren. (Das Alter wird nicht näher konkretisiert, als wäre es völlig unerheblich, ob Derartiges im Alter von 2, 6 oder 8 Jahren geschieht.) „Sie hatte in typischer Weise das Verhalten des Vaters in vielfältiger Art erlebt, als brutalen Eingriff und Verletzung ihrer physischen Identität, … und als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter. Dieses letztere Element war natürlich vollkommen unbewusst und mit schweren Schuldgefühlen verbunden, die in ihrer masochistischen Persönlichkeit zum Ausdruck kamen und sie sich so ihr ganzes Leben wegen dieser ödipalen Schuld opfern ließ. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen musste, konn- te sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewussten und jetzt bewussten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren.“

Eine Grundschülerin erlebt die Vergewaltigung durch ihren Vater also als einen „sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“; dabei lädt sie „(ödipale) Schuld“ auf sich, die sie später „tolerieren“ muss; ihr Triumphgefühl ist ihr zunächst „unbewusst“; und nur ein geschulter Psychoanalytiker wie Otto Kernberg versteht sich darauf, ihre unbewussten Impulse zu entschlüsseln; die Aufgabe der Psychoanalyse ist es, ihr ihre alten Schweinereien bewusst zu machen. Das soll ihr helfen, sich mit den eigenen Verfehlung zurechtzufinden; dadurch kann sie sich endlich selbst als Handelnde erleben und die Opferrolle verlassen: Mit dem Zauberwort „unbewusst“ versucht die Psychoanalyse seit über 100 Jahren selbstzufrieden, ihre unselige Pseudo-Argumentation gegen jeden Widerspruch und jede Kritik von außen zu immunisieren.

Das (angeblich) fruchtbare Ergebnis seiner Arbeit mit diesem Opfer frühkindlicher Erfahrung von sexualisierter Gewalt sieht Kernberg so: „Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Hass gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden.“ Mit welchem Trick es Herrn Kernberg tatsächlich gelungen ist, seine Klientin dazu zu bewegen, sich „mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters“ zu identifizieren (was auch immer das heißen möge), das hat er nicht wirklich verraten. Er offenbart auch nicht, ob und wie lange die Frau diese Art von „Therapie“ überlebt hat, oder ob sie sich nicht vielleicht danach in noch größerer Verzweiflung umgebracht hat.

Suizid während einer psychoanalytischen Behandlung scheint übrigens keine Seltenheit zu sein. Dörte v. Drigalski beschreibt in ihrem Buch „Blumen auf Granit“ die Erfahrungen ihrer Lehranalyse (= psychoanalytische Behandlung, die ein Mediziner oder Psychologe erfolgreich über sich ergehen lassen muss als eine von mehreren Voraussetzungen, um selbst diese Art von Therapie durchführen zu dürfen). Sie erwähnt dort, dass sich während ihrer Ausbildung insgesamt vier ihrer AusbildungskollegInnen das Leben genommen hatten. Ihre Appelle an AusbilderInnen, diese Suizide einmal gründlich zu untersuchen, wurden nicht aufgegriffen.

V. Drigalskis Bericht ist geradezu quälend zu lesen. Sie muss eine Kette von Missverständnis- sen, Missdeutungen oder Entwertungen von Seiten ihres Lehrtherapeuten über sich ergehen lassen. Da, wo sich v. Drigalski – sie arbeitet damals als Kinderärztin – z.B. mustergültig für das Wohl ihrer Klientel engagiert und dagegen aufbegehrt, dass ihr Appell an ihren Vorgesetzten zum Einschreiten abgeschmettert wird, da wird ihr dies von ihrem „Lehrtherapeuten“ – in permanenter Umdeutung und Opferbeschuldigung – als Rivalisieren oder Kastrationswunsch ge- genüber dem Chef ausgelegt. Am Ende war die ganze kostspielige „Ausbildung“ (für zigtausende von DM) wertlos. Der Ärztin wurde nach ca. fünf Jahren das Scheitern ihrer Lehranalyse attestiert, die entsprechende Lizenz zum Durchführen von Psychoanalysen wurde ihr nicht erteilt.

In einem jüngst erschienen Artikel von Günter Bittner „Psychoanalyse als Bildungserfahrung“ (in Boothe & Schneider [Hg.]: „Die Psychoanalyse und ihre Bildung“, 2013) geht dieser etwas näher auf die „Blumen auf Granit“ ein. Ohne ein wirkliches Verständnis für die dort geschilderten Zustände zu entwickeln, resümiert Bittner: „Bildungserfahrungen in meinem Verständnis sind ja nicht nur positive, sondern alle, die den Weg eines Lebens bestimmt haben.“ Statt sich ernsthaft mit den Mechanismen schädigender Psychoanalyse auseinanderzusetzen, verpasst Bittner dieser katastrophalen Geschichte ein Etikett, das das Geschehen brutal verharmlost: „Bildungserfahrungen“! Wer sich ein wenig in der Literatur oder im Internet umsieht, wird leicht mehr Material zu solchen makaberen, den Lebensweg prägenden „Bildungserfahrungen“ vorfinden.

Als Kernberg von einer solchen „Bildungserfahrung“ berichtet, die mit dem Selbstmord der Pati- entin seiner Klinik endet, da bringt er sein Publikum zweimal zu herzhaftem Lachen. Es geht um eine Frau mit (angeblich) antisozialer Persönlichkeit, die (Originalton) „unter Inzest litt, dessen [sic] Vater sie sexuell missbrauchte, mit schweren Depressionen und Selbstmordversuchen, die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn zu sich nach Hause unter Bedrohung schwerer Selbstmord [sic], empfing ihn im Negligé, und nur er konnte sie retten – ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzisstischen Problemen, und eh“ – explosives Gelächter im Publikum, erheiterte Nachfrage von Kernberg: „Ist das hier ungewöhnlich?“, erneut schallendes Ge- lächter – „Und ehm – äh – hahh – und äh, äh – der – nach – sie schrieb – sie hatte ein Tagebuch, und sie hatte auch eine homosexuelle Freundin, sie beging Selbstmord, sandte das Ta- gebuch mit einer genauen Beschreibung des sexuellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten dieser homosexuellen Freundin, die dann ein Gerichtsverfahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete. Also, Sie sehen, wie sie im Tode sich noch r…[ächte?; K.S.], wie sie Opfer und Täter zugleich wurde.“

Es ist schon ein sehr persönlicher – oder wohl besser: ein ganz miserabler – Stil, in dem Kernberg seine „Analyse“ hier vorträgt, bei der m.E. erst einmal jede Menge Fragen aufgeworfen werden, die unbeantwortet bleiben. Es fehlt dabei jeglicher Ansatz, das Verhalten des „jungen Psychiaters in Ausbildung“ tiefergehend kritisch aufzuarbeiten. Die Hauptschuld an dem verhängnisvollen Geschehen wird nicht etwa dem „Fachmann“ zugemessen, der sich in Ausübung seines Berufes befindet und dafür bezahlt wird, sondern vor allem der Klientin selbst.

Diese Fallanalyse greifen Gerhard Dammann und Benigna Gerisch in ihrem Artikel „Narzissti- sche Persönlichkeitsstörung und Suizidalität: Behandlungsschwierigkeiten aus psychodynami- scher Perspektive“ noch im Jahr 2005 unkritisch auf (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 156, 6, 299-309). Frau Prof. Gerisch ist Dozentin am „International Psychoanalytic Institute“, Berlin, das Kernberg als Eröffnungsredner zu Allerheiligen eingeladen hat. Unter der Zwischenüberschrift: „Destruktiver Narzissmus – ein Sonderfall“ (S. 302) texten die AutorInnen: „Eine 34jährige Patientin mit einer destruktiv narzisstischen Persönlichkeitsstörung begann we- gen Leeregefühlen, zeitweiligem Alkoholabusus, Beziehungsproblemen mit ihrer lesbischen Freundin und rezidivierenden suizidalen Phasen eine tiefenpsychologisch fundierte Psychothe- rapie. Nach bereits kurzer Zeit ging es ihr, ihrem Gefühl nach, viel besser, und sie setzte sich zum Ziel, mit ihrem Psychotherapeuten eine Affäre zu beginnen. Seine offensichtliche Unkorrumpierbarkeit, seine intakt erscheinenden Familienverhältnisse und die Tatsache, dass er für sie wie nicht erreichbar schien, reizten sie und ihren Neid dabei besonders. Bald sah sie nur noch in diesem Ziel, ihn zu gewinnen, den einzigen Grund in die Therapiestunden zu kommen. Die Patientin unternahm relativ drastische und eindeutige Anstrengungen, um den Therapeuten zu verführen, bis ihr dieses schließlich auch gelang. … Allerdings beendete der Therapeut bereits nach kurzer Zeit die Beziehung zu ihr, aus Angst davor, seinen familiären Rückhalt zu verlieren, aber auch infolge eigener ethischer Bedenken, nachdem er bereits zuvor die Therapie beendet hatte. Die Patientin geriet darauf hin in eine schwere Krise, fühlte sich verraten, weg- geworfen und von ihrem Therapeuten missbraucht. Sie unternahm dringliche Versuche, ihn als Liebhaber oder zumindest als Therapeut zurückzugewinnen. Nachdem diese Versuche nicht fruchteten, tyrannisierte sie ihn mit Telefonterror. Schließlich suizidierte sie sich und hinterließ einen Abschiedsbrief an ihre geschockte Freundin, aus dem hervorging, dass sie von ihrem Therapeuten sexuell missbraucht worden sei, was sie dadurch belegte, dass sie dem Schreiben den einzigen Liebesbrief, den sie von dem Psychotherapeuten erhalten hatte, beilegte.“

Im anschließenden Abschnitt heißt es: „Dieser von Otto F. Kernberg beschriebenen Patientin war es offensichtlich unerträglich, die unabhängige Existenz des Analytikers und die eigene be- dürftige Abhängigkeit von ihm anerkennen zu müssen, was sich in dem intensiven Neid zeigt. Statt sich damit auseinanderzusetzen, suchte sie jedoch im Agieren Bestätigung, wobei der Therapeut sich auf eine dramatische, skandalöse und suizidbegünstigende Art und Weise mit der Patientin verstrickt hatte, eine Gefahr, die gerade bei diesen Patienten besonders groß ist. Der Suizid ist hier Ausdruck des destruktiven Hasses gegen andere und gegen sich selbst.“ Der Halbsatz zum Versagen des Therapeuten und zu seiner „dramatischen“ (?), „skandalösen“ und (abschwächend) „suizidbegünstigenden“ Art und Weise der „Verstrickung mit der Patientin“ hat wohl reine Alibifunktion, sonst wäre er nicht mit Sätzen eingerahmt, die das Opfer weiter diffamieren („intensiver Neid“, „bedürftige Abhängigkeit“, „destruktiver Hass“).

In dem Absatz, der dieser Falldarstellung unmittelbar vorausgeht, wird zum einen auf Kernbergs „Severe Personality Disorders“ (dt.: „Schwere Persönlichkeitsstörungen“) von 1984 Bezug ge- nommen, zum anderen geben die AutorInnen in dem gerade zitierten Nachsatz an, dass es sich um eine „von Otto F. Kernberg beschriebene Patientin“ handelt. Aber in dem Referenzwerk von Kernberg (1984) finde ich unter den (wörtlich gemeint) von A bis Z durchbuchstabierten Fallbeispielen kein einziges, das von einem solchen Suizid und seinen Begleitumständen berichtet. (Allerdings werden dort durchaus Patientinnen „beschrieben“, z.B. unter L bis N, denen im weiteren Verlauf ihrer „Behandlung“ das geschilderte Elend widerfahren sein könnte.) Auch in zwei anderen Kernberg-Werken, auf die sich die AutorInnen an anderer Stelle ihres Aufsatzes bezie- hen, habe ich eine entsprechende Falldarstellung nicht gefunden. Es würde mich nun also interessieren, woher sie all ihr „Wissen“ beziehen über die (angeblichen) Beweggründe der Klientin bei ihrer fiesen Attacke auf den bedauernswerten Therapeuten. Und ich würde gerne etwas näheren Aufschluss über die Gegenseite bekommen, z.B. über den Inhalt dieses Liebesbriefes des Therapeuten von „offensichtlicher Unkorrumpierbarkeit“. Darüber hinaus wüsste ich gern, wie der Therapeut seine „ethischen Bedenken“ genau formuliert hatte. Zusammen mit Informationen zu etlichen anderen offenen Punkten könnte ich dann vielleicht besser beurteilen, ob ich mich mehr mit dem (angeblichen) „destruktiven Narzissmus“ der Klientin, oder aber mit dem massiv schädigenden, verantwortungslosen Verhalten des Therapeuten beschäftigen sollte. Bezüglich der für mich wissenswerten Details hüllen sich jedoch die AutorInnen in Schweigen, obwohl sie über die Hintergründe präzise informiert zu sein scheinen. Stattdessen befleißigen sie sich einer gänzlich unprofessionellen Diffamierung und Verhöhnung eines Menschen, der sich während seiner Therapie suizidiert hat. Angesichts dieser Umstände gehe ich davon aus, dass die geschilderte Frau nur wegen einer völlig missratenen, unangemessenen „Behandlung“ zu ihrem Selbstmord getrieben worden ist, und dass ihr Therapeut weit davon entfernt war, sein Bestes zu tun, um ihrer Verzweiflung effektiv entgegenzuwirken.

Übrigens: Im Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter in den psychiatri- schen Diensten Thurgau an den Regierungsrat des Kantons vom 17.11.2010, verabschiedet am 12.04.2011, werden die Zustände in der Klinik Münsterlingen untersucht, in der Gerhard Damm- mann als Spitaldirektor und Ärztlicher Direktor tätig ist. In dem Bericht wird von einer Häufung von Suiziden zwischen September 2009 und März 2010 berichtet: Insgesamt hatten sich in ca. einem halben Jahr 8 PatientInnen das Leben genommen (sonstiger Durchschnitt: 2-4). Es wäre interessant zu ergründen, ob das so offensichtlich abschätzige Umgehen des Münsterlinger Spitaldirektors mit Patientensuizid, wie er es in seinem Fachartikel dokumentiert, diese Entwicklung begünstigt hatte.

Aber noch einmal zurück zu dem sehr „persönlichen Stil“ von Professor Kernbergs Psychoanalysen: „Ich spreche hier von einem Mann, der als einziger Überlebender seiner ganzen Familie als Kind im Alter von 12 Jahren [im mündlichen Vortrag heißt es: 8 Jahren; K.S.] aus dem Kon- zentrationslager befreit wurde, in dem seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet wurde“ (Kernberg, 1999, S. 9). Wer könnte unberührt bleiben von dem, was sich hinter dieser lapidaren Schilderung an Elend und Leid verbergen muss, wenn man sich aufgrund dieses einen Satzes nur für einen kurzen Moment in die Situation dieses Kindes hineinversetzt?

Ohne jedoch näher auf die massiv traumatisierende Erfahrung dieses Kindes einzugehen, glei- tet Kernberg mit wenigen Worten zu dessen Auffälligkeiten im Erwachsenenalter über, was im folgenden Satz mündet: „Die Untersuchung dieses Patienten und seiner Familie ergab ein erschreckendes Bild eines Mannes, der ein absoluter Diktator seiner Familie war, seine Tochter in ihrer Kindheit sexuell vergewaltigt hatte, verhinderte, dass sich seine Söhne von ihm unabhängig machen konnten und seine Frau wie eine Sklavin behandelte“. [Im Vortrag ist von zwei Töchtern und einem Sohn die Rede.] Sehr gut kann ich mir vorstellen, dass die geschilderten Extremerfahrungen im KZ das Seelenleben dieses Jungen und sein (offenbar problematisches) Verhalten geprägt haben, dass diese Erfahrungen noch viel später sein Leben überschattet und auch seine Familie in Mitleidenschaft gezogen haben. Mit keiner Silbe wird jedoch der Dynamik einer solchen Entwicklung im Detail nachgegangen. Vielmehr zieht Kernberg ein plumpes Re- sümee: „Ich übertreibe nicht, wenn ich meinen Eindruck wiedergebe, dass dieser Mann sich seiner Familie gegenüber so verhielt, als ob er der Kommandant des Konzentrationslagers sei, in dem seine ganze Familie ermordet wurde.“ Verhöhnt nicht eine solche Gleichsetzung von Opfer und Täter in unerträglichem Maß alle Menschen, die die Hölle eines KZs nur mit schwersten seelischen Blessuren überlebt haben?

Die Argumentation ist aber noch perfider: Ein Schlüsselbegriff ist für Kernberg die „chronische Aggression“. Er weiß (angeblich), wie sie sich entwickelt: Nämlich allein aus der „oralen Wut“ bzw. aus dem „oralen Neid“ des Säuglings. So ist es für Kernberg im Fall dieses Klienten erwie- sen (der ja seiner Familie gegenüber solch „chronische Aggression“ zeigt), dass er seine Verhaltensstörung nicht etwa im KZ bei der Ermordung seiner ganzen Familie entwickelt hat, son- dern als Säugling, während des Gestillt-Werdens. Seinen Hass und seine chronische Aggression bringt er als Kind in das KZ mit hinein.

Während Kernberg die Situation an der Mutterbrust bedenkenlos für lebenslange massive Ver- haltensstörungen verantwortlich macht, sieht er die Wirkung einer ganz anderen Klasse von Ereignissen – „Konzentrationslager, Kriegsneurosen [sic], schwere Unfälle, Vergewaltigung, Geiselnahme, politischer Terror, Folter, andere Formen schwerer physischer und sexueller Misshandlung, besonders in den frühen Kinderjahren, in den ersten zehn oder fünfzehn Jahren des Lebens“ – als vergleichsweise harmlos an. Die Wirkung solcher Traumata, so will Kernberg uns einreden, sei relativ überschaubar: „Das posttraumatische Stresssyndrom ist ein Syndrom, das allen schweren Traumata [den gerade aufgelisteten; K.S.] gemeinsam ist.“ Es sei charakterisiert durch „Angstzustände, Einschränkung der Ich-Funktionen, Wutausbrüche, wiederkehren- de Alpträume und Flash-backs“. Originalton: „Und dieses Syndrom dauert im Allgemeinen zwei bis drei Jahre und hat die Tendenz, langsam zu verschwinden.“ Der aus dem KZ befreite Acht- jährige hätte also – so der „Fachmann“ – eigentlich spätestens ab seinem elften Lebensjahr wieder ein ganz normales Leben führen können – wenn, ja, wenn er nicht als Säugling so schrecklich darin versagt hätte, seine orale Wut zu bezähmen!

Interessant, dass eine ähnliche Argumentation schon der Psychiater Ernst Kretschmer gepflegt hatte. Kretschmer und andere dem Nationalsozialismus nahe stehende Psychiater hatten im schönen Lindau die dortigen Psychotherapiewochen begründet. In Philipp Mettauers Studie „Vergessen und Erinnern“ (2010) über die Gründungsväter der Lindauer Psychotherapiewochen heißt es: „1955 attestierte Ernst Kretschmer als Gutachter in einem ‚Wiedergutmachungsverfah- ren’ eines an Depressionen leidenden Verfolgten des NS-Regimes, ohne diesen jemals gese- hen zu haben, dass es keine verfolgungsbedingten Neurosen gäbe, da die ‚Ausgleichsfähigkeit des Organismus bei schweren psychischen Traumen’ unbegrenzt sei.“ Schwer­ste Gewalterfahrungen führen also nicht zu Depressionen. Sie sind vielmehr aufgrund entsprechender Konstitution von Geburt an angelegt. (Das Gericht sei zwar der Position Kretschmers nicht gefolgt, sein Gutachten habe jedoch Eingang in juristische Kommentare gefunden.)

Es bestärkt also eine Lindauer Tradition, wenn Otto Kernberg ausgerechnet hier seine Lehren präsentiert. Auch das Jahr, in dem er die „Lindauer Thesen“ verkündet (1997), ist sicherlich mit Bedacht gewählt: In diesem Jahr feiert Sigmund Freuds „Ödipuskomplex“ sein hundertjähriges Bestehen. Offensichtlich soll Kernbergs Vortrag damals bekräftigen, was Freud 100 Jahre zuvor als angeblich universelle Kinderperversion aus dem antiken Mythos abgeleitet und zum Dogma erhoben hatte. (Im selben Jahr wird Kernberg zum Präsidenten der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ gewählt, also gewissermaßen zum Nachfolger auf Freuds Thron.)

Eine Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels systematischer, therapeutisch verbrämter Opferbe- schuldigung, auf das ich – neben anderen AutorInnen – seit bald 20 Jahren innerhalb der psy- chotherapeutischen Zunft hinzuweisen versuche, wurde bislang strikt verweigert. Die Ungeheu- erlichkeit dieser Vorgänge übertrifft m.E. den Skandal um die Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Kirchen, Internaten und Heimen bei weitem: Selten – mit Ausnahme vielleicht in der Ideologie der Wandervögel (Christian Füller: „Päderasten in der Jugendbewe- gung. Wandern und vögeln“, taz v. 11.06.2013) – wurden so offen die Urheber von (sexualisierter) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche so drastisch entschuldet. Kaum anderswo werden Opfer von brutalster Gewalt ausdrücklich auf sich selbst zurückgeworfen. Wohl nirgendwo sonst wird eine solche Einstellung als heilsame Therapie verkauft, wird ein solch brutaler geistiger Sadismus als „persönlicher Stil“ oder „Bildungserfahrung“ schöngeredet.

Nun soll Otto Kernberg an Allerheiligen eine Fortbildung an der Berliner „International Psycho- anlytic University“ eröffnen. Für die lernbegierigen Besucher gibt es fürs Zuhören Fortbildungspunkte von der Ärztekammer. Viele Menschen gedenken an diesem Tag ihrer Toten. Manche davon gingen an einem sehr persönlichen Stil ihrer Psychotherapie zugrunde. Kernbergs geplanter Auftritt in Berlin könnte der Öffentlichkeit Anlass geben, der Opfer verfehlter Psychotherapie zu gedenken. Er sollte ein Anstoß sein, in einer Art und Weise all dieser Verletzten und Toten zu gedenken, wie es in Bezug auf die Opfer von „sexuellem Kindesmißbrauch“ und „Heimunterbringung“ versucht worden ist – damit in Zukunft weiteres Elend möglichst weitgehend vermieden wird.

Und ich wünsche mir, …

… dass die PsychotherapeutInnenschaft in einen umfangreichen Diskurs über Fehler und Ver- schlechterungseffekte eintritt bzw. bestehende Ansätze vertieft;

… dass sie weiter und verstärkt an der Entwicklung effektiver, hilfreicher, menschenfreundlicher Methoden arbeitet;

… dass sie die Opfer von therapeutischem Fehlverhalten aufrichtig betrauert, die sich oft ge­nug zu Wort gemeldet haben, in den weitaus überwiegenden Fällen jedoch wohl ein­ge­schüch­tert, stumm, resigniert und/oder unbeachtet geblieben sind;

… dass sie klare Maßnahmen ergreift;

… dass meine Einwände und Kritiken – sofern sie nicht geteilt werden – eine ernsthafte Erwiderung erfahren, die hinausreichen sollte über ein: „Sie haben wohl Ihre eigenen Probleme noch nicht richtig aufgearbeitet! Ich kann Ihnen einen guten Psychoanalytiker empfehlen!“ Oder: „Sie haben wohl nicht verstanden, dass es hier um das Unbewusste geht!“ Oder: „Sie haben offensichtlich von Psychotherapie keine Ahnung!“ (Alles schon erlebt.)

… dass die hier zitierten AutorInnen sich meine Kritik durchlesen und zu Herzen nehmen;

… dass innerhalb unserer Zunft Kernbergs Vortrag – durchaus kontrovers – diskutiert wird;

… dass mir die Organisatoren der „Lindauer Psychotherapiewochen“ endlich meine wieder­holt vorgetragene Bitte gewähren, an genau dem Ort, an dem Otto Kernberg seine fatalen Thesen vor sechzehn Jahren in die Welt gesetzt hat, eine Plattform für eine kritische Diskussion der „Lindauer Thesen“ zu erhalten;

und dass die Bundesregierung einen „Runden Tisch Psychotherapieopfer“ ins Leben ruft, bei dem ExpertInnen das verhängnisvolle Wirken sadistischer Psychothera­peu­tIn­nen aufarbeiten und wirksame Maßnahmen zur Abhilfe vorschlagen.

Diplom-Psychologe/Psychotherapeut Klaus Schlagmann Scheidter Str. 62 66123 Saarbrücken
0681/375 805 KlausSchlagmann [at] t-online.de http://www.oedipus-online.de

Gradiva, wahrhafte Dichtung, wahnhafte Deutung

Klaus Schlagmann, Dipl.-Psych.

Eine kritische Analyse zu Sigmund Freuds umfangreichster Literaturanalyse, „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’“ (1907), Erstveröffentlichung von Freuds Briefen an den Dichter, sowie Hintergrundinformation zu der von Freud selbst, aber auch von seiner Gefolgschaft bis heute ignorierten Lebenswirklichkeit des Schriftstellers Wilhelm Jensen

1902 erscheint die Novelle „Gradiva“ von Wilhelm Jensen  (1837-1911). Ihr Inhalt: Ein junger Archäologe, Norbert Hanold, ist fasziniert von einem (real in einem Muse­um in Rom befindlichen) antiken Reliefbild, das eine markant einherschreitende junge Frau darstellt. Er benennt die Figur „Gradiva“ – „die Vorschreitende“. Über mehrere Tage hinweg stellt der Archäologe Mutmaßungen an über die junge Frau, die dem Künstler als Modell gedient hat. U.a. glaubt er, sie müsse eine Pompejanerin gewesen sein. In einem Traum erlebt er, wie die Gradiva-Gestalt beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji im Jahr 79 durch die untergehende Stadt schreitet und sich schließlich zum Sterben auf die Stufen des dortigen Apollo-Tempels niederlegt. Bei einer kurz darauf unternommenen Forschungsreise nach Pompeji begegnet Hanold in der Ruinenstadt einer jungen Frau mit dem charakteristischen Gradiva-Gangbild. Der schwärmerisch veranlagte Wissenschaftler, dem die Mittagshitze zu Kopf ge­stiegen ist, glaubt nun, in ihr dem Geist der in seinem Traum verschütteten Gradiva zu begegnen. Über drei Treffen hinweg mit diesem vermeintlichen Geist – jeweils zur Mittagsgespensterzeit – bleibt der junge Archäologe in seiner Einbildung gefangen. Am Ende ergibt sich dann eine überraschende Auflösung.

Diese Novelle wird Gegenstand von Sigmund Freuds umfangreichster Literatur­be­sprechung: „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’“ (1907). Die druck­frische Abhandlung hatte Freud, offenbar kommentarlos, dem Schriftsteller vom Ver­lag zusenden lassen. Jensen nimmt – wohl noch am selben Tag, an dem er Freuds Schrift erhalten hat, am 13. Mai 1907 – eine kurze Korrespondenz mit Freud auf. Es kommt zu jeweils drei Schreiben auf beiden Seiten. Jensens Briefe sind seit 1929 publiziert. Freuds Briefe werden nun erstmals veröffentlicht. Sie waren dem Autor bei einem Treffen der Familie zum 100. Todestag von Jensen zur Publikation anvertraut worden, nachdem sie kurz zuvor im Nachlass eines Zweigs der Familie aufgetaucht waren. (Inzwischen werden sie als Leihgabe im Jensen-Archiv in Kiel aufbewahrt.)

Freud spekuliert aufgrund der Novelle über Jensens Lebenswirklichkeit. In der Ab­handlung selbst bleibt er noch sehr unkonkret. Er lässt vage anklingen, dass es – im Leben der Novellenfigur, wie auch bei ihrem  Schöpfer – um die Verdrängung von etwas Anstößigem gehe. Zu dem doch sehr zentralen Punkt, worin denn jetzt genau das Anstößige liegen soll, belässt Freud seine LeserInnen im Dunkeln. Vermutlich hat er sich mit seinen Spekulationen bei der Abfassung seiner Schrift selbst noch nicht festgelegt. Von dem damals noch befreundeten C.G. Jung wird Freud un­miss­verständlich auf die bestehende Lücke hingewiesen. So spinnt Freud noch ein hal­bes Jahr nach dem Erscheinen der Abhandlung seine Mutmaßungen fort. Jung selbst bringt ihn auf eine Spur: Jensen sei wohl in eine Schwester verliebt gewesen. Und Freud setzt eins oben drauf: Die Schwester war wohl noch dazu mit einem Spitzfuß körperlich behindert!

In seinem letzten Brief vom 16. Dezember 1907 ringt Freud um eine Bestätigung dieser Hypothese durch den Dichter: „Meine Frage lautet nämlich: Haben Sie zur Jugendgespielin – am liebsten ein jüngeres Schwesterchen – gehabt, das krank war u[nd] früh starb, eventuell eine Verwandte, die Sie zur Schwester wünschten? Und wenn ja, woran u[nd] wann starb sie? Welches war ihr Gang? War nicht gerade dieser durch ihr Kranksein beeinträchtigt?“

Am 19. Dezember 1907 antwortet Jensen hierzu freundlich und wahrheitsgemäß: „Nein. Eine Schwester habe ich nicht gehabt. Überhaupt keine Blutsverwandte.“ Und offenbar gibt es für ihn keinen Anlass, auf irgendwelche Fußerkrankungen bei sonstigen Personen aus seinem sozialen Umfeld zu verweisen.

Diese Auskunft offenbart, wie grandios sich Freud und Jung geirrt hatten. Jensen war tat­sächlich – ohne jeglichen Kontakt zu irgendwelchen Blutsverwandten – als unehe­liches Kind des Bürgermeisters von Kiel und einer Dienstmagd von einer kinderlosen Pflegemutter großgezogen worden. Perverse Inzestneigungen gegenüber einer Schwe­ster inklusive einer Verkehrung ins Gegenteil – die faszinierende, schöne Fußstellung der jungen Frau müsste auf ein hässliches, krankhaftes Gangbild ver­weisen – waren also ausgeschlossen.

Freud reagiert beleidigt, weil sich seine kühne Deutung als so offensichtlich unsinnig erwiesen hat. Gegenüber Jung berichtet er brieflich am 21.12.1907: „Von Jensen habe ich nachstehende Antwort auf meine Erkundigung erhalten, die … zeigt, wie wenig er solche Forschungen zu unterstützen geneigt ist … Die Hauptfrage, ob der Gang der Urbildpersonen irgendwie pathologisch war, hat er gar nicht beantwortet.“ Und im Jahr 1912 bringt er es sogar ungeniert an die Öffentlichkeit: Jensen habe die Mitwirkung bei der Deutung der Novelle versagt.

Die Recherchen zu Jensens biografischem Hintergrund legen jedoch nahe, dass er – sehr präzise und bewusst – reale Erfahrungen in seine Texte einfließen lässt. Und diese Hintergründe hatte er Freud bereitwillig mitgeteilt: Er wollte offenbar geliebten Menschen eine lebendige Erinnerung bewahren.

Jensens Lebenswerk ist sehr umfangreich: Ca. 150 Gedichtbände, Theaterstücke, Romane und Novellen hat er verfasst. Seine „Gradiva“ bringt dabei wohl in ge­konn­tester Form sein zentralstes Lebensthema zum Ausdruck – Entsetzen und Trauer über den frühen Verlust einer Kindheitsfreundin, deren Tod im Alter von 18 Jahren (wohl an Tuberkulose) der 20-jährige Jensen hautnah miterlebt hatte: Noch wenige Stunden vor ihrem Sterben hatte Clara Witthöfft zum letzten Abschied ihre „todten­weiße Hand“ auf das Haupt des in seiner ganzen Betroffenheit vor ihr nieder­knien­den jungen Mannes gelegt. So jedenfalls offenbart es Jensen selbst, mehr als dreißig Jahre später, in einem Brief an eine gemeinsame Freundin.

Jensens Angehörigen war der biografische Bezug zu der „Gradiva“-Novelle wohl sehr bewusst: Sie haben – offenbar mit Bedacht – für den zuletzt in Prien bzw. München lebenden Schriftsteller von dem Münchner Bildhauer Bernhard Bleker nach einem in Münchens Glyptothek befindlichen antiken Vorbild („Grabmal des Jägers“) einen Grabstein gestalten lassen, der sowohl dem Gradiva-Relief, als auch der Novelle selbst eine gelungene Referenz erweist. Das Grab befindet sich auf der Fraueninsel (Chiemsee), auf der Jensen seine Gattin Marie kennengelernt hatte.

Freuds „Gradiva“-Abhandlung zeigt mustergültig die Problematik seines Ansatzes. Geradezu wahnhaft versucht er, der Wirklichkeit seine Deutung aufzudrängen. Oft genug wird er nicht bestätigt – und er reagiert gekränkt und rechthaberisch. (Weitere Belege für diesen markanten Zug im Wesen Freuds werden im Anhang zitiert.) Freuds blinde Gefolgschaft setzt die Wirklichkeitsverleugnung fort – bis in die heu­tigen Tage: Z.B. Elisabeth Roudinesco und Michel Plon (2011), die in ihrer Abhand­lung zu Freuds Gradiva-Deutung im „Wörterbuch der Psychoanalyse“ auf nur drei Text-Seiten zum Thema neun Fehlinformationen in die Welt setzen. Dabei sind längst viele Einzelheiten publiziert, die Freuds falsche und verlogene Analyse kor­rigieren. Aber die gläubige Anhängerschaft will sich wohl nicht von den Fakten verwirren lassen.

In der Rezension von „Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung“ durch Professor Albrecht Hirschmüller (in: Luzifer-Amor, 26. Jg, 2013, S. 176-179), der das Werk immerhin – wegen der Erstveröffentlichung der Freud-Briefe – in die Bibliographie der Freud-Werke (Ergänzung, 2013) aufgenommen hat, lautet denn auch das trot­zige Resümee: „Schlagmanns Buch reiht sich in die Freud-Bashing-Literatur ein; die Lektüre hinterlässt einen schalen Geschmack.

Dass die fundierte Analyse von Freuds grotesker Fehldeutung, an der die psycho­analytischen Kreise noch nach über 100 Jahren beharrlich festhalten wollen, von den ewig-gestrigen Propagandisten der Freud’schen Heils-Lehre nicht mit gutem Appetit aufgenommen worden ist, muss nicht weiter verwundern. Wäre es anders gekom­men, so müsste wohl an der Analyse etwas Wichtiges fehlen. Und auch, wenn die Pseudo-ExpertInnen für anstößige und verdrängte Kinderperversionen der Wahrheit nur einen „schalen Geschmack“ abgewinnen können, so werden sie wohl doch nicht umhin können, sie zu schlucken und sie irgendwann auch zu verdauen.

 Klaus Schlagmann: Gradiva. Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung. Der vollständige Briefwechsel von Wilhelm Jensen und Sigmund Freud, Erläuterungen zu Jensens Novelle „Gradiva“ und ihrer Interpretation durch Freud, Jensens Lebenswirklichkeit, einige seiner Gedichte – darunter ein Spottgedicht auf Freuds Deutung – und der illustrierte Gesamttext der „Gradiva“ (unter Einbezug der Erstveröffentlichung von 1902). Saarbrücken (Der Stammbaum und die 7 Zweige. Klaus Schlagmann) 2012, 240 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 19,99 Euro.

Krankenkassen finanzieren Lobbyarbeit für Kinderschänder

Krankenkassen finanzieren Lobbyarbeit für Kinderschänder

Psychotherapeutenkammer-Vorstand (im Saarland) behindert kritische Diskussion

 

·          Kinderschänder wälzen häufig ihre Schuld auf die Opfer ab.

·          Von psychotherapeutischer Seite wird ihnen beigepflichtet. Eine Fachpublikation (1999) behauptet: Eine Grundschülerin erlebe bei einer Vergewaltigung durch ihren Vater „typischer Weise“ einen „sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“! Sie müsse „ihre Schuld tolerieren“!

·          Diese These geht letztlich zurück auf die Lehre von Sigmund Freud, der in diesem Jahr weltweit zu seinem 150. Geburtstag geehrt wurde.

·          Der Vorstand der Psychotherapeutenkammer des Saarlandes behindert bis heute aktiv eine kritische Diskussion der zitierten Lobbyarbeit für Kinderschänder.

·          Mit meinem Appell richte ich mich an die Kostenträger von Psychotherapie und an die Öffentlichkeit: Helfen Sie mit, die Lobbyarbeit für Kinderschänder zu stoppen!

Der nachstehende Text wurde an ca. 100 Geschäftsstellen von privaten und gesetzlichen Krankenkassen versandt, ebenso an den Saarländischen Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Herrn Dr. Josef Hecken.

Kommt der sexuelle Missbrauch von Kindern zur Anklage, dann wälzen die Täter oft ihre Schuld auf die Opfer ab, indem sie behaupten, sie seien von den Minderjährigen provoziert worden. Eine geradezu „professionelle“ Schuldzuweisung an die Opfer wird dabei (wohl unfreiwillig) von den Krankenkassen finanziert – als sogenannte „Psychoanalyse“.

Ein Fallbeispiel: Eine Frau leidet an schweren depressiven Störungen; sie ist als Kind von unter zehn Jahren von ihrem Vater vergewaltigt worden. Ihr Psychoanalytiker deutet: Die Grundschülerin habe dabei „typischer Weise“ einen „sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt. Die Frau müsse „ihre Schuld tolerieren“. So Otto F. Kernberg, Mitglied im Beirat der Lindauer Psychotherapiewochen. Er hatte in Lindau diese und ähnliche Anklagen 1997 unwidersprochen vorgetragen, 1999 publiziert.

Woher kommt eine solch gnadenlose Ignoranz gegenüber den kindlichen Opfern von sexuellem Missbrauch in psychotherapeutischen Fachkreisen?

Ein gut einhundert Jahre altes, bis heute gerühmtes Lehrwerk der Psychotherapie liest sich wie ein Handbuch für Kinderschänder: Der 27jährige Herr Z. presst eine 13-Jährige in seinem menschenleeren Büro an sich und küsst sie – gegen ihren Willen – auf den Mund. Obendrein spüre sie dabei die Erektion des Mannes. Sie ekelt sich, reißt sich los und rennt weg. Dies beweise, dass das Mädchen bereits „ganz und voll hysterisch“ sei: „Anstatt der Genitalsensation [= sexuellen Erregung], die bei einem gesunden Mädchen unter solchen Umständen gewiß nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr … der Ekel [ein]“! Der Fachmann: „Ich kenne zufällig Herrn Z.; …. ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußern“. Zwei Jahre später quittiert das Mädchen einen Heiratsantrag dieses (verheirateten) Herrn mit einer Ohrfeige. Der Autor analysiert: „Dass sie von dem Vorfalle ihre Eltern in Kenntnis gesetzt, legte ich als eine Handlung aus, die bereits unter dem Einflusse krankhafter Rachsucht stand. Ein normales Mädchen wird, so sollte ich meinen, allein mit solchen Angelegenheiten fertig.“ „Gesunde“ und „normale“ Jugendliche halten demnach bei solcher Zudringlichkeit still, genießen ihre Erregung und sind gegenüber ihren Eltern verschwiegen!

Sigmund Freud, der Autor dieses „Handbuchs“ – Bruchstück einer Hysterieanalyse (1905) – verfolgt seit dem September 1897 die These vom „polymorph perversen Kind“ und vom „Ödipuskomplex“. Die Abneigung von Jugendlichen gegen die Zudringlichkeit von Erwachsenen ist für ihn der Ausdruck einer psychischen Störung, deren Ursache sucht er in (unterstellten) kindlichen Perversionen. Dies führt – konsequent zu Ende gedacht – zu Otto Kernbergs These vom „sexuell erregenden Triumph“ eines vergewaltigten Kindes und von dessen „Schuld“. Der langjährige Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) findet damit leider immer wieder begeisterte Zustimmung unter sogenannten Fachleuten, wie z.B. das Werbematerial einer mit ihm geplanten Veranstaltung Ende Oktober 2006 in Rott­weil belegt: http://www.milton-erickson-institut.de/programm/workshops/kernberg.html.

Die von Kernberg propagierte „Therapie“ muss jedoch m.E. bei den Betroffenen geradezu eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bewirken! Deshalb werbe ich seit dem Jahr 2000 bei Kongressen, mit Publikationen, per E-mail-Rundschreiben, auf einer Homepage (http://www.oedipus-online.de) oder in Diskussionen für Widerspruch gegen Kernbergs Position. Meine Kritik wurde teilweise brüsk abgewiesen, überwiegend beschwiegen. Am 19. Dezember 2000 hatte ich das Saarländische Ministerium für Gesundheit und Soziales um Unterstützung gebeten. Psychiatriereferent Ingwardt Tauchert lehnte ab: Die Politik sei nicht zuständig. Das Problem gehöre in eine Psychotherapeutenkammer. Die gab’s aber damals noch nicht.

Als sich im Jahr 2004 im Saarland eine solche Kammer konstituiert hatte, schrieb ich einen Leserbrief an deren Organ, das FORUM, das alle 408 Kammermitglieder kostenlos beziehen. Auf dem Hintergrund ausgiebiger Zitate aus Kernbergs Text wollte ich an meine Kollegen/-innen appellieren: „Im Interesse unserer Klientinnen und im Interesse unseres Rufes sollten wir derartig unmenschlichen Positionen, wie oben zitiert, ausdrücklich eine gemeinschaftliche Absage erteilen!“ Der Brief wurde nicht abgedruckt. Begründung der Kammerpräsidentin Ilse Rohr im FORUM 4 (September 2004): Das FORUM wolle „keine Plattform für Vorurteile oder Polemik bieten“!

In der Vertreterversammlung der Kammer vom 28. Februar 2005 stellte ich meinen Beitrag zur Diskussion. Meine Kritik verunglimpfe Arbeitsmethoden, so das Protokoll dieser Sitzung. Meine Bemühungen, eine Debatte zu dem Thema anzuzetteln, wurden bis in den März 2006 hinein von Seiten des Kammervorstands nach Kräften behindert. (Genauere Darstellung unter: http://www.oedipus-online.de/rohr.html.)

Da meine langjährigen bundesweiten Bemühungen um kritische Diskussion innerhalb des Kollegenkreises ohne nachhaltige Resonanz geblieben sind, richte ich nun meinen Appell an die Kostenträger der Psychotherapie und an die Öffentlichkeit:

·   Die Opfer von sexuellem Missbrauch leiden oft genug an Schuldgefühlen, weil sie ihnen z.B. von den Tätern eingeredet wurden. Legen Sie denjenigen „Fachleuten“ das Handwerk, die die Leidtragenden weiter in diese Schuldgefühle hineintreiben!

·  Stoppen Sie die Finanzierung einer derartigen Lobbyarbeit für Kinderschänder!

·  Üben Sie Druck aus auf den bisherigen Vorstand der Saarländischen Psychotherapeutenkammer, den Weg frei zu machen für eine kritische Diskussion des bezeichneten Missstands!

 

Klaus Schlagmann, Scheidter Strasse 62, D – 66123 Saarbrücken
KlausSchlagmann@aol.com  –  http://www.oedipus-online.de

 

 

Nachwort zu vorstehendem Beitrag von K. Schlagmann

 

Zur Website des Diplom-Psychologen Klaus Schlagmann setzten wir im Juli 2006 bereits eine Verbindung in der Rubrik „Links“, (nicht ganz) kleine Positionsunterschiede von INFC dabei darlegend. In vorstehender Sache aber hat Schlagmann unsere volle Unterstützung, nicht zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit seiner Berufsvertretung, der saarländischen Psychotherapeutenkammer. Wußte ihr Organ FORUM doch nicht besser zu reagieren, als seine mehr als berechtigte Klage als „Vorurteil“ und „Polemik“ zu verreißen und abzuschmettern.

Ähnlich halten es freilich auch die einschlägigen ärztlichen Organe, Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und die psychiatrischen und ärztlich-psychotherapeutischen Fachvertretungen. Seit Jahr und Tag bekommen sie den Mund nicht voll genug, die psychischen Leiden im Land zu beklagen, phantastische Behandlungsmöglichkeiten und Behandlungsbedürfnisse aufzeigen und dafür immer mehr und noch mehr Geld anzufordern. Nie aber verlieren sie ein Wort darüber, welch fragwürdig-„therapeutische“ Vorstellungen dabei „über den Tresen gehen“ und welche noch fragwürdigeren Wirkungen diese oft genug zeitigen. Mitunter scheint es, es sei das alles, sei insbesondere die Behinderung der kritischen Diskussion politisch gewollt. Die Medien schweigen links wie rechts.

Nachdem die Walter-von-Baeyer-Gesellschaft (GEP) diese und ähnliche Sachverhalte seit 1977 aufzeigt, das Internationale Netzwerk der Freud-Kritiker (INFC) es seit 2003 gar dreisprachig tut, freuen wir uns, daß im deutschen Sprachraum nun eine zweite Stimme laut geworden ist, die auf weitere Aspekte dieser tragisch-aberwitzigen Situation aufmerksam macht.

Vorstehende Bemerkungen sollen nicht die positiven Leistungen und Entwicklungen verdecken, die es in der  „Seelenheilkunde“ auch gibt, Entwicklungen, die langsam von abgehobenen, abstrusen Konstrukten wie den Freudschen weg zu einer menschengerechteren und so auch hilfreicheren „Psychotherapie in den Lebenswissenschaften“ führen (Bräutigam W., Der Nervenarzt 7/2006).

Dr. F. Weinberger

Vorsitzender, GEP                                                            23. August 2006

 

Nachtrag des Herausgebers (Mai 2007)

 

Seine Kritik an Kernbergs Theorie bezüglich „psychischer Traumen“ versuchte Schlagmann inzwischen auch in einer Fachzeitschrift weiter dazustellen. Dort dazu anfänglich ermuntert, stieß er letztlich dann doch auf Ablehnung trotz prominenter Befürworter. Dr. Sophie Freud, Enkelin Sigmund Freuds (s. „Freud zu Freud“), schrieb ihm: „Ihre Entrüstung gegen Kernberg scheint mir sehr berechtigt. Der Kerl hat so viele aggressive Klienten, weil sein Verhalten solche Gefühle herausfordert, und er sieht die Aggressionen nicht als Antwort auf sein Benehmen, sondern interpretiert sie ganz anders. Ich weiss wirklich nicht, warum er so beliebt ist, vor allem in Europa… Sie sollten im deutschen Bereich ihre Stimme erheben, eben so, daß sie mehr gehört wird. Ich wünsche Ihnen besten Erfolg.“

 

Egoistisch-„aggressive Klienten“ werden als Ergebnis psychoanalytischer Kuren nicht selten beobachtet. Schlagmanns Texte wie auch die zunächst interessierten Ermunterungen und die dann folgenden Begründungen für ihre Zurückweisung können nachgelesen werden unter: http://www.oedipus-online.de/feigenblaetter.htm. Schlagmann fragt: „Haben Fachzeitschriften zum Thema „psychisches Trauma“ reine Alibifunktion? Sollen sie die beschämende Blöße bedecken, die in diesem Bereich herrscht?

 

Psychoanalytische Mythologie

 Allen Esterson, London

Psychoanalytische Mythologie

 

Nach den traditionellen Berichten erzählten Freud die meisten seiner weiblichen Patienten in den 1890er Jahren, sie seien in früher Kindheit mißbraucht worden meist von ihrem Vater. Wie diese Geschichte nun weitergeht, hängt davon ab, ob sie bei dieser überkommenen Weise blieb oder zu der revidierten Version wechselte, die von Jeffrey Masson popularisiert und von vielen Feministen bereitwillig aufgegriffen wurde. In der orthodoxen Version wird uns gesagt, Freud habe innerhalb kurzer Zeit realisiert, daß viele der Berichte, die er zu hören bekam, nicht authentisch waren, daß die Damen phantasierten und dies zu seiner epochemachenden Entdeckung kindlicher, inzestuöser Phantasien führte (dem Oedipuskomplex). Nach der Version der Feministen war es jedoch die harte Opposition der aufgebrachten Kollegen gegen die von Freud behaupteten verbreiteten Übergriffe, die ihn veranlaßte, die Theorie aufzugeben. Vordem ein einfühlsamer Zuhörer, habe er jetzt die Frauen verraten, die den Mut hatten, ihm ihre schrecklichen Mißbrauchserlebnisse mitzuteilen.

Welcher Version Sie nun folgen wollen, geben sie beide dramatische Geschichten ab, die beide auch ihre fest überzeugten Anhänger haben. Die grundlegenden Elemente sind die gleichen. Ihre Ausdeutung jedoch ist grundverschieden. Ich habe den Verdacht, daß die meisten Menschen sich hier auf ihr Bauchgefühl verlassen und zu Masson stehen, auf Unterdrückung der Wahrheit setzen bezüglich damals verbreiteter sexueller Übergriffe auf Mädchen. Es ist aber Zeit für eine Realitätsprüfung.

Die Artikel, die Freud in den 1890ern publizierte wie auch seine Korrespondenz mit seinem Intimus (dem Berliner HNO-Arzt) Wilhelm Fließ, erzählen eine ganz andere Geschichte. Um es kurz zu fassen, sagten Freuds Patientinnen ihm damals (etwa Mitte des Jahrzehnts) keineswegs, sie seien in ihrer frühen Kindheit sexuell mißbraucht worden. Im Gegensatz zu dem, was Freuds spätere Berichte behaupten, „versicherten“ sie ihn, als er sich seine Benhandlungsnotizen machte, bezüglich der von ihm vorgefaßten, im Kindesalter angeblich erlittenen sexuellen Traumen ganz „entschieden ihres Unglaubens (GW-I:441).

Die wesentlichen Züge dieser Episode können folgendermaßen gezeichnet werden. Während der frühen 1890er war Freud überzeugt, daß den Symptomen der von ihm als hysterisch diagnostizierten Patienten verdrängte Erinnerungen an sexuelle Vorstellungen oder Erfahrungen zugrunde lägen – nicht unbedingt aber solche aus der Kindheit.[1] Im Oktober 1895 entflammte er in spekulativer Vorstellung an einer Theorie, die seiner Überzeugung nach ein für alle Male jetzt das Problem der Ursache der Psychoneurosen löste. Hysterische Symptome würden ausnahmslos durch unbewußte Erinnerungen an sexuelle Übergriffe in der Kindheit verursacht.

Seine neu entwickelte analytischen Technik zur Aufdeckung unbewußter Ideen seiner Patient/inn/en nützend, machte sich Freud sofort daran zu zeigen, daß er recht hatte. Obwohl er von irgendwelchen Fällen aufgedeckter kindlicher Mißbräuche zuvor nichts hatte verlauten lassen, stellte er nach der (vertraulichen) Mitteilung seiner neuen Theorie an Fließ innerhalb von vier Monaten zwei Artikel fertig, in denen er behauptete, er habe die Symptome von jeder, jedem von 13 hysterischen Patient/inn/en sowie einigen Zwangskranken auf infantile Erfahrungen sexuellen Mißbrauchs „zurückverfolgen“ können. Einige Monate später hielt er einen Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“, in dem er eine erweiterte Darlegung seiner Theorie abgab und behauptete, sie sei bei 18 als hysterisch diagnostizierten Patien/inn/en bestätigt worden.

Wie gelang es Freud bei allen seinen Patient/inn/en in so kurzer Zeit zu tief verdrängten Erfahrungen dieser Art Zugang zu finden? Obwohl er behauptete, er habe die Patienten dazu gebracht, ihre infantilen Erfahrungen zu „reproduzieren“ (was er mit „Reproduktionen“ meinte, steht einem breiten Spektrum von Interpretationen offen), ist klar, daß er zu seinen Befunden durch ein Decodieren ihrer Symptome und die analytische Deutung der Ideen gelangte, die sie unter der „Druck-Prozedur“ äußerten, welche er zu jener Zeit anwandte. Er erklärte, daß die Symptome  mit dem „Empfindungsinhalt der Infantilszenen sexueller Mißbräuche (GW-I: 451) korrespondierten, die er als zugrundeliegend erschlossen habe. Sein analytisches Vorgehen, so schrieb er, sei analog zu dem eines Gerichtsmediziners, der zur Ursache einer Verletzung vordringen könne, „selbst wenn er auf die Mitteilung des Verletzten verzichten muß“ (GW-I:426).

Als Beispiel führt er eine Patientin an, die an einem Gesichtstic und einem Mundekzem litt. Aus diesem Symptomen schloß Freud analytisch, daß sie in ihrer Kindheit (von ihrem Vater) gezwungen worden war, Fellatio an ihm zu begehen (an seinem Glied zu lutschen). „Als ich ihr die Aufklärung entgegenschleuderte“ und sie (nach Rücksprache mit ihm) „heftigstes Sträuben“ zeigte, habe er ihr, wenn sie ihren Skeptizismus beibehielte, „das Wegschicken angedroht“ („habemus papam!“, in etwa: „da haben wir den Vater!“, schrieb er höhnisch-triumphierend am 3.1.1897 an Fließ). Eine Zurückweisung seiner Schlußfolgerungen war für Freud Beweis eines (neurotischen) „Widerstands“ des Patienten. Sie lieferte ihm die weitere Bestätigung, daß seine analytischen Rekonstruktionen zutreffend waren.

Innerhalb von zwei Jahren, nachdem er seine Lösung der Ätiologie der Neurosen öffentlich verkündet hatte, verlor Freud den Glauben an sie. Aber anstatt, daß dies ihn zur Frage nach der Verläßlichkeit seiner neu entwickelten Technik der Rekonstruktion unbewußter Erinnerungen geführt hätte, suchte er jetzt, seine behaupteten Entdeckungen als unbewußte Phantasien seiner Patient/inn/en zu erklären. Das nötigte ihn zu manch nachträglicher Berichtigung der ursprünglichen Behauptungen, um seiner neuen Theorie auch nur die geringste Plausibilität zu verschaffen. Tatsächlich lief die Geschichte über eine Reihe von Zwischenstationen, bis sie endlich bei der bekannten Version der „Neuen Vorlesungen zu Einführung in die Psychoanalyse“ (1933) landete: „In der Zeit, in der das Hauptinteresse auf die Entdeckung sexueller Kindheitstraumen gerichtet war, erzählten mir fast alle meine weiblichen Patienten, daß sie vom Vater verführt worden waren“ (GW-XV:128f).[2] Übrigens fiel es anscheinend noch niemandem als merkwürdig auf, daß es nur diese kurze Periode war (1895-98), in der „fast alle“ Patientinnen Freuds ihm von sexuellen Mißbräuchen in der frühen Kindheit berichtet haben sollen.

Es ist wichtig sich bewußt zu werden, daß die traditionellen Berichte keine Vorstellung davon vermitteln, daß die angeblichen „Phantasien“ unbewußte Ideen oder Erinnerungen des Patienten sind, die Freud glaubte mit seiner analytischen Technik der Deutung aufgedeckt (d.h. rekonstruiert) zu haben. (Freuds Gebrauch des Wortes „Phantasie“ wird von James Strachey in der (englischen) Hogarth Standard Edition als „phantasy“ übersetzt, sonst in der Literatur üblicherweise aber als „fantasy“, was Lesern den falschen Eindruck vermittelt, Freud hätte allgemein von bewußten Ideen seiner Patient/inn/en gesprochen).

Es gibt bei Freuds nachträglichen Berichten über die Episode eine beträchtliche Zahl von Ungereimtheiten, zu viele, um sie alle hier abzuhandeln. Eine davon ist, daß er ursprünglich behauptet hatte, die „kindlichen Traumen“, die er aufgedeckt hatte, könnten „sämtlich“ als „schwere sexuelle Schädigungen“ beschrieben werden.[3] Wie sich angebliche „Erinnerungen“ an Erfahrungen, die nach seiner Beschreibung brutal, „gelegentlich geradezu abscheulich“ waren, plausibel als unbewußte „Verführungsphantasien“ erweisen können, die im übrigen (nach seiner ersten Erklärung) gar den Zweck verfolgten, störende Erinnerungen an kindliche Masturbation abzuwehren, dazu unternahm Freud keinen Erklärungsversuch. Die gleichen Vorbehalte stehen auch seiner späteren Version entgegen, die angeblichen „Verführungsphantasien“ seien Projektionen der ödipalen Wünsche seiner Patienten. In keinem Fall konnte Freud je wissen, ob seine analytischen Rekonstruktionen verdrängte Erinnerungen wirklicher Ereignisse oder unbewußte Phantasien seiner Patienten – oder, was der Realität wohl am nächsten kommt, imaginative Szenarien darstellten, die seinem eignen Gehirn entsprangen.

Wenig bekannt ist, daß Freud 1896 behauptete, für jeden seiner sechs Zwangspatienten verdrängte Erinnerungen nicht nur von passiv erlittenen sexuellen Mißbrauchsszenen aufgedeckt zu haben, sondern auch – in einem nur wenig höheren Alter – von aktiven sexuellen Erfahrungen. Nie wurde etwas von diesen bemerkenswerten „klinischen Entdeckungen“ wieder gehört. Freud machte keinen Versuch zu erklären, wie seine spätere Theorie der „unbewußte Phantasien“ (des Ödipus-Komplexes) dazu passen könnte.

Obige Argumente widersprechen gewiß der überkommenen Geschichte der Psychoanalyse ebenso wie der Version von Jeffrey Massons, der aber aus anderen Gründen Stichhaltigkeit abgeht. In THE ASSAULT ON TRUTH meinte er, Freuds Motiv für die Aufgabe der Verführungstheorie sei teilweise der Versuch gewesen, sich bei seinen Kollegen, die angeblich über seine klinischen Behauptungen empört waren, wieder einzuschmeicheln. Diese These wird jedoch schon durch die Tatsache durchlöchert, daß Massons Bericht über die Ausgrenzung Freuds durch seine Kollegen gänzlich in die Irre geht. Sie wird aber auch dadurch aufgehoben, daß Freud sein Abrücken von der Verführungstheorie, nachdem er es privat (seinem Intimus Fließ) eröffnet hatte, seinen Kollegen sonst sieben Jahre lang verbarg. (Masson behauptete irrtümlich,  daß „die kritische Periode für Freuds Meinungsänderung bezüglich der Verführungstheorie … zwischen den Jahren 1900 und 1903“ lag. Diese vage Datumsangabe schließt zwar viel von der Lücke zwischen der Aufgabe der Theorie und Freuds öffentlicher Kundgabe seines Sichtwechsels und kommt Massons These entgegen. Freuds Briefe an Fließ zeigen jedoch klar, daß er die Verführungstheorie schon Ende 1898 gänzlich aufgegeben hatte).

Daß die tradierte Geschichte der Episode der Verführungstheorie in allen wesentlichen Teilen falsch ist, wurde in jüngerer Zeit besonders bedeutsam, als sie in die Debatte über die Verdrängung von Erinnerungen an Kindesmißbrauch einbezogen wurde, vermeintlichen Erinnerungen, die einige Jahrzehnte später „wieder entdeckt“ wurden. Man muß die historischen Fakten auf die Reihe bekommen haben, bevor Freuds angebliche frühe klinische Erfahrungen irrtümlich zur Stützung der einen oder anderen Seite angeführt werden. Allgemeiner gesagt, stellt, wie es (der amerikanische Philosoph und Freud-Kritiker Prof.) Cioffi ausdrückte, ein akkurater Bericht über den Übergang von der Verführungstheorie zu der ihr nachfolgenden  Phantasie-(oder: Ödipus-)Theorie alles Räsonieren in Frage, das Freud für den Rest seiner Karriere aufbieten mußte, um kindliches Phantasie-Leben und die Inhalte des „Unbewußten“  zu rekonstruieren.

 

Literatur:

Cioffi, F. (1998 [1974]). „Was Freud a liar?“ In Freud and the Question of Pseudoscience. Chicago and La Salle: Open Court, pp. 199-204.
Esterson, A. (1993). Seductive Mirage: An Exploration of the Work of Sigmund Freud, Chicago: Open Court.
Esterson, A. (1998). „Jeffrey Masson and Freud’s Seduction Theory: a New Fable Based on Old Myths.“ History of the Human Sciences, 11 (1), pp. 1-21.
Esterson, A. (2001). „The Mythologizing of Psychoanalytic History: Deception and Self-deception in Freud’s Accounts of the Seduction Theory Episode.“ History of Psychiatry, xii, pp. 329-352.
Esterson, A. (2002). „The Myth of Freud’s Ostracism by the Medical Community in 1896-1905.“ History of Psychology, 5 (2), pp. 115-134.
Freud, S. (1953-1974). The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, ed. and trans. by J. Strachey et al. London: Hogarth Press.(deutsch: Gesammelte Werke, Imago, London)
Israëls, H. and Schatzman, M. (1993). „The Seduction Theory.“ History of Psychiatry, iv, pp. 23-59.
Masson, J. M. (1984). The Assault on Truth: Freud’s Suppression of the Seduction Theory. New York: Farrar, Straus and Giroux (deutsch: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Rowohlt, Reinbek, 1984).
Masson, J. M. (ed. and trans.) (1985). The Complete Letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fliess 1887-1904. Cambridge, MA: Harvard University Press (deutsch: Sigmund Freud – Briefe an Fließ 1887-1904, S. Fischer, Frankfurt /M., 1986.
Scharnberg, M. (1993). The Non-Authentic Nature of Freud’s Observations: Vol. 1. The Seduction Theory. Uppsala Studies in Education, No 47 and 48. Stockholm: Almqvist & Wiksell International.
Schimek, J.G. (1987). „Fact and fantasy in the seduction theory: a historical review.“ Journal of the American Pyschoanalytic Association, 35, pp. 937-965.

(die originale englische Version auf www.butterfliesandwheels.com/articleprint.php?num=10 Übersetzung und Bearbeitung F. Weinberger, M. Scharnberg, im INFC-Netz seit 22.12.2007)

Allen Esterson ist ein seit vielen Jahren bekannter, ausgewiesener Freud-Forscher, ein minutiöser Kenner Freud’scher Aussagen, Autor u.a. des Buches SEDUCTIVE MIRAGE.


[1] Nach Ernest Jones schrieb Freud den letzten Abschnitt seiner Studien über Hysterie im März 1895. Hier erklärt er u.a. seine „Druck-Prozedur„: „…Ich teile dem Kranken mit, daß ich im nächsten Momente einen Druck auf seine Stirne ausüben werde, versichere ihm, daß er während diesen ganzen Druckes eine Erinnerung als Bild vor sich sehen oder als Einfall in Gedanken haben werde, und verpflichte ihn dazu, dieses Bild oder diesen  Einfall mir mitzuteilen, was immer das sein möge.“ (GW-I:270). Nirgends steht hier etwas davon, daß bei diesen „Bildern“ oder Einfällen“ sexuelle Erfahrungen vor dem Schulalter aufsteigen würden.

[2]  Zu der Zeit, da Freud die (angeblichen) frühkindlichen Verführungen feststellte, klang es bei ihm noch anders:  „Unter den Personen, welche sich eines solchen folgenschweren Abusus schuldig machten, stehen obenan Kinderfrauen, Gouvernanten und andere Dienstboten, denen man allzu sorglos die Kinder überläst, ferner sind in bedauerlicher Häufigkeit lehrende Personen vertreten; in sieben von jenen dreizehn Fällen handelte es sich aber auch um schuldlose kindliche Attentäter, meist Brüder, die mit ihren um wenig jüngeren Schwestern Jahre hindurch sexuelle Beziehungen unterhalten hatten.“ (GW-I: 381-382)

[3] „Meine dreizehn Fälle von Hysterie waren durchwegs von schwerer Art, alle mit vieljähriger Krankheitsdauer, einige nach längerer und erfolgloser Anstalts­behandlung. Die Kindertraumen, welche die Analyse für diese schwe­ren Fälle aufdeckte, mußten sämtliche als schwere sexuelle Schädigungen bezeichnet werden; gelegentlich waren es geradezu abscheuliche Dinge.“ (GW-I:381)

Freuds Wille zur Macht

NY Sun, 29. November 2006

 

Ronald W. Dworkin

Freuds Wille zur Macht

 

Ronald W. Dworkin M.D., Ph.D. praktiziert als Arzt in Baltimore seit 1989. 1995 dissertierte er zusätzlich in politischer Philosophie. Er ist verheiratet mit einer Urenkelin von Präsident Th. Roosevelt.

Dworkin ist Autor von „Artificial Happiness: The Dark Side of the New Happy Class“ (Caroll & Graf). Er ist Senior Fellow am Hudson Institute. Übersetzung (Weinberger/Böhm) und Nachdruck des Artikels mit freundlicher Erlaubnis des Autors und der New York Sun.

 

Die Legende sagt, daß Freud, obwohl in den Philosophien seiner Tage bewandert, das Werk Nietzsches eifrig von sich fernhielt, um die Originalität seiner Ideen von äußeren Einflüssen frei zu halten. Nietzsche nahm von der menschlichen Seele an, daß Werte Projektionen unausgesprochener Begierden und Ängste seien. Das kam Freuds Idee, die am Ende des 19. Jahrhunderts noch im Umbruch war,  sehr nahe, die Wurzeln bewußten Verhaltens lägen in unbewußten Begehren.

 

Nach der Lektüre von Dr. Peter Kramers hervorragender neuer Biographie von Freud (Harper Collins, 213 Seiten, $ 21.95) meint man freilich, daß Freud weniger äußere Einflüsse als seine Selbstentdeckung fürchtete. Denn Dr. Kramers Freud ist praktisch die leibhaftige Verkörperung von Nietzsches Willen zur Macht. Freud war nicht einfach nur unglaublich ehrgeizig. (Im Alter von 4 Jahren versicherte er seiner Mutter, nachdem er einen Stuhl kaputt gemacht hatte, daß er zu einem großen Mann aufwachsen und ihr dann einen anderen Stuhl kaufen würde). Freud war, genauer gesagt, entschlossen, die Welt zu systematisieren, Ordnung ins Chaos zu bringen und seine Theorie vom Leben dem Leben selbst aufzudrücken – eine so durchdrungene Entschlossenheit, daß einer seiner Kollegen sie „psychisches Bedürfnis“ nannte.

 

Diese Kritik an Freud, dem  Systematiker, zieht sich durch Kramers Buch und wird unterlegt durch Freud’s irritierende Neigung, ganze Theorien zur menschlichen Natur aus einer Handvoll persönlicher Beobachtungen abzuleiten.

 

Aus nur einigen wenigen Fällen sexuellen Mißbrauchs theoretisierte Freud, daß Hysterie aus solchen in der Kindheit erlebten Übergriffen herrühre und daß diese allgemein verbreitet seien. Seiner Anklage fehlte jedoch die faktische Basis; die Vorstellung, daß Eltern in ganz Europa ganz alltäglich die „Vaginas, Mundhöhlen und Enddärme“ ihrer Kinder mißbrauchten, strapazierte das Vorstellungsvermögen. Seine Kollegen lachten zu Recht.

 

Seine Theorie vom Oedipus-Komplex baute Freud auf ähnlich grobe Verallgemeinerungen, nämlich die, daß alle Kinder ihre Väter zu töten und mit ihren Müttern zu schlafen wünschten. Ein paar fragwürdige Patienten-Erlebnisse bestätigen jedoch kaum eine neue Erkenntnis über die menschliche Natur.

 

Was sollen wir mit einem Mann machen, der sich laut Kramer den Menschen über eine Theorie und nicht  durch natürliches Verständnis annäherte?

 

Wenn der Wille zur Macht einen Künstler befällt, ist die Folge oft spektakulär und unterhaltsam und gefahrlos dazu, weil der Künstler mit Farbe oder Ton niemanden verletzen kann. Wenn der Wille zur Macht aber einen Politiker befällt, kann das sehr gefährlich sein:

 

Menschen im Griff von Fanatismus biegen Menschen und Ereignisse nach ihrer Theorie von gut und böse. Man denke an Stalins gewaltsame Kollektivierung und an Hitlers Vorstellung von Lebensraum.

 

Freud liegt irgendwo dazwischen: Wenn er schreibt, „wir werden letztlich jeden Widerstand durch die unerschütterliche Natur unserer Überzeugungen besiegen“, hört er sich an wie ein Faschist oder ein Kommissar. Da Freud aber Arzt und kein Politiker war und keine Polizeigewalt besaß, konnte er Menschen nur begrenzt verletzen.

 

Forschung brachte in den 80ern ein Beispiel seiner Art der Verletzung an den Tag. In der Art seiner übereilten Schlußfolgerungen sprach Freud einem männlichen Patienten (der bei Nachprüfung des Falls wohl an einer bipolaren Störung litt)  latente homosexuelle Neigungen zu. Er riet dem Mann, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und seine Geliebte zu heiraten und sagte dann dieser Geliebten, wenn sie nicht mitspielte, würde der Patient möglicherweise niemals „normal“ werden. Das Paar befolgte den Rat Freuds, der mehr ein Befahl war, und heiratete. Drei Jahre später waren sie wieder geschieden und ihrer beider Leben ruiniert.

 

Wiewohl das psychiatrische Establishment Freud heute weithin vom  Sockel geholt hat [1], lebt seine Reputation als ein weiser Mann fort, teilweise auch aufgrund seines immensen literarischen Talents.  Es kursiert das Gerücht, daß Freud einmal zum Nobelpreis für Literatur vorgesehen war. So schön geschrieben sind seine Bücher.

 

Aber Freud’s guter Ruf lebt hauptsächlich deshalb weiter,  weil er immer noch mehr als Wissenschaftler denn als Philosoph angesehen wird. Weil das Wissen in der Wissenschaft kumulativ ist und jede Generation von Wissenschaftlern auf der Arbeit ihrer Vorgänger aufbaut, wird Freuds Werk als Bestandteil des großen Gebäudes angesehen.

 

Das ist falsch. In der realen Wissenschaft haben Dinge Namen, weil sie einen realen Wert darstellen  – daher die Worte „Atom“ oder „Molekül.“ In Freuds Psychoanalyse haben Dinge Wert, weil sie einen Namen bekommen haben – „Oedipus-Komplex“, „Kastrationsangst“ – und nur weil genügend Leute von ihrem Wert überzeugt waren. Wenn Wissenschaftler Atome oder Moleküle ignorierten, existierten diese Partikel und ihre vitalen Effekte immer noch. Wenn Freuds Konzepte ignoriert würden, wäre es mit ihrem Wert, ja ihrer Existenz für immer vorbei. Freuds Analyse ist keine Wissenschaft; sie ist eine Modeerscheinung, die gänzlich vom öffentlichen Beifall abhängt.

 

Freud entdeckte nicht das Unbewußte. Andere Ärzte hatten vor ihm darüber schon geschrieben. Er entdeckte auch keine Phänomene wie „Freudsche Versprecher“, „Verdrängung“ oder „Übertragung“. Was er machte war: Er gab diesen mentalen Phänomenen Namen, machte sie zu Symbolen und benütze die Symbole dann als Straßenschilder und Grenzmarkierungen im weiten Unbestimmten der menschlichen Seele. Er war nur einer der Vielen, die versuchten, den Energie-Riesen Leben zu zähmen.

 

Ordnung aus Chaos. Wille zur Macht. Sie könnten die einzigen Gemeinplätze bezüglich der menschlichen Natur sein, die von der ganzen Freud-Geschichte übrig bleibt.



[1]  Gilt für Amerika. In anderen Ländern, so in Deutschland hofieren besagtes „Establishment“ und die „politisch-mediale Klasse“ den Betrüger Freud nach wie vor und führen die Menschen irre (Weinberger).

Freud und der Nobelpreis

Nils Wiklund

Freud und der Nobelpreis

 

Folgender Beitrag von Dr. phil. Nils Wiklund, Dozent in Psychologie, Stockholm, erschien in der führenden schwedischen Tageszeitung SVENSKA DAGBLADET am 7. Dezember 2006, die deutsche Übersetzung im Netz bei INFC am 11.01.2007.

 

Sigmund Freud wurde zwölf Mal für den Medizin-Nobelpreis nominiert. Weniger bekannt ist, daß Freud – ein früher „Postmodernist“, der sich seine eigene Wirklichkeit frei erschuf – auch für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde.

 

Im Jahr 1904 besuchte Sigmund Freud zum ersten Mal die Akropolis in Athen. Dabei hatte er ein eigenartiges Erlebnis: Obwohl ihm die Stadtburg seit seiner Schulzeit wohl bekannt war, dachte er verwundert: „Also existiert das alles wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben?!“ Gleichzeitig reflektierte Freud, der die Existenz der Akropolis ja nie angezweifelt hatte, über sich selbst und versuchte, seinen merkwürdigen Gedanken einzuordnen. Eine ähnliche Empfindung – ein flüchtiges, kaum beschreibbares Gefühl der Unwirklichkeit – ergriff sicher schon viele von uns, als wir vor Monumenten standen, die wir auf Bildern bereits hundertmal  gesehen haben: vor den Pyramiden, dem Eiffelturm, dem Taj Mahal.

 

Freud vergaß das Ereignis auf der Akropolis nie. 32 Jahre später, 1936 also, schrieb er einen reizvollen, kurzen Artikel, in dem er versuchte, das Erlebnis zu deuten. Freud glaubte, daß das Unwirklichkeitsgefühl mit der  Empfindung zusammenhing, „so weit“ (zur Akropolis, aber auch in seiner Arbeit) gekommen zu sein und damit den eigenen Vater übertroffen zu haben – was wiederum bestimmte psychische Reaktionen mit sich gebracht hätte.

 

Freuds Artikel „Eine Erinnerungsstörung auf der Akro­polis“ hatte zahlreiche Aufsätze verschiedener Psychoanalytiker zur Folge, so auch Risto Frieds faszinierende, 657 Seiten starke Monographie „Freud on the Acropolis: A Detective Story“ (2003). Risto Fried war Psychoanalytiker und Professor für Psychologie an der Universität von Jyväskylä; der aus Paris stammende Fried hatte an der Harvard-Universität doktoriert und war seiner finnischen Frau in ihr Heimatland gefolgt. Das Buch, das Fried erst kurz vor seinem Tod voll­endete, ist eine Fundgrube an Informationen über Freuds Leben und Persönlichkeit. Es ist Frieds opus magnum. In der Monographie zeigt Fried u. a., dass Freuds Artikel – vom psychologischen Inhalt einmal ganz abgesehen – ein literarisches Meisterwerk ist, das offenbart, wie meisterhaft Freud Quintilians rhetorische Regeln beherrschte.

 

Freud schrieb seinen Artikel als offenen Brief an den Nobelpreisträger Romain Rolland zu dessen 70. Geburtstag am 29. Januar 1936. (Freud wurde im gleichen Jahr 80 Jahre alt.) Er sandte seinen Artikel am 15.  Januar ab und schickte Rolland am eigentlichen Geburtstag noch ein Telegram. In Henri und Madeleine Vermorels 1993 erschienenen Buch über die Korrespondenz zwischen Freud und Rolland geht hervor, daß Rolland Freud am 8. Februar mit einem kurzen Dankesbrief antwortete. Rolland fand aber weit mehr Gefallen an Freuds Artikel, als die Kürze seines Dankesbriefes vermuten läßt. Fünf Tage, nachdem Freud seinen Artikel abgeschickt hatte, am 20. Januar 1936, machte Rolland nämlich von seinem Recht als Nobelpreisträger Gebrauch, einen neuen Kandidaten für den Preis vorschlagen zu können. In schöner Handschrift brachte er einen Brief an die Schwedische Akademie zu Papier: „Cher Monsieur le Secrétaire“, schrieb Rolland und schlug dann „Prof. Dr. Sigmund Freud aus Wien“ für den Literatur-Nobelpreis vor! Auf den ersten Blick, so Rolland, erschiene der Nobelpreis für Medizin passender. Aber Freuds Arbeiten hätten auch mit Psychologie zu tun und hätten einen neuen Weg gezeigt, das emotionale und intellektuelle Leben zu analysieren. Und schließlich hätten sie seit dreißig Jahren grundlegenden Einfluß auf die Literatur ausgeübt: „Man kann sagen, daß viele der bemerkenswertesten Vertreter des neuen Romans und des Theaters in Frankreich, England und Italien Freuds Kennzeichen tragen.“ Rolland fügte hinzu, daß er Freud persönlich kenne, und lobte Freuds guten Charakter, den dieser „während eines ganzen Lebens stoischer Arbeit bewahrte, obwohl ihm nie offizielle Ehrenzeichen verliehen wurden, sondern er ständig Zielscheibe von Feindseligkeiten war oder von Seiten der offiziellen Wissenschaft, die aufgebracht war über die Kühnheit seiner neuen Ideen, totgeschwiegen wurde.“

 

Romain Rollands Nominierung Sigmund Freuds löste in der Schwedischen Akademie natürlich lebhafte Diskussionen aus. Das ablehnende Urteil, das 2001 veröffentlicht wurde, war ebenfalls eine rhetorische Meisterleistung – inhaltsreich und treffend: „Obwohl es sich hier um einen Weltruhm handelt, der recht lange ge­radezu überwältigende Ausmaße hatte und von dem immer noch viel übrig ist, ist es dem Laien nicht unmöglich, dem Vorschlag einigermaßen guten Gewissens kritisch gegenüberzustehen.“ Gemäß dem Gutachten hänge Freuds Geltung, vom Wert seiner Behandlungsmethode ab, und über diesen Wert könnten nur „medizinwissenschaftliche Autoritäten urteilen und diesem Forum hätte der Vorschlag unterbreitet werden sollen“. Es ist „leicht, die Schärfe, Geschicktheit und Klarheit seiner Dialektik zu erfassen“, fährt das Gutachten fort. „Zweifellos verfügt er auch über einen sehr guten, ungezwungenen literarischen Stil, vielleicht mit Ausnahme der  eigentlichen Traumdeutung, auf der seine ganze Verkündigung fußt. Dort kann er in seiner Schilderung undeutlich werden. Und wo der Stoff in das Prokrustesbett seines Systems gezwängt wird, hört auch seine intellektuelle Wendigkeit auf. Mechanisch und gröblich unkritisch löst er den Wirrwarr des Traums in einer äußerst einfachen Symbolsprache auf, dem Maskulinum und Femininum von Geschlechtsorganen. Alle Gestalten, die der Träumende in seiner Vorstellung hervorzuzaubern vermag, reduziert er durch rein geometrische Vereinfachung auf die erwähnten zwei Formen; sie werden Scylla und Charybdis, zwischen denen es kein Durchkommen gibt. Auf diese Weise ist zwar alles deutbar, aber die Methode wird ein bißchen zu bequem und das Ergebnis unleugbar einförmig und dürftig.“

 

Der Ödipuskomplex wird als Freuds Idée fixe bezeichnet: „Daß Freud sich keinen Augenblick von seiner Idée fixe befreien kann, spricht übrigens nicht gerade für den praktischen Wert seiner Behandlungsmethode: ungehemmtes Bekennen zur Reinigung des Unbewußten. Daß die Gegenwart seine Weisheit in so großem Umfang und mit solcher Verzückung angenom­­men hat, dürfte in der Zukunft als eine ihrer charakteristischsten und bedenklichsten Seiten gelten. Als Grund für den Nobelpreis für Literatur hat ein solches Faktum wenig Gewicht. Um so weniger, als besonders die Verfasser schöngeistiger Literatur oft in seinen Lehren stecken geblieben sind und aus ihnen grobe Effekte und eine einfältige Psychologie gemacht haben.“ Das Gutachten schließt: „Wer auch die Geringsten dieser Kleinen so verdorben hat, sollte kaum Dichterlorbeeren ernten, wie viel er als Wissenschaftler auch immer gedichtet haben mag.“

 

Die Gutachten der Schwedischen Akademie unterzeich­nete Per Hallström. Er war 1936 der ständige Se­kretär der Akademie und Vorsitzender ihres Nobelkomitees. Viele andere (z. B. Hans Eysenck und Bror Gadelius) meinten, daß Freud ein kompetenter Autor sei, der trotz mangelnder wissenschaftlicher Fundierung mit rhetorischer Kunst überzeugen könne.

 

Man kann sich trotzdem fragen, warum Freud für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde, wo eine Kandidatur für den Nobelpreis für Medizin doch einleuchtender gewesen wäre. Das lag daran, daß sich das Nobelkomitee für Physiologie oder  Medizin am Karolinischen Institut an Freuds Nominierung immer uninteressiert gezeigt hatte. Die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte (Urenkelin Lucien Bonapartes, des Bruders von Napoléon Bonaparte, und Gattin Prinz Georgs von Griechenland und Dänemark) war Mitte der 1930er Jahre besonders aktiv beim Versuch, Freuds Kandidatur für den Nobelpreis sowohl für Medizin als auch für Literatur voranzutreiben. Sie trug wohl auch zu Romain Rollands Brief an die Schwedische Akademie bei.

 

Für den Medizin-Nobelpreis wurde Freud zum ersten Mal 1915 nominiert. 1917 bis 1920 wurde er jedes Jahr vom Nobelpreisträger Robert Bárány vorgeschlagen, einem Arzt aus Wien, der nach seiner Freilassung aus russischer Gefangenschaft 1917 Dozent an der Universität von Uppsala geworden war. Gemäß Ronald Clarks Darstellung in „Freud: The Man and the Cause“ (1980) stand Freud Báránys Unterstützung mit gemischten Gefühle gegenüber, denn Freud hatte Bárány früher als Schüler abgewiesen. Freud schrieb, daß ihn am Nobelpreis nur die finanzielle Zuwendung interessiere – und vielleicht der Umstand, mit der Auszeichnung einige seiner Landsleute ärgern zu können.

 

In den Jahren 1927 bis 1938 (dem Jahr vor seinem Tod) wurde Freud von verschiedenen Personen sieben Mal für den Medizin-Nobelpreis nominiert. 1937 wurde er von nicht weniger als 14 Professoren oder Nobel­preisträgern vorgeschlagen. Den Nominierungen folgte aber nicht ein­mal eine vollständige Analyse von Freuds Arbeit. Freud meinte mit der Zeit, dass ein Nobelpreis nicht zu seinem Lebensstil passe. Ungefähr ein Jahr vor seinem Tod schrieb er, dass er den Preis ablehnen würde, wenn er ihm aufgrund eines merkwürdigen Zufalls verliehen würde.

 

Das Nobelkomitee für Physiologie oder Medizin am Karolinischen Institut hat mir Einblick in interessante Originaldokumente gewährt:

 

1929 wurde Henry Marcus, Professor am Karolinischen Institut, vom Nobelkomitee beauftragt, eine vorläufige Bewertung von Freuds Leistungen zu erstellen, um zu entscheiden, ob eine vollständige Analyse durchgeführt werden solle. Marcus verneinte die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung energisch, weil Freuds Arbeiten nicht von nachgewiesenem wissenschaftlichem Wert seien. Nach einer Zusammenfassung der Lehre Freuds resümierte Marcus: „Wenn man versucht, Freuds psychoanalytische Lehre einer strengen Kritik zu unterziehen, muß man einräumen, daß die Forschung über die Bedeutung verdrängter Affekte für die Verursachung nervöser Symptome äußerst interessant ist und die Erkenntnisse über diese Zustände von den Neurologen fast ausnahmslos anerkannt sind. Dagegen meinen die meisten Forscher – mit Ausnahme von Freuds eigenen Schülern, von denen ihm diesbezüglich allerdings bereits mehrere abtrünnig geworden sind – es gäbe keinen Beweis dafür, daß die sexuellen Komplexe eine vorrangige Rolle für die Neurosen spie­len. Vor allem muß die Annahme der unbewußten sexuellen Traumen im frühen Kindesalter als unbewiesen und vom naturwissenschaftlich denkenden Arzt als hochgradig unwahrscheinlich und befremdlich angesehen werden. Freud stützt seine Behauptungen nur auf einige wenige Beispiele. Seine Traumdeutungen können darum nur als rein subjektive Erfahrungen und Konstruktionen angesehen werden. So wie sie jetzt vorliegt, ist Freuds ganze psychoanalytische Lehre größtenteils eine hypothetische Lehre, zu der sich ihre Anhänger fanatisch und fast religiös bekennen. Ich finde nicht, daß sie einer wirklich wissenschaftlichen Kritik standhalten kann.“

 

Professor Marcus’ scharfsinnige Beurteilung ist heute noch als zusammenfassende Kritik der Psychoanalyse relevant.

 

1933 wurde (auf nur einer Seite) von Professor Viktor Wigert eine weitere vorläufige Bewertung erstellt. Auch er sah eine vollständige Untersuchung als unnötig an. Wigert verzichtete auf eine Zusammenfassung von Freuds Lehrsystem, weil er es für allgemein bekannt hielt. Er meinte, Freuds Betrachtungsweise sei in hohem Grad revolutionierend. Auch wären mehrere „Entdeckungen“ Freuds so wichtig für die Psychiatrie, daß ein Nobelpreis sicherlich in Frage kommen könne. Das Problem sei jedoch, daß Freuds Lehren immer noch unbewiesen seien – die Verleihung eines Nobelpreises setze aber voraus, dass die zu belohnende Entdeckung völlig gesichert sei. Wigert betonte, daß Freuds Betrach­tungsweise von den größten Autoritäten der Psychiatrie sowohl in Schweden (z. B. von Bror Gadelius) als auch in anderen Ländern äußerst scharf kritisiert werde.

 

Die Gutachten der Schwedischen Akademie und des Nobelkomitees sind heute noch genauso stichhaltig wie damals. Die seriöse Kritik der Psychoanalyse hat erst in den letzten Jahrzehnten ihre volle Wirkung entfaltet. Gleich erstaunt wie über die tatsächliche Existenz der Akropolis wäre Freud wohl gewesen, wenn sich seine Gedankenkonstruktionen als etwas anderes als ein Glasperlenspiel erwiesen hätten. Freud kann am ehesten als früher „Postmodernist“ angesehen werden, der sich seine eigene Wirklichkeit frei erschuf.

 

Mein Dank geht an die Schwedische Akademie und an das Nobelkomitee für Medizin oder  Physiologie am Karolinischen Institut, Stockholm, für den Zugang zu Originaldokumenten.

 

Nils Wiklund, Stockholm

Der hermetische Zirkel

Asbjörn Tjeldflåt, Bergen, Norwegen

 

Im Labyrinth der Begriffe

Zur Freuds Psychoanalyse und ihrer Rezeption

in der neueren deutschen  Literaturwissenschaft (2000)

 

Der hermetische Zirkel

Zur Praxis der psychoanalytischen Literaturwissenschaft

und ihrer theoretischen Grundlage (2004)

 

Zusammenfassung

 

Gemeinsames Thema der beiden Arbeiten sind die theoretischen und methodischen Probleme, die bei der Übertragung der Freudschen Psychoanalyse auf die Literaturwissenschaft entstehen. Im Mittelpunkt meiner Kritik steht die Analogie von Traum und Dichtung, die für die psychoanalytische Texttheorie und ihren analytischen Begriffsapparat grundlegend ist: Wie der Traum, wäre auch der literarische Text die bearbeitete, „manifeste“ Form „latenter“ Trieb­wünsche/Phantasien und nach den Regeln der Traumdeutung zu erschlieβen.

 

Diese Auffassung vom Text und seiner Interpretation wird mit der Begründung zurückgewiesen, daβ 1) Freuds Traumtheorie veraltet ist und von der Struktur literarischer Texte eine irrtümliche Vorstellung erzeugt, und 2) daβ es für das Konzept der Übersetzung des „Manifesten“ ins „Latente“ keine Regeln gibt und die Interpretation sich deshalb jeder Kontrolle entzieht.

 

Aus dem heute verfügbaren Wissen über das Träumen ist es nicht möglich, ein Strukturmodell literarischer Texte abzuleiten und eine eigene „tiefenhermeneutische Methode“ zu begründen. Traum und Dichtung sind grundverschiedene Texte. Die Literaturwissenschaft, der man durch die Applikation der Psychoanalyse zur neuen Einsicht verhelfen wollte, hat in Wirklichkeit einen schweren Rückschlag erlitten.

 

Zur akademischen Vita des Verfassers (geb. 1939):  Wissenschaftliche Ausbildung in den Studienfächern Deutsch (Hauptfach), Englisch und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bergen und als DAAD-Stipendiat an der Freien Universität Berlin. Nach Abschluß des Studiums drei Jahre lang wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut.  Seit 1970 hier tätig als als Dozent (Amanuensis) für neuere deutsche Literatur.

 

 

Hier jetzt die kürzere Arbeit von Asbjørn Tjeldflåt

(die erstgenannte, längere Arbeit abrufbar unter http://www.ub.uib.no/elpub/2000/a/505001)

 

 

Der hermetische Zirkel

Zur Praxis der psychoanalytischen Literaturforschung und ihrer theoretischen Grundlage

 

Bei den folgenden Überlegungen zur Praxis der psychoanalytischen Literaturforschung und ihrer theoretischen Grundlage soll zunächst die Frage ihrer Verfahrensweise, die sog. tiefenhermeneutische Methode, erörtert werden, die sie im Selbstverständnis dieser Disziplin als eigenständige Wissenschaft vom Text legitimiert und ihr besonderes Erkenntnisziel realisiert: die dem literarischen Text zugrundeliegenden  unbewuβten Zusammenhänge freizulegen und uns dadurch ein volles Verständnis seiner Sinnstruktur zu ermöglichen. Die Aufdeckung dieser Dimension des Textes gilt als ihre besondere Leistung und zeichnet sie, heißt es,  vor der herkömmlichen hermeneutischen Verfahrensweise aus.

 

Ich werde zeigen, daβ die tiefenhermeneutische Methode diesen Anspruch nicht erfüllt, weil sie an der Forderung der Kontrollierbarkeit ihrer Ergebnisse scheitert. Zu ihrem ambitiösen Ziel gelangt die psychoanalytische Literaturforschung nicht auf methodischem Wege; es wird vielmehr von der Theorie abgeleitet und dem Text unterschoben. Die Theorie ist der Schlüssel zum Text und die Ergebnisse lassen sich an der Sprachgestalt des Textes weder widerlegen noch bestätigen. Der hermeneutische Zirkel wird hermetisch abgeschlossen. Wie wir im Folgenden sehen werden, handelt es sich dabei um ein Übersetzungsproblem, das sich aus der Zweiweltenthese von „unten“ und „oben“ ergibt, die der psychoanalytischen Konzeption von Literatur zugrunde liegt und das durch den Mechanismus der Transformation des „Latenten“ ins „Manifeste“ seine besondere Signatur erhält: Weil der Text, den wir interpretieren, durch die „Kunstarbeit“ bearbeitet worden ist und somit – wie der manifeste Traum – von seinem „eigentlichen“ Sinn nichts verrät, kann er nicht auf Grund von sprachlich-formalen Merkmalen in seinen Subtext übersetzt werden. Ebenso wenig kann der Subtext durch die Interpretation rekonstruiert werden, weil seine Inhalte durch die nämliche Kunstarbeit in transformierter Gestalt in den Text eingegangen sind. Da wir hier vor einem unentwirrbaren Beziehungsgeflecht stehen, haben wir keine Möglichkeit, die Kluft zwischen dem unbewuβten Antrieb der Textproduktion und seiner Realisation im Text zu überbrücken und anhand von Regeln die Übersetzung der manifesten Sprache des Textes in die latente seines Subtextes – das anvisierte Ziel der psychoanalytischen Interpretation –  zu kontrollieren. Damit haben die Regeln, die Freud zur Deutung von Träumen entwickelte und auf die man sich jetzt in der Literaturwissenschaft beruft, auch bei der Analyse literarischer Texte keinen praktischen Wert.

 

Im Anschluβ an diese Kritik werde ich – unter Berufung auf Freud selber – einen Hinweis auf eine mögliche Lösung des Methodenproblems der psychoanalytischen Literaturforschung geben und mindestens ansatzweise zeigen, wie sie auf der Grundlage der herkömmlichen Hermeneutik einen legitimen Beitrag zum Verständnis von Literatur liefern könnte. Mit der dabei entstehenden Frage, was dann von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft noch übrigbleibt, werde ich mich abschließend befassen, indem ich einige der für sie zentralen Aspekte der Freudschen Psychoanalyse, vor allem seine Traumtheorie, im Licht moderner Forschung untersuche.

 

Das Problem der Kontrollierbarkeit soll kurz an einer Interpretation von Heines „Loreley“-Gedicht erläutert werden, an dem W. Schönau im Kapitel über die Rezeption literarischer Texte in seiner Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft (1991) „die unbewuβte Kommunikation“ demonstriert, die sich im Verhältnis von Autor und Text bzw. Leser und Text abspielt und die für die Sinnstruktur des Textes von grundlegender Bedeutung sei. Dem liegt folgende Argumentation  zugrunde: Bei der Gestaltung des Textes sind es unbewuβte, verdrängte Triebwünsche, die dem Autor die Feder führen und seinem Text jenen überindividuellen, prototypischen Charakter verleihen, dem er seine überzeitliche Wirkung verdankt und der über die Faszination des Lesers entscheidet. In W. Schönaus eigenen Worten: „Das Inspirationserlebnis erscheint in psychoanalytischer Sicht als Fusion mit einem früheren schützenden Mutterbild […] Rein gefühlsmäβig bedeutet die Rezeption fiktionaler Dichtung eine Wiederholung der Fusion mit dem frühen Mutterbild, eine partielle und virtuelle Rückkehr in die Phase der Subjekt – Objekt – Verschmelzung (W. Schönau 1991, S. 40). Dem Interpreten schlieβlich, ist es vorbehalten, die unbewuβte Kommunikation ins Licht der Erkenntnis zu heben und den Leser über den eigentlichen Grund seiner Faszination aufzuklären. Auf Heines „Loreley“-Ballade appliziert, gelangt W. Schönau zum folgenden Ergebnis: „Die unbewuβte Kommunikation verläuft also etwa folgendermaβen: Heine bringt in dem Loreley-Märchen seine narziβtische Kränkung durch das Amalien-Erlebnis zum Ausdruck. (Nach W. Schönau ist das Gedicht auf der Ebene des Bewuβtseins „die mythische Verkleidung“ der unglücklichen Liebe Heines zu seiner Kusine Amalie). Dieses Erlebnis aber reaktiviert in ihm die verdrängten ödipalen Gefühlskonstellationen. Im Leser weckt die Loreley-Figur  ähnliche verdrängte Phantasien und Wünsche zum neuen Leben. Beide, Autor und Leser, wissen aber nicht, warum sie so traurig sind“ (ebd. S. 44f.).

 

An diesen Überlegungen zum Heines Gedicht, die das Grundmuster psychoanalytischer Erforschung von Literatur darstellen, interessiert uns vor allem die Rolle des Interpreten. Wie gelangt er zu seiner Einsicht in den latenten Sinngehalt des Textes? Daβ das Amalien-Erlebnis in Heine „verdränge ödipale Gefühlskonstellationen“ reaktiviere, die sich an der Loreley-Figur im Leser immer wieder entzünden und seine Faszination durch diesen Text erklären, ist alles andere als evident. In der Tat gibt es dafür im Gedicht keine Anhaltspunkte. Ist das Verfahren, durch welches hier der Text auf seinen Subtext zurückgeführt wird, von Regeln gesteuert? Wie man unschwer erkennt, ist die konzeptuelle Vorstellung vom literarischen Text und seiner Auslegung, die den Ausführungen zum Heines Gedicht zugrunde liegt, an Freuds Traumdeutung modelliert: hier wie dort sind es unbewuβte Triebwünsche, die durch die „Kunstarbeit“ bzw. „Traumarbeit“ überarbeitet werden, so daβ der Leser wie der Träumende ihren wahren Charakter nicht erkennen, von seiner Wirkung aber gebannt sind. Aufklärung bringt erst der Interpret bzw. der Traumdeuter. Folgerichtig muβ auch die Auslegung literarischer Texte nach den selben Regeln erfolgen wie bei der Deutung von Träumen. Wie sehen diese Regeln aus?

 

Wie Freud sowohl in der Traumdeutung wie auch in späteren Arbeiten betont, entsprich die Differenz zwischen dem manifesten Trauminhalt und dem latenten Traumgedanken derjenigen, die zwischen einem entstellten, lückenhaften Text und seiner  ursprünglichen Sprachgestalt besteht. Bei der Deutung wird somit der Traum in sein Original zurückübersetzt. Für ein zuverlässiges Resultat sollen bestimmte Deutungsregeln bürgen. In seiner umfassenden Arbeit über Freuds Psychoanalyse – Freud Evaluated (1997) – hat M. Macmillan auch diese Frage erörtert und nachgewiesen, daβ die Analogie von Traum und Sprache irrtümlich ist, weil Freud, im Unterschied zum Philologen bzw. Übersetztungswissenschaftler, sich auf keine Regeln berufen kann. Macmillan führt hierfür drei Gründe ins Feld, auf die im folgenden eingegangen werden soll.

 

Fürs erste scheitert die Analogie am Wesen des Traums, der sich nach Freud von sprachlichen Äuβerungen darin unterscheidet, daβ er keine Kommunikation ist und nicht verstanden werden will. Während jene „zur Mitteilung bestimmt sind, d.h. darauf berechnet, […] verstanden zu werden“,  so gehe „gerade dieser Charakter dem Traum ab. Der Traum will niemandem etwas sagen, er ist kein Vehikel der Mitteilung, er ist im Gegenteil darauf angelegt, unverstanden zu bleiben“ (St. A. Bd. I S. 234). Zwar wird der Traum durch den Bericht des Träumers in eine Kommunikation verwandelt, aber das ist, wie Freud betont, eine Wiedergabe des Traums durch „ungeeignete Mittel“, denn der Traum ist an sich keine soziale Äuβerung, kein Mittel der Verständigung“ (ebd. S. 252). Durch die Deutung bzw. Übersetzung beansprucht Freud dennoch, den Traum in eine Kommunikation zu transformieren, aber wie, so fragt Macmillan, ist das möglich, wenn der manifeste Inhalt nicht kommuniziert? Können die freien Assoziationen des Träumers, die dabei eine wesentliche Rolle spielen, den Traum in eine Mitteilung verwandeln? Sind sie nicht gleichfalls „ungeeignte Mittel“ der Traumwiedergabe? Die freien Assoziationen sind nicht nur interpretationsbedürftig, wie man gemeint hat (vgl. J. Hagestedt 1988, S. 84); sie können die Funktion, die ihnen Freud zuschreibt, grundsätzlich nicht erfüllen.

 

Zum zweiten zerbricht die Analogie von Traumdeutung und Übersetzung, weil es bei der Entschlüsselung von Träumen keine semantischen Regeln der Substitution gibt, die für eine annähernd korrekte und kontrollierbare Übersetzung bürgen könnten. Das ist allenfalls nur bei einigen Symbolen mit festem Sinn möglich, die Freud beanspruchte, entdeckt zu haben und die, wie er schreibt, „fast allgemein eindeutig zu übersetzen sind“, wie z.B. König und Königin für die Eltern, Zimmer zur Darstellung von Frauenzimmer, die Ein- und Ausgänge derselben bezeichnen Körperöffnungen, starre Gegenstände  das männliche Genitale, Schränke und Schachteln den Frauenleib  usw.  (Vgl. St. A. Bd. I, S. 697). Aber einerseits ist nach Freud die Zahl solcher Symbole begrenzt, weshalb die freien Assoziation des Träumers bei der Deutung unerläβlich sind. Andererseits sind die Symbole nicht immer Symbole; vielmehr „kann ein Symbol oft genug im Trauminhalt nicht symbolisch, sondern in seinem eigentlichen Sinn zu deuten sein“ (St. A. Bd. II, S. 347; vgl. auch Bd. I, S. 231). Damit ist es in der Tat völlig offen, was ein Traumelement zu bedeuten hat, weil keine Kriterien angegeben sind, nach denen wir entscheiden können, ob ein Element symbolisch oder nicht-symbolisch zu verstehen ist. Auf diese grundsätzliche Offenheit der Sinndetermination aber gründet Freud die Deutungsregel, „daβ jedes Element des Traums für die Deutung auch sein Gegenteil darstellen kann, ebensowohl wie sich selbst“ (St. A. Bd. II, S. 454). An einer anderen Stelle faβt er die Lage des Interpreten bzw. Übersetzers mit folgenden Worten zusammen: „Es ist im allgemeinen bei der Deutung eines jeden Traumelements zweifelhaft, ob es: a) im positiven oder negativen Sinne genommen werden soll (Gegensatzrelation); b) historisch zu deuten ist (als Reminizenz); c) symbolisch, oder ob d) seine Verwendung vom Wortlaut ausgehen soll“ (ebd. S. 337). Die Symbolsprache ist somit weit davon entfernt, einen semantisch einheitlichen Text zu bilden, der uns erlauben würde, auf den eigentlichen Sinn des verschlüsselten manifesten Trauminhalts zu schließen. Hinzu kommt noch das für eine adaeqate Übersetzung unübersteigbare Problem, das sich aus den Transformationen des latenten Traumgedankens durch die Traumarbeit ergibt. Indem etwa die „Verdichtung“ eine Fülle von Elementen aus dem umfangsreicheren latenten Traum ausläβt, ist der manifeste Traum nach Freud nicht eine „getreue Übersetzung oder Projektion Punkt für Punkt der Traumgedanken, sondern eine höchst unvollständige und lückenhafte Wiedergabe derselben“ (St. A. Bd. II, S. 284). Wie sind solche Lücken zu schließen, wenn nicht eine zweite Schrift zum Vergleich herangezogen werden kann? Ähnliche unlösbare Probleme entstehen durch die anderen Mechanismen der Transformation, wie etwa die „Aufspaltung“, bei der ein latentes Traumelement durch mehrere manifeste vertreten ist und der manifeste Traum somit umfangsreicher ist als der latente, oder bei der „Umkehrung“, wo das Gegenteil von dem gemeint ist, als was auf der manifesten Traumebene erscheint, und schlieβlich bei der „Verschiebung“ im Sinne von Übertragung psycho-sexueller Vorstellungen auf eine auf der manifesten Ebene nur scheinbar wichtige, in Wirklichkeit aber unwesentliche Figur, so daβ Affekt- und Vorstellungsbreich dissoziieren. Wenn nach Freud die Lage des Intepreten dadurch gekennzeichnet ist, „daβ keine einfache Beziehung zwischen den Elementen dort und hier bestehen bleibt“ (Bd. I, S. 181), dann ist es nicht möglich, die Substitution eines Elements durch ein anderes zu kontrollieren und Konsensus darüber zu erzielen, was der Traum „eigentlich“ bedeutet. Die Entscheidung hierüber ist in der Tat willkürlich.

 

Fürs dritte  scheitert die fragliche Analogie an der Abwesenheit grammatisch-syntaktischer Regeln bei der Produktion von manifesten Elementen durch die Traumarbeit. Wenn sie dafür sorgt, daβ der ursprüngliche logisch-kausale Zusammenhang unter den Traumgedanken aufgehoben wird, indem die einzelen Stücke dieses komplexen Gebildes – Freud nennt es auch „Text“ – „gedreht, zerbröckelt und zusammengezogen werden“ (Bd. II, S. 310), so hat das u. a. zur Folge, daβ die für das Verständnis von Rede und Schrift erforderlichen Konjunktionen, wie „wenn“, „weil“, „gleichwie“, „obgleich“, „entweder- oder“ usw. (falls sie nicht durch bildhafte Darstellung ersetzt werden) im manifesten Traumtext ihre normale Funktion einbüβen und syntaktische Zusammenhänge erzeugen, in denen die Beziehung zwischen den Elementen aus den Fugen gerät und es deshalb unmöglich ist, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Nach Freud bleibt es „der Deutungsarbeit überlassen, den Zusammenhang wiederherzustellen, den die Traumarbeit vernichtet hat“ (ebd. S. 311). Das wäre aber nur dann möglich, wenn er die beiden Texte mit einander vergleichen und die syntaktischen Entstellungen identifizieren könnte. Diese Möglichkeit hat er aber nicht. Wie er das Problem „löst“, mag die Deutungsregel bei der Alternative „entweder-oder“ im Traumbericht verdeutlichen: „Es war entweder ein Garten oder ein Zimmer usw., da kommt in dem Traumgedanken nicht etwa eine Alternative, sondern ein „und“, eine einfache Anreihung vor … Die Deutungsregel für diesen Fall lautet: Die einzelnen Glieder der scheinbaren Alternative sind einander gleichzusetzen und durch „und“ zu verbinden“ (Bd. II S. 315).

 

Vor diesem Hintergrund können wir mit Macmilllan konkludieren: „the latent content is actually constructed during interpretation rather than discovered by it. No rules can be established for arriving at a correct interpretation because the absence of a second script prevents any from ever being formulated. What Freud actually did when he interpreted a dream was to use the same material – the patient’s and his own associatations – to construct both the dream thoughts and the rules for transforming them“ (M. Macmillan 1997, S. 577.Hervorhebung im Original).

 

In seiner Einleitung zur „Traumarbeit“ schreibt Freud: „Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze  wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen“ (Bd. II, S. 280). Aber eben diese Vergleichung von Original und Übersetzung ist nicht möglich. Die Schrift der Traumgedanken existiert nicht als eigener Text vor der Übersetzung. Deshalb kann es für das Projekt der Traumdeutung keine Regeln geben, wie Macmillan abschlieβend durch folgende Frage bemerkt: „is it possible to develop rules for revealing the meaning of a yet -to  – existist second script when the meaning of the first also depends on them“ (ebd. S. 578).

 

Mit Bezug auf einen Aphorismus Kafkas hat H. Hieben die Psychoanalyse als „tautologische und zirkuläre Spiegelschrift einer Spiegelschrift in der Form eines petitio principii“ bezeichnet (zit. n. J. Hagestedt 1988, S. 119). Bei der Übertragung der Freudschen Psychoanalyse und ihres Verfahrens auf die Erforschung literarischer Texte ist diese Charakteristik nicht weniger berechtigt. Von den oben dargestellten drei kritischen Punkten zur Deutung von Träumen entfällt natürlich der erste, weil der literarische Text, anders als der Traum, kommuniziert und verstanden werden will. Aber bei der Ermittlung dessen, was er kommuniziert, melden sich dieselben Probleme wie bei der Übersetzung von Träumen, oder sie werden wo möglich noch größer.

 

Den Vorgängen beim Träumen analog, faβt man in der psychoanalytischen Literaturforschung, wie wir an der Interpretation von Heines „Loreley“-Gedicht gesehen haben, den literarischen Text auf als Kompromiβbildung zwischen Wunsch und Abwehr, als Produkt einer sekundären Bearbeitung prinärprozeβhafter Vorgänge. Die Maskierung der unbewuβten Phantasien, die dem Text zugrunde liegen, leistet hier die „Kunstarbeit“ (Vgl. W. Schönau 1991, S. 20). Die eigentümliche Sprache, die der manifeste Traum der „Traumarbeit“ verdankt, also die Merkmale der Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit usw., ist auch die Sprache der „Obenflächenstruktur“ des literarischen Textes. Bei der Interpretation wird er, wie der Traum, in seine ursprüngliche Sprachgestalt bzw. „Tiefenstruktur“ übersetzt. Aber der Literaturwissenschaftler befindet sich dabei in einer noch schwierigeren Lage als der Traumdeuter. Wenn nämlich, wie R. Wolf zur Traumanalyse bemerkt, „der entstellende Einfluβ der Traumarbeit“ am Grad der Verständlichkeit des Traums erkennbar ist und die Traumgedanken dem entsprechen in variierendem Maβe bewahrt sind:  „Je stärker die Verständlichkeit des erinnerten Traums ausgeprägt ist, desto stärker war der Einfluβ des Sekundärvorgangs auf die Traumbildung und desto weniger ist der ursprüngliche Zusammenhang der Elemente gewahrt“ (R. Wolf 1975, S. 426), wenn also der Zugang zu den latenten Traumgedanken von der Intensität der sekundären Bearbeitung abhängt, so leuchtet ohne weiteres ein, daβ es bei der Interpretation eines literarischern Textes ungleich schwieriger ist als bei der Traumdeutung, zum ursprünglichen Sinnzusammenhang vorzustoβen. Sowohl zum Zweck der Verständlichkeit und Kommunikation wie aus Rücksicht auf Konventionen und Normen ist der literarische Text in weit höherem Maβe bearbeitet als der verständlichste Traum und somit ist hier „der ursprüngliche Zusammenhang der Elemente weit weniger gewahrt“ als dort. Wie kann der Literaturwissenschaftler die kompakte Hülle der Form durchbrechen und zur „Tiefenstruikur“ des Textes vordringen? Die gängige Antwort auf diese Frage lautet, daβ ihm das gelingt, wenn er auf jene Stellen im Text achtet, wo seine Sprache Risse, Lücken. Brüche, Auslassungen und Inkohäherenzen aufweist, weil hier intensive Gefühlsregungen sich zeitweilig der Zensur entziehen und die Kompromiβbildung von Triebwusch und Abwehr, die den literarischen Diskurs konstituiert, momentan aufgehoben ist. H. Schmiedt beschreibt ihre Funktion so: „Wo Bedürfnisse zu stark werden oder Repressionsmaβnahmen zu energisch, entstehen Risse in der Sprache, die für einen Augenblick den unverstellten Blick auf die zugrundeliegenden Konflikte freilegen, dann aber sofort wieder der Verhüllung unterliegen und den stetig labilen Prozeβ der Kompromiβbildung […] erneut in Gang setzen“ (H. Schmiedt 1987, S. 31). Für W. Schönau, der dem Leser, der sich in der psychoanalytischen Interpretation üben will, einige didaktische Ratschläge erteilt, handelt es sich bei den erwähnten Textstellen um „die Bruchstellen, wo das Urgestein zutage liegt, wo es also den Prozessen der sekundären Bearbeitung nicht ganz gelungen ist, dieses zu verhüllen“ (W. Schönau 1991, S. 109).

 

Mit den erwähnten Merkmalen literarischer Texte sind wir durch die Wirkungs- bzw. Rezeptionsforschung seit langem vertraut. Es sind die sog. Leer- oder Unbestimmtheitsstellen im literarischen Diskurs, die für die Vielfalt von Rezeptionen fiktionaler Texte eine gewisse Rolle spielen, weil der Leser sie, je nach seinen Voraussetzungen, auf unterschiedliche Weise realisiert. Wie geht er bei der Behebung von Unbestimmtheit, z.B. einer Auslassung im Dialog zwischen zwei Figuren vor? Er sucht die fragmentarische Aussage zu vervollständigen, indem er sie in ihrem sprachlichen bzw. auβersprachlichen Kontext beurteilt und von seinem (vorläufigen) Textverständnis her auf ihre mögliche Bedeutung schlieβt. Kurz: er sucht die Unbestimmtheit durch Stellen der Bestimmtheit zu beseitigen. Sie bilden zusammen das Sinnpotential des Textes. Nur durch die Herstellung der Beziehung des „Teils“ zum „Ganzen“ ist diese Operation intersubjektiv kontrollierbar. Bei der psychoanalytischen Interpretation aber ist dem Leser diese Möglichkeit grundsätzlich verschlossen. Hier sind ihm die fraglichen Merkmale des Textes „Bruchstellen“ einer momentanen, unverstellten Einsicht in thematische Zusammenhänge ( die dem Text zugrundeliegenden unbewuβten Konflikte), die im übrigen Text nicht, weil durch die „Kunstarbeit“ verschlüsselt (Kompromiβbildung von Wunsch und Abwehr), nicht zur Sprache kommen. Die Unbestimmtheitsstellen werden hier anhand eines Textes bzw. Subtextes behoben, den es nicht gibt – auβer in der psychoanalytischen Theorie selbst. Der psychoanalytische Interpret befindet sich also in der eigentümlichen Situation, daβ er seine Annahmen über Sinn und Sinnzusammenhänge am Text nicht belegen kann. Die lückenlosen Textstellen, die uns sonst als Vergleichsgrundlage bei der Sinndetermination von Unbestimmtheit dienen, sind für ihn als Produkt der Kompromiβbildung von Wunsch und Abwehr gerade dadurch gekennzeichnet, daβ sie (wie der manifeste Traum) über die „wahren“ Zusammenhänge keine zuverlässige Information geben. Ebenso wenig wie bei der Deutung von Träumen können wir bei der Interpretation literarischer Texte an den Brüchen, Auslassungen usw. als solchen „das Urgestein“ erkennen und jenen Zusammenhang herstellen, den der Text auf der unbewuβten Ebene angeblich hat. Hier wie dort verfügen wir über keine Regeln der Syntax oder Substitution, die für die Behebung von Unbestimmtheit erforderlich sind. Mit einem Wort: weil der Subtext nicht als Text vorliegt und auch am manifesten Text nicht rekonstruiert werden kann, haben wir keine Möglichkeit, die sprachlichen Entstellungen zu identifizieren und festzustellen, was im fragmentarischen Text ausgelassen ist.

Kehren wir hier kurz zurück zur eingangs zitierten Interpretation von Heines Loreley-Gedicht. An ihr ist deutlich erkennbar, was für die psychoanalytische Interpretation grundsätzlich gilt: „Die unbewuβte Kommunikation“ ödipaler Phantasien, die W. Schönau für den eigentlichen Sinngehalt des Gedichts hält und der, wie er meint, seine Faszination auf Generationen von Lesern erklärt, ist nicht eine Eigenschaft des Textes, die durch die Analyse seiner sprachlich-formalen Merkmale bloβgelegt wird. Wie der latente Inhalt bei der Traumanalyse, wird sie nicht nach Regeln vom Text abgeleitet, sondern während der Interpretation konstruiert. Der Interpret verwendet dasselbe Material – den Text und seine eigenen Assoziationen – um sowohl „die unbewuβte Kommunikation“ wie auch die Regeln ihrer Transformation zu etablieren. Daβ, wie ich oben bemerkte, jene Annahme über die Sinnstruktur des Gedichts alles andere als evident ist, ist nicht ein zufälliger Mangel, sondern ein wesentliches Kennzeichen solcher Interpretation: Sie läβt sich am Text weder begründen noch widerlegen. Er dient bloβ als Projektionsfläche für psychoanalytische Theoreme, hier den Ödipuskomplex, der, weil „unbewuβt“, an der Sprachgestalt des Gedichts nicht begründet werden kann. Das Kriterium der Kontrollierbarkeit von Aussagen, an dem sich die Interpretation auszuweisen hat, ist suspendiert.

 

Gibt es für die psychoanalytische Erforschung von Literatur einen Ausweg aus der methodischen Aporie, die sich aus dem ihr zugrundeliegenden Denkmodell von „oben“ und „unten“, vom „Manifesten“ und „Latenten“, von „Oberflächenstruktur“ und „Tiefenstruktur“ literarischer Texte zwangsläufig ergibt? Mit Freud selber soll kurz auf eine mögliche Lösung hingewiesen werden. Indem er an einer Stelle die Beziehung der „unbewuβten Sachvorstellung“ zu ihrem sprachlichen Ausdruck erörtert, korrigiert er seine frühere Auffassung durch folgende Bemerkung: „Wir glauben nun zu wissen, wodurch sich eine bewuβte Vorstellung von einer unbewuβten unterscheidet. Die beiden sind nicht, wie wir gemeint haben, verschiedene Niederschriften desselben Inhaltes an verschiedenen psychischen Orten, auch nicht verschiedene Besetzungszustände an demselben Orte, sondern die bewuβte Vorstellung umfaβt die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewuβte ist die Sachvorstellung allein“ (St. A. III, S. 160). Für das textanalytische Verfahren ergäbe sich aus dieser Überlegung zum Verhältnis von Wort und Sache, daβ der literarische Text auch für die psychoanalytische Interpretation verbindlich sein würde, daβ sie ihre Annahmen über Sinn und Sinnzusammenhänge an seiner Sprache begründen und sich der Forderung ihrer Prüfbarkeit unterziehen müβte. Wenn zwischen Wort und Sache, zwischen dem manifesten Ausdruck und seinem latenten Inhalt keine Differenz besteht, wenn sie vielmehr eine semantische Einheit bilden, wie Freud meint, so wäre das fragwürdige Projekt der Übersetzung des Textes in seine „eigentliche“ Sprache in der Tat aus dem Wege geräumt und die psychoanalytische Literaturforschung würde allein in Bezug auf ihr besonderes Erkenntnisinteresse – die Erforschung psychosexueller Verhältnisse, emotionaler Bindungen, Identitätsfragen usw. – ihren spezifischen Charakter erhalten. In methodischer Hinsicht aber, würde sie auf dem Boden der herkömmlichen Hermeneutik stehen und den Text im Sinne jener Verfahrensweise erforschen, die von einer bestimmten Fragestellung („Vorentscheidung“) her seine Bedeutung im fortschreitenden Prozeβ des Lesens durch die Herstellung von internen und kontextuellen Beziehungen seiner Elemente ermittelt und allmählich zu einem adäquaten Textverständnis gelangt. Die Struktur des Textes wäre dann weder „tief“ noch „oberflächlich“, sondern eine Sinnstruktur.

 

Die methodische Reorientierung, die aus Freuds Bestimmung des Verhältnisses von Wort und Sache erfolgen könnte, würde indessen, wie bereits angedeutet wurde, für die psychoanalytische Literaturwissenschaft groβe theoretische Unkosten zur Folge haben. Sie müβte bereit sein, mit veraltetem Gedankengut aufzuräumen und in der theoretisch-empirischen Forschung von heute eine neue Grundlage ihrer Praxis zu suchen. Ob sie dann noch als eigenständige Literaturwissenschaft überlebt, ist allerdings fragwürdig. Mit diesen Fragen werde ich mich abschliessend befassen.

 

W. Schönau beschlieβt den systematischen Teil seiner Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft mit einigen Bemerkung zu der in letzter Zeit an Freuds Psychoanalyse geübten Kritik, die er aber durch den Hinweis auf „die Fortschritte in der Theoriebildung der letzten Jahre“ als für die Psychoanalyse nicht besonders schwerwiegend zurückweist: „Wenn Freud sich in verschiedenen Punkten geirrt hat, ist damit der Psychoanalyse als Forschungsrichtung nicht der Boden entzogen“ (S. 112). Die Formulierung erweckt den Eindruck, daβ es sich dabei um bloβ marginale Punkte handelt, die für die Psychoanalyse als solche und damit die Literaturwissenschaft kaum von Bedeutung sind. Die groβe Herausforderung an die psychoanalytische Literaturwissenschaft aber liegt darin, daβ Freud sich in den zentralen Punkten seiner Lehre geirrt hat und daβ sie in allen ihren wesentlichen Aspekten überholt ist. Das gilt nicht zuletzt für jenes Werk, das Freud für sein opus magnum hielt und das für die psychoanalytische Literaturforschung von grundlegender Bedeutung ist: Die Traumdeutung. Zur Illustration ihrer Bedeutung sollen hier nur zwei repräsentative Beispiele aus der psychoanalytischen Forschung angeführt werden: Nach P. v. Matt hat Freud die alte Vermutung einer engen Verwandtschaft zwischen Traum und Dichtung durch die Entdeckung der ihnen gemeinsamen Gesetze wissenschaftlich bestätigt: „Wenn der Traum ein Geschehen ist, das nicht in chaotischer Weise abläuft, sondern nach festen Gesetzen, und wenn die Literatur ein Geschehehn ist, das dem Traum seiner Natur nach verwandt ist, dann müssen die Gesetze des Traums auch die Gesetze der Literatur sein“ P. v. Matt 1988, S. 1). Wie diese „Gesetze“ sich auf den verschiedenen Ebenen des Traums bzw. der Dichtung auswirken, erklärt uns W. Schönau: „Der manifeste Trauminhalt […] entspricht dem Handlungsverlauf, der Oberflächenstruktur des literarischen Werkes. Der latente Traumgedanke […] entspricht dem psychodramatischen Substrat‘ des Werkes. Das Traumerlebnis der Rezeption, die Traumdeutung der Interpretation des Werkes. Die Traumarbeit, die Transformation des ursprünglichen Traumgedankens durch die Mechanismen der Verschiebung, Verdichtung usw. unter dem Antrieb eines Wunsches, läβt sich mit den unbewuβten Anteilen der Kunstarbeit vergleichen, in der ebenfalls eine ursprüngliche Phantasie einem intensiven wiederholten Verwandlungs- und Bearbeitungsprozeβ unterworfen wird“ (W. Schönau 1991, S. 85).

 

Daβ Freuds Traumlehre heute noch den Status einer gültigen Theorie genieβt, oder gar als die epochal neue Wissenschaft vom Traum betrachtet wird, beruht wohl nicht zuletzt darauf, daβ sich ins allgemeine Bewuβtsein die Vorstellung eingeprägt hat, daβ Freud hier – im Unterschied zu seinen neurophysiologisch orientierten Zeitgenossen – den Traum als ein rein psychologisches Phänomen erhelle, daβ er durch Selbstanalyse oder therapeutische Erfahrung das geheime Räderwerk der Seele aufgedeckt habe und intuitiv die Vorgänge beschreibe, die sich beim Träumen tatsächlich abspielen. Das ist, wie man nachgewiesen hat, nicht der Fall. Seiner Traumlehre liegt vielmehr dieselbe neurophysiologische Theorie zugrunde, die in seiner nicht-publizierten Arbeit Entwurf einer Psychologie (1895) enthalten ist; das theoretische Modell ist mit nur wenigen Modifikation in der Traumdeutung wiedergegeben (St. A. S. 514). Nur wenn man diese Theorie „des psychischen Apparates“ berücksichtigt, ist Freuds Traumlehre überhaupt begreiflich. Sie soll deshalb hier kurz skizziert werden.

 

Kernstück dieser Gehirntheorie, die Freud durch seine Lehrer (Brücke, Meynert) vermittelt wurde, ist die Vorstellung vom Nervensystem als einem passiven Reflexapparat, der entweder durch äuβere Stimuli, also Sinneswahrnehmungen, oder durch innere (somatische) Stimuli, darunter vor allem die Triebe aktiviert wird. Im Modell gibt es zwei Wege, auf die jene Stimulus-Energie geleitet wird: Sie findet entweder ihre Entladung in motorischer Aktivität, oder sie wird im psychischen Apparat gespeichert, um später entladen zu werden,  z.B. in Träumen oder krankhaftren Symptomen. Auβer bei der Produktion von Energie inaktiv zu sein, ist das System passiv auch in dem Sinne, daβ es die Energiemenge nicht intern regulieren kann und deshalb verwundbar ist. Von äuβeren und inneren Stimuli ständig bombardiert und damit der Gefahr der Überladung ausgesetzt, bedarf das System immer wieder der Entladung, um seine Stabilität wiederherzustellen.

 

Im Rahmen dieser Neurophysiologie ist Freuds Wesens- und Funktionsbestimmung des Traums unschwer zu erkennen: Der Traum ist eine besondere Form der Entladung von innerlich gestauter Trieb-Energie, die das System zu erschüttern droht. Der Kompromiβcharakter dieser Entladung, d.h. die Transformation des ursprünglichen Traumgedankens zu einem abgemilderten und damit für das Bewuβtsein annehmbaren Gebilde durch die „Traumarbeit“, erklärt sich aus dem Bemühen des „Apparates“, sich von Spannungen zu befreien oder sie auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten. Im Sinne von Spannungsreduktion kann der Traum deshalb sinnvoller Weise als „der Hüter des Schlafs“ (Freud) bezeichnet werden, zumal wenn man bedenkt, daβ die triebhaften Impulse, die nach Freud beim Träumen besonders aktiv sind, den „Apparat“ in einen hohen Erregungszustand versetzen. Die psychologische Komponente von Freuds Traumlehre – die ins Unbewuβte verdrängten verbotenen Triebwünsche und ihre Transformation durch die „Traumarbeit“ zur Bewahrung der Stabilität der Psyche – hat seine Theorie des Nervensystems zur Voraussetzung. Insofern als Freud seine Traumlehre auf die damals gängige Neurophysiologie gründete, kann man mit einem gewissen Recht sagen, daβ er „die Gesetze des Traums“ entdeckte.

 

Aber diese Theorie ist längst überholt. Vom Standpunkt der modernen Neurophysiologie kommentiert sie J. A. Hobson auf folgende Weise: „Most of the neurophysiological assumptions of this model proved to be incorrect as did the psychological constructs that derived from them […] The nervous system has the metabolic means of producing its own energy (though it is dependent upon external fuel) and the genetical derived means of creating its own information (though it is dependent on external input for specific information about the outside world.) It is further capable of canceling both endogenous and externally provided energy and information … The erroneous  notions that Freud maintained about energy sources in the nervous system made it impossible for him to recognize that the system might have intrinsic rhythms and sequential phases of activity, and that both might be internally programmed and internally regulated … Such a system (d.h. Freuds) is as vulnerable as it is dependent, being subject both to invasion by large sources of energy from the outside world an to the constant threat of disruption by internally stored energy … These ideas became crystallized in the concept of the dynamically repressed unconscious and were carried into the dream theory as the tendency for unconscious wishes to erupt during sleep when the repressive forces of the ego are relaxed. Freud’s nervous system is in constant need of checks and balances to deal with the threat of disruption from within and without, and his whole concept of psychic defense is related to this errorenous view of how the nervous system actually operates“ (J. A. Hobson 1988, S. 62ff.).

 

Wie seinerzeit Freud die Struktur seiner Traumtheorie von den ihm zur Verfügung stehenden Einsichten auf dem Gebiet der Gehirnforschung ableitete und ihr durch seine Trieblehre sein eigenes charakteristisches Gepräge verlieh, so hat  J. A. Hobson auf der soeben beschriebenen neuen Wissensgrundlage in seinem Buch The Dreaming Brain (1988) eine Traumtheorie entwickelt, die uns vom Traum ein radikal anderes Verständnis gibt und mit aller wünschenswerten Klarheit zeig, auf welcher obsoleten Grundlage die psychoanalytische Literaturwissenschaft arbeitet.

 

Ausgangspunkt von Hobsons Theorie ist die Erkenntnis, daβ das Gehirn ein auto-aktiver Organismus ist, der unabhängig von äuβeren Stimuli seine eigenen Daten  generiert und endogene Prozesse in Gang bringt. Der Traum, oder genauer: jene Denk- und Wahrnehmungsvorgänge, die wir „Traum“ nennen, sind die unmittelbare Folgeerscheinung der Aktivierung vornehmlich der visuellen und motorischen Zentren im Gehirnstamm während des REM-Schlafes, wenn die nächtliche Aktivität des Gehirns besonders groβ ist. Solcherweise durch innere Vorgänge determiniert, ist das Träumen „an integral part of vegetative life rather than a mere reaction to life’s vicissitudes“ (J . A, Hobson 1988, S. 15). Wie der REM-Schlaf, in dem die weitaus meisten Träume stattfinden, sich regelmäβig (mit einem Intervall von etwa 90 Minuten), spontan und automatisch ereignet, so auch das Träumen. Auf die Phase der Aktivierung der visuellen und motorischen Zentren im Gehirnstamm folgt die Phase der Integration der erzeugten Daten durch die Gehirnrinde. Dabei dient ihr als einziger Bezugspunkt das im Gedächtnis gespeicherte Material – Wünsche, Erinnerungen, Hoffnungen, Erwartungen, Ambitionen, emotionale Relationen usw. Kurz: die komplexe Lebenswirklichkeit des Träumenden. Der Traum wird somit nicht von psychologischen Motiven ausgelöst; die erzeugten Daten werden vielmehr mit ihrer Hilfe interpretiert, d.h. zu mehr oder weniger verständlichen Vorgängen, Handlungssequenzen und Personenkonstellationen zusammengefügt. Das bedeutet wiederum. daβ der Traum, an den wir uns beim Wachen erinnern, nicht die verschlüsselte Version des „eigentlichen“ Traums ist. Er wird nicht durch die „Traumarbeit“ in eine andere Sprache „übersetzt“, er ist nicht die abgemilderte Form eines eines ursprünglichen Traumgedankens. Der Traum ist die Denk- und Wahrnehmungsprozesse, die wir tatsächlich erfahren und deshalb transparent. Die Idee der Transformation des Latenten zum Manifesten – Freuds zentrale These – ist deshalb hinfällig.

 

Aus der Tatsache, daβ unser Gehirn beim Träumen wie im wachen Leben ständig darum bemüht ist, Signale und Informationen zu verarbeiten, im Schlaf aber unter ungünstigen Bedingungen arbeitet, erklären sich alle spezifischen Eigenschaften des Traums, wie z.B. die visuellen und motorischen Halluzinationen, oder die oft seltsamen spatio-temporalen Verzerrungen der Traumszenen: abrupte Orts- und Personenwechsel, unvermittelte zeitliche Übergänge, plötzliche Zäsuren, sonderbare Kombinationen und Mischungen von Menschen und Handlungen usw. Uns interessieren hier besonders die zuletzt erwähnten Merkmale des Traums, weil sie nach Freud geradezu die Signatur der Traumsprache sind (Verdichtung, Verschiebung Aufspaltung usw.). Aber während sie für ihn aus Rücksicht auf den Träumenden zustande kommen und die Funktion des Traums als Hüter des Schlafes begründen (Bewahrung der Stabilität seiner Psyche durch Spannungsreduktion), sind sie nach Hobson das Ergebnis einer miβlungenen oder inadäquaten Integration der produzierten Signale durch die Gehirnrinde. Das hat seinen Grund zum einen darin, daβ im REM-Schlaf „multiple sensory channels simultaneously activated“ werden (ebd. S. 213). Auf Grund dieser Hyperaktivität wird die Integration der Daten erheblich erschwert. Zum anderen erklärt sich die absonderliche Fremdheit des Traums daraus, daβ dem Gehirn die Beziehung zur Umwelt abgeschnitten ist. Es fehlt der Input von auβen, der die spezifische Traumerfahrung ordnen und strukturien könnte, wie es im Zustand des Wachens ununterbrochen geschieht. Mit Hobsons eigeen Worten: „dream bizarreness is thus the direct consequence of changes in the operating properties of the brain in REM-sleep“ (ebd. S. 258). Aus der fehlenden Beziehung des Gehirns zur Auβenwelt im Schlaf erklären sich auch andee strukturelle Eigenschaften des Traums, wie z.B. unsere unkritische Hinnahme der Traumszenen als wirklich und unser Unvermögen, während des Träumens den Irrtum zu korrigieren. Darin weist der Träumde eine strukturelle Ähnlichkeit auf mit mental kranken oder organisch geschädigten Menschen: „The uncritical acceptance … of dream events as real is as devoid of insight as the most convincing delusional assertions of the schizofrenic, the manic depressive, or the organically impaired patients“ (ebd. S. 9). Die „Zensur“, jene kritische, sichtende und ordnende Instanz, der wir unsere mentale Gesundheit und unsere normale Orientierung in der Welt verdanken, ist im Schlaf zeitweilig suspendiert.

Wenn die moderne Traumforschung die Eigenschaften des Traums durch den Vergleich von Gehirnfunktionen im Schlaf und Wachsein ermittelt und dabei erhebliche Abweichungen feststellt, so heiβt das selbstverständlich nicht, daβ Träume keinen Sinn hätten. Es spiegelt sich in ihnen die komplexe Erfahrungswelt des Träumenden wider. Sie sind als Quelle zur Einsicht ins eigene Innere sowie in unsere Beziehung zur Welt und anderen Menschen durchaus informativ, wenn auch darin nicht das tiefe, verborgene Geheimnis unserer Existenz zum Vorschein kommt.

 

Auf dem Gebiet der Traumforschung kan man also in den letzten Jahren „groβe Fortschritte in der Theoriebildung“ feststellen. Ironischerweise aber sind es Fortschritte, die der psychoanalytischen Literaturwissenschaft den Boden unter den Füssen wegziehen: die Analogie von Traum und Dichtung, auf die sie ihre Text- und Interpretationstheorie gegründet hat, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Es sind grundverschiedene Texte, weil sie ihre jeweilige Eigenart völlig verschiedenen Entstehungsbedingungen verdanken: Während der Traum als Teil unseres vegetativen Lebens jeder bewuβten Kontrolle entzogen ist, ist das Kunstwerk intentional, vom Denk- und Sprachvermögen des Autors, seiner schöpferischen Phantasie und Empathie gesteuert. Daβ wir bisweilen literarische Strukturen und Diskurse als „traumhaft“ oder „traumähnlich“ bezeichnen, darf über die Tatsache des fundamentalen Unterschiedes zwischen Traum und literarischem Text nicht hinwegtäuschen (ohne daβ wir aus dem Grunde auf diese metaphorischen Ausdrücke verzichten sollten).

 

Für die psychoanalytische Literaturwissenschaft ergibt sich aus den obigen Ausführungen zur Theoriebildung ein trostloses Fazit: Eine Literaturforschung, für deren Selbstverständnis und Methode Freuds Traumlehre „grundlegend ist“, hat sich bereits im Ausgangspunkt als Wissenschaft disqualifiziert. Was sie zuwege bringt, hat keinen Erkenntniswert. All der intellektuellen Energie, die man in dieses Projekt investiert hat, mit dem Ziel, die Literaturwissenschaft zu erneuern (vgl. W. Schönau 1988, S. 8), ist verlorene Mühe. Dagegen demonstriert man hierdurch, wie man sich in seine eigene Begriffswelt eingekapselt und sich vom dynamischen Feld der Theoriebildung effektiv abgesondert hat. Die Literaturwissenschaft, der man zur neuen Einsicht verhelfen wollte, hat in Wirklichkeit einen schweren Rückschlag erlitten.

 

Aus diesem statischen Zustand können theoretische Fortschritte innerhalb der Psychoanalyse selber nicht hinausführen. Vielmehr führt ein Weiterdenken auf den alten Gleisen nur zu Reformulierungen oder Neuinterpretationen der fraglichen Probleme. Das hat, wie wohl kein anderer, M. Macmillan gezeigt, der in seiner umfassenden Studie über Freuds Psychoanalyse ihre Geschichte bis in die Mitte der 1980er Jahre verfolgt hat. Aus der Fülle von Belegen in seiner Untersuchung sollen hier nur einige wenige Beispiele angeführt werden, die für die psychoanalytische Literaturforschung besonders wichtig sin:

 

Sublimierung. 

 

Freuds Definition von Sublimierung als der Fähigkeit, das ursprüngliche Triebziel mit einem anderen, nicht-sexuellen, kulturell höher gewerteten zu vertauschen, als Transformation der Triebenergie für andere Zecke, wie z.B. Kunst,  wurde in der Psychoanalyse bald als problematisch empfunden, ohne daβ man über den Begriff und seine Verwendung Klarheit gewonnen hat. Zur Diskussion bemerkt Macmilan: „Since the concept of sublimation came under scrutiny, absolutely no agreement has been reached  about the behavior to which the mechanism refers or the underlying process on which it might be based“ (M. Macmillan 1997, S, 486). Daβ man in dieser Frage keine Einigkeit erzielt hat, ist nicht verwunderlich. Dies beruht darauf, daβ die triebhafte Energie für andere Zecke nicht transformiert werden kann. Die primitive Vorstellung, daβ es im „System“ nur eine Energiequelle gäbe, die je nach Zweck umgewandelt werden könne, ohne an Intensität zu verlieren, hat man längst korrigiert. Der Neurophysiologe R. W. White schreibt hierzu u. a. : „an instinctual drive does not function with its own kind of energy, but with neural energies released in particular places (centers) and organized in particular patterns. Energy can be called sexual, for instance, only by virtue of the fact that certain somatic sources or hormonal conditions activate certain nerve centers which in their turn acticvate a characteristic pattern of excitations in skin, genitals and elewheree […] Agressive energy is differentiated from sexual by the places and the patterns that  are central in the excitation. An ego interest, such as learning the skill necessary for an occupation, is neural in the sense that its places and patterns are not those of either eroticism or aggression“ (R. W. White, 1963, S. 178, zit. n. M. Macmillan, ebd. S. 486).

 

Die Konsequenzen, die sich hieraus für die psychoanalytische Kreativitätstheorie ergeben, die zum wesentlichen Teil auf das Konzept der Sublimierung gegründet ist, sind fatal. Die Energie, die sich beim Kunstschaffen entfaltet, ist nicht transformierte Triebenergie, sie hat ein anderes Muster und ist anderswo (in der Groβhirnrinde) lokalisiert. Die künstlerische Kreativität ist nicht, wie Freud meinte und wie man in der psychoanalytischen Literaturforschung immer noch meint, „das Paradigma der Sublimierung“ (vgl. R. Wolf 1975, S. 436, W. Schönau 1991, S. 9). R. Wolf macht übrigens darauf aufmerksam, daβ Freud der Meinung war, das Sublimationsvermögen sei ein „Problem der Biologie nicht der Psychologie“. Die Neurobilogie hat es im Sinne der zitierten Aussage von White geklärt: Man arbeit mit einem leeren Begriff.

 

Narzißmus.

 

Im Sinne von Selbstliebe oder Bewunderung der eigenen Vollkommenheit ist dieses Konzept unvereinbar mit Freuds Strukturmodell der Psyche von 1925, weil nach Einführung des Todestriebes ein destruktives oder aggressives Element zum Ich gehört. Diese Unstimmigkeit hat man in der Psychoanalyse zwar empfunden, aber daraus nicht die Konsequenz gezogen, wie sie Macmillan so formuliert: „The correct problem for the ego-ideal, then, is that once Freud incorporated a death instinct in his theory, his original notion of primary and secondary narcisism should have been done away with altogether. A death instinct or other primary aggressive drive necessarely rules out the kind of narcistic state or mode of existence required to produce a completely or even predominately positive ego-ideal“ (ebd. S. 494). Dieser innere Widerspruch hat die psychoanlytische Literaturforschung nicht gestört. Vielmehr hat er sich als „produktiv“ erwiesen, indem man hier die Ansicht vertritt, daβ der Autor seine fehlende Vollkommenheit auf das heile bzw. vollkommene Kunstwerk überträgt, das ihm als „Symbol der wiederhergestellten oder wiedergefundenen Vollkommenheit“ gilt (W. Schönau 1991, S. 24) und ihm damit eine narziβtische Bestätigung verleiht. Wie aber, so fragt man sich, kann der Künstler ein Kunstwerk schaffen, das   seine Vollkommenheit wiederherstellt, wenn seine Psyche widersprüchlich ist, aus zwei sich widerstreitenden Komponenten besteht? Sind sie dann nicht beide , Küstler wie Kunstwerk, gleichermaβen unvollkommen? Daβ man sich bei der Funktionsbestimmung von Literatur an der Gedankenfigur vom „heilen“ und „heilenden“ Kunstwerk orientiert, kann wohl nicht anders erklärt werden, als daβ man (unbewuβt?) die romantische Kunstmetaphysik fortschreibt – eine vielleicht etwas unerwartete Verbrüderung zwischen einer vermeintlich modernen, kritisch enthüllenden Wissenschaft und einer alten, religiös begründeten Auffassung von Kunst.

 

Die Frage der Identifikation.

 

Die Identifikation des Kindes mit seinen Eltern im Primär- und beim Übergang zum Sekundärprozeβ (bei der Auflösung des Ödipuskomplexes) und die Konflikte, die dabei entstehen und gelöst werden, sind in der Psychoanalyse von so fundamentaler Bedeutung, daβ diesbezügliche Unklarheit sie in ihrem Kern erschüttern muβ. Genau das aber ist der Fall. Zum Stand der Forschung bemerkt Macmillan: „The fact is there is no agreed-upon defintions of identification or of the related concepts of incorporation, introjection, and internalization at either the theoretical or clinical level“ (ebd. S. 496). In der psychoanalytischen Kreativitätstheorie aber geht man mit diesen Begriffen um, als bezeichneten sie bewiesene Tatsachen: Das konflikterfüllte Verhältnis von Mutter und Kind in den ersten Lebensmonaten, mit den für das Kind schweren Krisen (Trennungsangst, Wut, Depression) und ihre Überwindung durch die Identifikation mit dem „Aggressor“ bzw. der „bösen Mutter-Imago“ und das dabei wiedergewonnene „Gefühl der Allmacht des Selbst“ stellt „das Urmodell des Schaffens“ dar (W. Schönau 1991, S. 8). Um den Eindruck echter Erkenntnis zu erhärten, werden solche Spekulation in eine pseudowissenschaftliche Sprache gekleidet, wenn es z.B. heiβt, daβ die entscheidende Phase der Trennungsangst und ihrer Bewältigung durch Projektion und Introjektion „von vielen Forschern bestätigt wird“ (ebd. S. 24). „Bestätigen“ heiβt hier wohl nur, daβ man sich mit der vertretenen Ansicht einverstanden erklärt. Wie Macmillan nachgewisen hat, liegen keine Bestätigungen vor. Oder wenn man für die nämlichen Vorgänge den Eindruck umfassender, empirischer Untersuchungen erweckt, indem es heiβt: „bei manchen Kindern spielt sich dabei ein heftiger Konflikt ab“ (ebd.). Warum nur bei „manchen“, wenn es sich um ein vermeintliches „Grunderlebnis“ des Säuglings handelt? Aber diese Rhetorik, für die sich die Beispiele beliebig vermehren liessen, erfüllt eine wichtige Funktion: sie signalisiert, daβ man auf festem Boden steht und sich mit Fragen befaβt, über die weitgehend Konsensus und Klarheit herrschen. So wird Theoriebildung zur bloβen Affirmation der bestehenden alten Widersprüche, Inkonsequenzen und Ambiguitäten und die scheinbar endlose Reihe von Deduktionen in „wenn-dann-Resonnements“ der Ausführungen unermüdlich weiter fortgesetzt, weil die Prämissen der Schluβfolgerungen (die wenn-Komponente) der Kritik enthoben sind. (Vgl. die oben zitierte Aussage von P. v. Matt zum Verhältnis von Traum und Dichtung.) Nicht Fortschritte, sondern Status quo kennzeichnet die Lage.

 

Wir müssen es hier mit den erwähnten Beispielen zum Stand der psychoanalytischen Forschung auf sich beruhen lassen. Für weitere Information in dieser Frage, sei auf die sehr ausführliche Darstellung von Macmillan hingewiesen, besonders S. 484ff. und S. 519ff. Hier soll er nur mit seiner Konklusion noch einmal zu Wort kommen: „While the basic methodological deficiences remain, it will not matter how great an effort is made or which perspective is adopted. There is no way in which Freud’s original form of psychoanalysis or any modern derivation will ever lead to a satisfactory personality theory … After nearly one hundred years of psychoanalysis, psychoanalysts must begin all over again“ (ebd. S. 519).

 

Von vorne wieder anfangen. Das gilt in der Tat auch für die psychoanalytische Literaturforschung, wenn auch die berühmten Worte Goethes, daβ „aller Anfang schwer“ sei, für sie eine ganz besonders groβe Herausforderung darstellen: Sie muβ zur Kenntnis nehmen, daβ das Gebäude, das sie mit Hilfe von Analogien, vornehmlich zu Freuds Traumlehre, errichtet und durch seine Persönlichkeitstheorie inhaltlich ausgestattet hat, baufällig ist und daβ sie sich von Grund auf neu aufbauen muβ. In methodischer Hinsicht müβten die oben zitierten Worte Freuds über das Verhältnis von Wort und Sache für sie richtungsweisend sein. Sie würde dann die Scheinprobleme hinter sich lassen, die sich aus der Idee der Rekonstruktion der „unbewuβten Kommunikation“ des literarischen Textes ergeben und ihn als eine Sinnstruktur erforschen, die sich allein durch seine Sprache und ihre kontextuellen Bezüge konstituiert. Was ihre besonderen Erkenntnisziele anbelangt (Sexualität, emotionale Bindungen und Konflikte, Identitätsfragen usw.) kann nur eine empirisch orientierte Grundhaltung eine qualitative Änderung im Sinne intersubjektiv prüfbarer und korrigierbarer Ergebnisse herbeiführen. Von ihrer Bereitschaft, allgemeine wissenschaftliche Kriterien anzuerkennen, wird ihre Glaubwürdigkeit abhängen.

 

An eine eigenständige psychoanalytische Literaturwissenschaft aber wäre in absehbarer Zukunft nicht zu denken. Eine metapsychologische Theorie, die die obsolete Lehre Freuds ersetzen und als Basis einer eigenen Kreativitäts-, Interpretations- und Texttheorie dienen könnte, liegt nicht vor. Daβ es sie je wieder geben wird, ist wenig wahrscheinlich. Dafür hat der wissenschaftliche Fortschritt selbst gesorgt: Immer differenziertere und gegenstandsspezifische Erkenntnisse, wie sie für die Entwicklung etwa auf dem Gebiet der Neurophysiologie charakteristisch sind, können nicht durch Analogie auf andere Wissensbereiche übertragen werden und die theoretische Grundlage ihrer Praxis bilden. Aus den heute verfügbaren Einsichten in die komplexen psycho-physiologischen Vorgänge, die sich beim Träumen abspielen, können wir nicht ein Erklärungsmodell für die Struktur und Interpretation literarischer Texte ableiten. Aber indem diese Forschung die Entstehungs- und Funktionsbedingungen ungleicher Formen von Textproduktion klärt, wie Traum und Dichtung, schärft sie das Bewuβtsein ihrer jeweiligen Eigenart und verhindert dadurch, daβ wir fruchtlosen Spekulation anheimfallen. In kaum einer Disziplin ist das nötiger als in der psychoanalytischen Literaturwissenschaft.  Die Suche nach dem Schlüssel, der alle Türen auf einmal erschlieβt, gehört der Vergangenheit an.

 

   

Literatur

 

Freud, S.: Studienausgabe. Hrsg. A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strackey. Frankfurt a.M. 1972.

Hagestedt, J.: Die Entzifferung des Unbewuβten. Zur Hermeneutik psychoanalytischer Textinterpretation. Frankfurt a. M. 1988.

Hobson, J. A.: The Dreaming Brain. New York 1988.

Macmillan, M.: Freud Evaluated. Amsterdam 1997.

Matt, P von: Die Herausforderung der Literaturwissenschaft durch die Psychoanalyse. In: Amsterdamer Beiträge, Bd. 17, 1983, S. 1 – 13.

Schmiedt, H.: Regression als Utopie. Psychoanalytische Untersuchungen zur Form des Dramas. Würzburg 1987.

Schönau, W.: Die Konturen einer psychoanalytischen Literaturwissenschaft werden sichtbar. In: Merkur, Heft 9/10, 1988, S. 813 – 826.

Schönau, W.: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991.  

 

Erster Schritt hin auf das Verschwinden der Psychoanalyse aus Schweden

Max Scharnberg

Erster Schritt hin auf das Verschwinden der Psychoanalyse aus Schweden

Bis vor kurzem hatten achtzehn Ausbildungseinrichtungen in Schweden das Recht, den geschützten Titel lizenzierter Psychotherapeut an Absolventen ihres Ausbildungsprogramms zu verleihen. Vor rund zehn Jahren wurde jedoch ein Komitee bestellt, das die Qualität dieser Einrichtungen und ihrer Trainigsprogramme prüften sollten, um empfehlen zu können, ob dieses Recht fortbestehen oder entzogen werden sollte. Sechs Jahre lang wurden die Einrichtungen und Programme beobachtet. Allen Institutionen und Programme, deren Qualität als zu niedrig eingeschätzt wurde, bekamen eine Frist von einem Jahr zur Erreichung einer Verbesserung eingeräumt. Unter denen, die diese Atempause zur Verbesserung nicht nützten, war die Svenska  psychoanalytiska förenigen (SPF), die schwedische Sektion der International Psychoanalytic Association (IPA). Da die IPA eine weltweite Organisation ist mit starken internationalen Strukturen, ist es sinnvoll, ein Hauptaugenmerk auf ihre schwedische Sektion  zu richten.

 

Besagtes Komitee nennt sich selbst „Beurteilungsgruppe“ und der Report, den sie vorlegte, heißt „Högskoleverkets rapport 2007:30 R“ – Högskoleverket auf deutsch: Schwedische Agentur für die höhere Bildung. Die Kritik an der SPF / IPA-Ausbildung steht im Report auf den Seiten 142ff.

 

Psychoanalytiker und zertifizierter Psychoanalytiker sind in Schweden aber keine geschützten Titel. Die schwedische Sektion der IPA ist natürlich frei, ihre eigenen Regeln für die Bedingungen aufzustellen, unter denen man Mitglied in dieser Organisation werden kann. Es ist jedoch etwas ganz anderes, einem Kandidaten den staatlich geschützten Titel „lizenzsierter Psychotherapeut“ zu verleihen.

 

Als die Beurteilergruppe ihre Arbeit aufnahm, war das Ausbildungsprogramm der SPF auf sechs Jahre ausgelegt. Während der ersten drei Jahre studierten die Teilnehmer ausschließlich Psychoanalyse. Sie konnten aber auch mit dem vierten Jahr beginnen. Wenn sie die Kriterien nach dem 6. Jahr am Ende erfüllten, konnten sie „lizenzierte Psychotherapeuten“ werden.

 

Hier sah die Beurteilergruppe die erste Anomalie. „Ein großer Teil der Bewerber, die (zur Ausbildung) zugelassen wurden, waren vor der Zulassung bereits ‚lizenzierte Psychotherapeuten’, (acht etwa von den zwanzig 2003 und 2005 zur Ausbildung Zugelassenen).“ Wenn es das Ziel der Ausbildung ist, die Studenten zu lizenzierten Psychotherapeuten zu machen, ist es verwunderlich, Bewerber anzunehmen, die diese Lizenz bereits haben. Oder in den Worten der Beurteilergruppe: „Nachdem es das Ziel der Ausbildung ist, die Studenten zum Ablegen des Psychotherapeuten-Examens zu bringen, hält es die Beurteilergruppe für reichlich merkwürdig, Personen zuzulassen, die nicht das Ziel haben, dieses Examen zu bestehen.“

 

Meine eigene Überlegung richtet sich auf die Motivation jener „lizenzierten Psychotherapeuten“, die sich für die letzten drei Jahre der SFP/IPA-Ausbildung bewerben. Schwer vorstellbar ist, daß irgend ein anderes Motiv dahinter stand als ihr Wunsch, damit ein zertifiziertes SFP/IPA-Mitglied zu werden.

 

Übliches Vorgehen in der akademischen Welt ist, daß Studenten, die vor ihrer Zulassung schon ein äquivalentes anderes Training erhalten haben, nicht das gleiche Gebiet wiederholen müssen. So mag jemand am Königlichen Kolleg der Musik zwei Jahre lang Harmonielehre studiert haben und danach einen entsprechenden Kurs an der Universität belegen, in dem das gleiche Maß an Harmonielehre Thema ist. Dann wird er üblicherweise von dem nochmaligen Studium der gleichen Sache befreit werden. Im Unterschied dazu praktiziert die SPF/IPA die Vorschrift, daß nichts, was der Student, die Studentin außerhalb der IPA ge­lernt hat, irgend einen Nachlaß für das einbringt, was er/sie noch bei ihr zu lernen hat. Das ist die zweite Anomalie.

 

Die Beurteilergruppe erklärt dann eine dritte Anomalie: „Vom Psychotherapieexamen wird angenommen, daß es den/die Auszubildenden kompetent macht, Psychotherapie im Rahmen der medizinischen Dienstes zu erbringen. Besagter Ausbildungsweg unterscheidet sich (aber) nach sowohl der Form als auch dem Inhalt von (allen) anderen psychotherapeutischen Ausbildungswegen, weil es er, sowohl was die Menge der Unterrichtsstunden, der Supervision und des Literaturstudiums betrifft, viel mehr als die vorherrschenden Normen umfaßt. Eine psychotherapeutische Ausbildung kann nicht akzeptiert werden, bei der die Studenten nur ausgedehnte  Psychoanalysen durchführen, ohne daß von ihnen gefordert wäre, daß sie vor Beendigung der Ausbildung auch nur einen Fall wirklich abgeschlossen haben.. Zudem fehlt die Kurzzeit-Therapie, ob­wohl das öffentliche Gesundheitswesen just diese anfordert. (Es fehlt auch) eine breitere Diagnostik etwa im Rahmen des DSM- und ICD-Systems.

 

Da diese Assoziation (SPF/IPA) klein ist, haben die Dozenten verschiedene  Rollen gleichzeitig inne, z.B. Dozent und Supervisor und manchmal auch die des Psychoanalytikers des Studenten. Das ist unangemessen und muß durch die Einstellung von mehr Personal in die Ausbildung wieder ausgeglichen werden.

 

Der Ausbildungsvorgang der SFP/IPA läßt in jenen Bereichen zu wünschen übrig, die auf der Ebene der Hochschulbildung essentiell sind, z.B. einer offenen Haltung modernen Trends gegenüber innerhalb der Psychotherapie-Forschung außerhalb der eigenen Tradition. Hier gibt es keine Verbindung mit irgend einer Art von Forschung. Und obwohl mancher Student  bei anderen Institutionen oder Ausbildungsprogrammen etwas gelernt haben mag, werden solche Kenntnisse als null und nichtig angesehen. Sie bringen dem Studenten keine Einsparung an IPA-Unterricht. Dem Prinzip, daß alle Ausbildung auf Universitätsniveau in einem kritischen und kreativen Rahmen durchgeführt werden muß, wird nicht Genüge getan.

 

Darüber hinaus deckt der Ausbildungsteil, der allgemeine Wissenschaftstheorie betrifft, ein sehr enges Gebiet ab. Allein qualitative Methoden kommen dabei zum Einsatz.

 

Die Beurteilergruppe stellt weiter fest, daß „weil diese Assoziation (SPF/IPA) klein ist, haben die Dozenten verschiedene  Rollen gleichzeitig inne, z.B. die des Dozent und des Supervisors und manchmal auch die des Psychoanalytikers des Studenten. Das ist unangemessen…“

 

„Ein seltsamer Umstand ist auch, daß den Dozenten eine feste Anbindung in ver­traglich oder ähnlich festgelegter Form fehlt. Sie werden für jede einzelne Ausbildungsaufgabe speziell bestellt… Die Studenten bezahlten die Dozenten individuell für jede Stunde, jedes Seminar; jede Supervision, ein Muster, das weder dem Ausbildungsprogramm noch den Studenten Stabi­lität verleiht. Was zum Beispiel passiert, wenn der Student, die Studentin einen Teil der Ausbildung nicht bestanden hat und ihn wiederholen muß? Es ist sein / ihr Recht zu Beginn einer Ausbildung zu wissen, was sie kosten wird.“

 

Es nimmt nicht wunder, daß die SFP/IPA keine Maßnahmen auf eine Verbesserung hin ergriffen hat. Infolge dessen hat sie das Recht verloren, den Titel „lizenzierte Psychotherapeut“ zu verleihen. In Schweden können Sie sich nicht länger dem von der SPF/IPA angebotenen Trainingsprogramm unterziehen und auf dieser Basis die Lizenz zum Psychotherapeuten erwerben.