Freud und der Nobelpreis

Nils Wiklund

Freud und der Nobelpreis

 

Folgender Beitrag von Dr. phil. Nils Wiklund, Dozent in Psychologie, Stockholm, erschien in der führenden schwedischen Tageszeitung SVENSKA DAGBLADET am 7. Dezember 2006, die deutsche Übersetzung im Netz bei INFC am 11.01.2007.

 

Sigmund Freud wurde zwölf Mal für den Medizin-Nobelpreis nominiert. Weniger bekannt ist, daß Freud – ein früher „Postmodernist“, der sich seine eigene Wirklichkeit frei erschuf – auch für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde.

 

Im Jahr 1904 besuchte Sigmund Freud zum ersten Mal die Akropolis in Athen. Dabei hatte er ein eigenartiges Erlebnis: Obwohl ihm die Stadtburg seit seiner Schulzeit wohl bekannt war, dachte er verwundert: „Also existiert das alles wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben?!“ Gleichzeitig reflektierte Freud, der die Existenz der Akropolis ja nie angezweifelt hatte, über sich selbst und versuchte, seinen merkwürdigen Gedanken einzuordnen. Eine ähnliche Empfindung – ein flüchtiges, kaum beschreibbares Gefühl der Unwirklichkeit – ergriff sicher schon viele von uns, als wir vor Monumenten standen, die wir auf Bildern bereits hundertmal  gesehen haben: vor den Pyramiden, dem Eiffelturm, dem Taj Mahal.

 

Freud vergaß das Ereignis auf der Akropolis nie. 32 Jahre später, 1936 also, schrieb er einen reizvollen, kurzen Artikel, in dem er versuchte, das Erlebnis zu deuten. Freud glaubte, daß das Unwirklichkeitsgefühl mit der  Empfindung zusammenhing, „so weit“ (zur Akropolis, aber auch in seiner Arbeit) gekommen zu sein und damit den eigenen Vater übertroffen zu haben – was wiederum bestimmte psychische Reaktionen mit sich gebracht hätte.

 

Freuds Artikel „Eine Erinnerungsstörung auf der Akro­polis“ hatte zahlreiche Aufsätze verschiedener Psychoanalytiker zur Folge, so auch Risto Frieds faszinierende, 657 Seiten starke Monographie „Freud on the Acropolis: A Detective Story“ (2003). Risto Fried war Psychoanalytiker und Professor für Psychologie an der Universität von Jyväskylä; der aus Paris stammende Fried hatte an der Harvard-Universität doktoriert und war seiner finnischen Frau in ihr Heimatland gefolgt. Das Buch, das Fried erst kurz vor seinem Tod voll­endete, ist eine Fundgrube an Informationen über Freuds Leben und Persönlichkeit. Es ist Frieds opus magnum. In der Monographie zeigt Fried u. a., dass Freuds Artikel – vom psychologischen Inhalt einmal ganz abgesehen – ein literarisches Meisterwerk ist, das offenbart, wie meisterhaft Freud Quintilians rhetorische Regeln beherrschte.

 

Freud schrieb seinen Artikel als offenen Brief an den Nobelpreisträger Romain Rolland zu dessen 70. Geburtstag am 29. Januar 1936. (Freud wurde im gleichen Jahr 80 Jahre alt.) Er sandte seinen Artikel am 15.  Januar ab und schickte Rolland am eigentlichen Geburtstag noch ein Telegram. In Henri und Madeleine Vermorels 1993 erschienenen Buch über die Korrespondenz zwischen Freud und Rolland geht hervor, daß Rolland Freud am 8. Februar mit einem kurzen Dankesbrief antwortete. Rolland fand aber weit mehr Gefallen an Freuds Artikel, als die Kürze seines Dankesbriefes vermuten läßt. Fünf Tage, nachdem Freud seinen Artikel abgeschickt hatte, am 20. Januar 1936, machte Rolland nämlich von seinem Recht als Nobelpreisträger Gebrauch, einen neuen Kandidaten für den Preis vorschlagen zu können. In schöner Handschrift brachte er einen Brief an die Schwedische Akademie zu Papier: „Cher Monsieur le Secrétaire“, schrieb Rolland und schlug dann „Prof. Dr. Sigmund Freud aus Wien“ für den Literatur-Nobelpreis vor! Auf den ersten Blick, so Rolland, erschiene der Nobelpreis für Medizin passender. Aber Freuds Arbeiten hätten auch mit Psychologie zu tun und hätten einen neuen Weg gezeigt, das emotionale und intellektuelle Leben zu analysieren. Und schließlich hätten sie seit dreißig Jahren grundlegenden Einfluß auf die Literatur ausgeübt: „Man kann sagen, daß viele der bemerkenswertesten Vertreter des neuen Romans und des Theaters in Frankreich, England und Italien Freuds Kennzeichen tragen.“ Rolland fügte hinzu, daß er Freud persönlich kenne, und lobte Freuds guten Charakter, den dieser „während eines ganzen Lebens stoischer Arbeit bewahrte, obwohl ihm nie offizielle Ehrenzeichen verliehen wurden, sondern er ständig Zielscheibe von Feindseligkeiten war oder von Seiten der offiziellen Wissenschaft, die aufgebracht war über die Kühnheit seiner neuen Ideen, totgeschwiegen wurde.“

 

Romain Rollands Nominierung Sigmund Freuds löste in der Schwedischen Akademie natürlich lebhafte Diskussionen aus. Das ablehnende Urteil, das 2001 veröffentlicht wurde, war ebenfalls eine rhetorische Meisterleistung – inhaltsreich und treffend: „Obwohl es sich hier um einen Weltruhm handelt, der recht lange ge­radezu überwältigende Ausmaße hatte und von dem immer noch viel übrig ist, ist es dem Laien nicht unmöglich, dem Vorschlag einigermaßen guten Gewissens kritisch gegenüberzustehen.“ Gemäß dem Gutachten hänge Freuds Geltung, vom Wert seiner Behandlungsmethode ab, und über diesen Wert könnten nur „medizinwissenschaftliche Autoritäten urteilen und diesem Forum hätte der Vorschlag unterbreitet werden sollen“. Es ist „leicht, die Schärfe, Geschicktheit und Klarheit seiner Dialektik zu erfassen“, fährt das Gutachten fort. „Zweifellos verfügt er auch über einen sehr guten, ungezwungenen literarischen Stil, vielleicht mit Ausnahme der  eigentlichen Traumdeutung, auf der seine ganze Verkündigung fußt. Dort kann er in seiner Schilderung undeutlich werden. Und wo der Stoff in das Prokrustesbett seines Systems gezwängt wird, hört auch seine intellektuelle Wendigkeit auf. Mechanisch und gröblich unkritisch löst er den Wirrwarr des Traums in einer äußerst einfachen Symbolsprache auf, dem Maskulinum und Femininum von Geschlechtsorganen. Alle Gestalten, die der Träumende in seiner Vorstellung hervorzuzaubern vermag, reduziert er durch rein geometrische Vereinfachung auf die erwähnten zwei Formen; sie werden Scylla und Charybdis, zwischen denen es kein Durchkommen gibt. Auf diese Weise ist zwar alles deutbar, aber die Methode wird ein bißchen zu bequem und das Ergebnis unleugbar einförmig und dürftig.“

 

Der Ödipuskomplex wird als Freuds Idée fixe bezeichnet: „Daß Freud sich keinen Augenblick von seiner Idée fixe befreien kann, spricht übrigens nicht gerade für den praktischen Wert seiner Behandlungsmethode: ungehemmtes Bekennen zur Reinigung des Unbewußten. Daß die Gegenwart seine Weisheit in so großem Umfang und mit solcher Verzückung angenom­­men hat, dürfte in der Zukunft als eine ihrer charakteristischsten und bedenklichsten Seiten gelten. Als Grund für den Nobelpreis für Literatur hat ein solches Faktum wenig Gewicht. Um so weniger, als besonders die Verfasser schöngeistiger Literatur oft in seinen Lehren stecken geblieben sind und aus ihnen grobe Effekte und eine einfältige Psychologie gemacht haben.“ Das Gutachten schließt: „Wer auch die Geringsten dieser Kleinen so verdorben hat, sollte kaum Dichterlorbeeren ernten, wie viel er als Wissenschaftler auch immer gedichtet haben mag.“

 

Die Gutachten der Schwedischen Akademie unterzeich­nete Per Hallström. Er war 1936 der ständige Se­kretär der Akademie und Vorsitzender ihres Nobelkomitees. Viele andere (z. B. Hans Eysenck und Bror Gadelius) meinten, daß Freud ein kompetenter Autor sei, der trotz mangelnder wissenschaftlicher Fundierung mit rhetorischer Kunst überzeugen könne.

 

Man kann sich trotzdem fragen, warum Freud für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde, wo eine Kandidatur für den Nobelpreis für Medizin doch einleuchtender gewesen wäre. Das lag daran, daß sich das Nobelkomitee für Physiologie oder  Medizin am Karolinischen Institut an Freuds Nominierung immer uninteressiert gezeigt hatte. Die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte (Urenkelin Lucien Bonapartes, des Bruders von Napoléon Bonaparte, und Gattin Prinz Georgs von Griechenland und Dänemark) war Mitte der 1930er Jahre besonders aktiv beim Versuch, Freuds Kandidatur für den Nobelpreis sowohl für Medizin als auch für Literatur voranzutreiben. Sie trug wohl auch zu Romain Rollands Brief an die Schwedische Akademie bei.

 

Für den Medizin-Nobelpreis wurde Freud zum ersten Mal 1915 nominiert. 1917 bis 1920 wurde er jedes Jahr vom Nobelpreisträger Robert Bárány vorgeschlagen, einem Arzt aus Wien, der nach seiner Freilassung aus russischer Gefangenschaft 1917 Dozent an der Universität von Uppsala geworden war. Gemäß Ronald Clarks Darstellung in „Freud: The Man and the Cause“ (1980) stand Freud Báránys Unterstützung mit gemischten Gefühle gegenüber, denn Freud hatte Bárány früher als Schüler abgewiesen. Freud schrieb, daß ihn am Nobelpreis nur die finanzielle Zuwendung interessiere – und vielleicht der Umstand, mit der Auszeichnung einige seiner Landsleute ärgern zu können.

 

In den Jahren 1927 bis 1938 (dem Jahr vor seinem Tod) wurde Freud von verschiedenen Personen sieben Mal für den Medizin-Nobelpreis nominiert. 1937 wurde er von nicht weniger als 14 Professoren oder Nobel­preisträgern vorgeschlagen. Den Nominierungen folgte aber nicht ein­mal eine vollständige Analyse von Freuds Arbeit. Freud meinte mit der Zeit, dass ein Nobelpreis nicht zu seinem Lebensstil passe. Ungefähr ein Jahr vor seinem Tod schrieb er, dass er den Preis ablehnen würde, wenn er ihm aufgrund eines merkwürdigen Zufalls verliehen würde.

 

Das Nobelkomitee für Physiologie oder Medizin am Karolinischen Institut hat mir Einblick in interessante Originaldokumente gewährt:

 

1929 wurde Henry Marcus, Professor am Karolinischen Institut, vom Nobelkomitee beauftragt, eine vorläufige Bewertung von Freuds Leistungen zu erstellen, um zu entscheiden, ob eine vollständige Analyse durchgeführt werden solle. Marcus verneinte die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung energisch, weil Freuds Arbeiten nicht von nachgewiesenem wissenschaftlichem Wert seien. Nach einer Zusammenfassung der Lehre Freuds resümierte Marcus: „Wenn man versucht, Freuds psychoanalytische Lehre einer strengen Kritik zu unterziehen, muß man einräumen, daß die Forschung über die Bedeutung verdrängter Affekte für die Verursachung nervöser Symptome äußerst interessant ist und die Erkenntnisse über diese Zustände von den Neurologen fast ausnahmslos anerkannt sind. Dagegen meinen die meisten Forscher – mit Ausnahme von Freuds eigenen Schülern, von denen ihm diesbezüglich allerdings bereits mehrere abtrünnig geworden sind – es gäbe keinen Beweis dafür, daß die sexuellen Komplexe eine vorrangige Rolle für die Neurosen spie­len. Vor allem muß die Annahme der unbewußten sexuellen Traumen im frühen Kindesalter als unbewiesen und vom naturwissenschaftlich denkenden Arzt als hochgradig unwahrscheinlich und befremdlich angesehen werden. Freud stützt seine Behauptungen nur auf einige wenige Beispiele. Seine Traumdeutungen können darum nur als rein subjektive Erfahrungen und Konstruktionen angesehen werden. So wie sie jetzt vorliegt, ist Freuds ganze psychoanalytische Lehre größtenteils eine hypothetische Lehre, zu der sich ihre Anhänger fanatisch und fast religiös bekennen. Ich finde nicht, daß sie einer wirklich wissenschaftlichen Kritik standhalten kann.“

 

Professor Marcus’ scharfsinnige Beurteilung ist heute noch als zusammenfassende Kritik der Psychoanalyse relevant.

 

1933 wurde (auf nur einer Seite) von Professor Viktor Wigert eine weitere vorläufige Bewertung erstellt. Auch er sah eine vollständige Untersuchung als unnötig an. Wigert verzichtete auf eine Zusammenfassung von Freuds Lehrsystem, weil er es für allgemein bekannt hielt. Er meinte, Freuds Betrachtungsweise sei in hohem Grad revolutionierend. Auch wären mehrere „Entdeckungen“ Freuds so wichtig für die Psychiatrie, daß ein Nobelpreis sicherlich in Frage kommen könne. Das Problem sei jedoch, daß Freuds Lehren immer noch unbewiesen seien – die Verleihung eines Nobelpreises setze aber voraus, dass die zu belohnende Entdeckung völlig gesichert sei. Wigert betonte, daß Freuds Betrach­tungsweise von den größten Autoritäten der Psychiatrie sowohl in Schweden (z. B. von Bror Gadelius) als auch in anderen Ländern äußerst scharf kritisiert werde.

 

Die Gutachten der Schwedischen Akademie und des Nobelkomitees sind heute noch genauso stichhaltig wie damals. Die seriöse Kritik der Psychoanalyse hat erst in den letzten Jahrzehnten ihre volle Wirkung entfaltet. Gleich erstaunt wie über die tatsächliche Existenz der Akropolis wäre Freud wohl gewesen, wenn sich seine Gedankenkonstruktionen als etwas anderes als ein Glasperlenspiel erwiesen hätten. Freud kann am ehesten als früher „Postmodernist“ angesehen werden, der sich seine eigene Wirklichkeit frei erschuf.

 

Mein Dank geht an die Schwedische Akademie und an das Nobelkomitee für Medizin oder  Physiologie am Karolinischen Institut, Stockholm, für den Zugang zu Originaldokumenten.

 

Nils Wiklund, Stockholm