Asbjörn Tjeldflåt, Bergen, Norwegen
Im Labyrinth der Begriffe
Zur Freuds Psychoanalyse und ihrer Rezeption
in der neueren deutschen Literaturwissenschaft (2000)
Der hermetische Zirkel
Zur Praxis der psychoanalytischen Literaturwissenschaft
und ihrer theoretischen Grundlage (2004)
Zusammenfassung
Gemeinsames Thema der beiden Arbeiten sind die theoretischen und methodischen Probleme, die bei der Übertragung der Freudschen Psychoanalyse auf die Literaturwissenschaft entstehen. Im Mittelpunkt meiner Kritik steht die Analogie von Traum und Dichtung, die für die psychoanalytische Texttheorie und ihren analytischen Begriffsapparat grundlegend ist: Wie der Traum, wäre auch der literarische Text die bearbeitete, „manifeste“ Form „latenter“ Triebwünsche/Phantasien und nach den Regeln der Traumdeutung zu erschlieβen.
Diese Auffassung vom Text und seiner Interpretation wird mit der Begründung zurückgewiesen, daβ 1) Freuds Traumtheorie veraltet ist und von der Struktur literarischer Texte eine irrtümliche Vorstellung erzeugt, und 2) daβ es für das Konzept der Übersetzung des „Manifesten“ ins „Latente“ keine Regeln gibt und die Interpretation sich deshalb jeder Kontrolle entzieht.
Aus dem heute verfügbaren Wissen über das Träumen ist es nicht möglich, ein Strukturmodell literarischer Texte abzuleiten und eine eigene „tiefenhermeneutische Methode“ zu begründen. Traum und Dichtung sind grundverschiedene Texte. Die Literaturwissenschaft, der man durch die Applikation der Psychoanalyse zur neuen Einsicht verhelfen wollte, hat in Wirklichkeit einen schweren Rückschlag erlitten.
Zur akademischen Vita des Verfassers (geb. 1939): Wissenschaftliche Ausbildung in den Studienfächern Deutsch (Hauptfach), Englisch und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bergen und als DAAD-Stipendiat an der Freien Universität Berlin. Nach Abschluß des Studiums drei Jahre lang wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut. Seit 1970 hier tätig als als Dozent (Amanuensis) für neuere deutsche Literatur.
Hier jetzt die kürzere Arbeit von Asbjørn Tjeldflåt
(die erstgenannte, längere Arbeit abrufbar unter http://www.ub.uib.no/elpub/2000/a/505001)
Der hermetische Zirkel
Zur Praxis der psychoanalytischen Literaturforschung und ihrer theoretischen Grundlage
Bei den folgenden Überlegungen zur Praxis der psychoanalytischen Literaturforschung und ihrer theoretischen Grundlage soll zunächst die Frage ihrer Verfahrensweise, die sog. tiefenhermeneutische Methode, erörtert werden, die sie im Selbstverständnis dieser Disziplin als eigenständige Wissenschaft vom Text legitimiert und ihr besonderes Erkenntnisziel realisiert: die dem literarischen Text zugrundeliegenden unbewuβten Zusammenhänge freizulegen und uns dadurch ein volles Verständnis seiner Sinnstruktur zu ermöglichen. Die Aufdeckung dieser Dimension des Textes gilt als ihre besondere Leistung und zeichnet sie, heißt es, vor der herkömmlichen hermeneutischen Verfahrensweise aus.
Ich werde zeigen, daβ die tiefenhermeneutische Methode diesen Anspruch nicht erfüllt, weil sie an der Forderung der Kontrollierbarkeit ihrer Ergebnisse scheitert. Zu ihrem ambitiösen Ziel gelangt die psychoanalytische Literaturforschung nicht auf methodischem Wege; es wird vielmehr von der Theorie abgeleitet und dem Text unterschoben. Die Theorie ist der Schlüssel zum Text und die Ergebnisse lassen sich an der Sprachgestalt des Textes weder widerlegen noch bestätigen. Der hermeneutische Zirkel wird hermetisch abgeschlossen. Wie wir im Folgenden sehen werden, handelt es sich dabei um ein Übersetzungsproblem, das sich aus der Zweiweltenthese von „unten“ und „oben“ ergibt, die der psychoanalytischen Konzeption von Literatur zugrunde liegt und das durch den Mechanismus der Transformation des „Latenten“ ins „Manifeste“ seine besondere Signatur erhält: Weil der Text, den wir interpretieren, durch die „Kunstarbeit“ bearbeitet worden ist und somit – wie der manifeste Traum – von seinem „eigentlichen“ Sinn nichts verrät, kann er nicht auf Grund von sprachlich-formalen Merkmalen in seinen Subtext übersetzt werden. Ebenso wenig kann der Subtext durch die Interpretation rekonstruiert werden, weil seine Inhalte durch die nämliche Kunstarbeit in transformierter Gestalt in den Text eingegangen sind. Da wir hier vor einem unentwirrbaren Beziehungsgeflecht stehen, haben wir keine Möglichkeit, die Kluft zwischen dem unbewuβten Antrieb der Textproduktion und seiner Realisation im Text zu überbrücken und anhand von Regeln die Übersetzung der manifesten Sprache des Textes in die latente seines Subtextes – das anvisierte Ziel der psychoanalytischen Interpretation – zu kontrollieren. Damit haben die Regeln, die Freud zur Deutung von Träumen entwickelte und auf die man sich jetzt in der Literaturwissenschaft beruft, auch bei der Analyse literarischer Texte keinen praktischen Wert.
Im Anschluβ an diese Kritik werde ich – unter Berufung auf Freud selber – einen Hinweis auf eine mögliche Lösung des Methodenproblems der psychoanalytischen Literaturforschung geben und mindestens ansatzweise zeigen, wie sie auf der Grundlage der herkömmlichen Hermeneutik einen legitimen Beitrag zum Verständnis von Literatur liefern könnte. Mit der dabei entstehenden Frage, was dann von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft noch übrigbleibt, werde ich mich abschließend befassen, indem ich einige der für sie zentralen Aspekte der Freudschen Psychoanalyse, vor allem seine Traumtheorie, im Licht moderner Forschung untersuche.
Das Problem der Kontrollierbarkeit soll kurz an einer Interpretation von Heines „Loreley“-Gedicht erläutert werden, an dem W. Schönau im Kapitel über die Rezeption literarischer Texte in seiner Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft (1991) „die unbewuβte Kommunikation“ demonstriert, die sich im Verhältnis von Autor und Text bzw. Leser und Text abspielt und die für die Sinnstruktur des Textes von grundlegender Bedeutung sei. Dem liegt folgende Argumentation zugrunde: Bei der Gestaltung des Textes sind es unbewuβte, verdrängte Triebwünsche, die dem Autor die Feder führen und seinem Text jenen überindividuellen, prototypischen Charakter verleihen, dem er seine überzeitliche Wirkung verdankt und der über die Faszination des Lesers entscheidet. In W. Schönaus eigenen Worten: „Das Inspirationserlebnis erscheint in psychoanalytischer Sicht als Fusion mit einem früheren schützenden Mutterbild […] Rein gefühlsmäβig bedeutet die Rezeption fiktionaler Dichtung eine Wiederholung der Fusion mit dem frühen Mutterbild, eine partielle und virtuelle Rückkehr in die Phase der Subjekt – Objekt – Verschmelzung“ (W. Schönau 1991, S. 40). Dem Interpreten schlieβlich, ist es vorbehalten, die unbewuβte Kommunikation ins Licht der Erkenntnis zu heben und den Leser über den eigentlichen Grund seiner Faszination aufzuklären. Auf Heines „Loreley“-Ballade appliziert, gelangt W. Schönau zum folgenden Ergebnis: „Die unbewuβte Kommunikation verläuft also etwa folgendermaβen: Heine bringt in dem Loreley-Märchen seine narziβtische Kränkung durch das Amalien-Erlebnis zum Ausdruck. (Nach W. Schönau ist das Gedicht auf der Ebene des Bewuβtseins „die mythische Verkleidung“ der unglücklichen Liebe Heines zu seiner Kusine Amalie). Dieses Erlebnis aber reaktiviert in ihm die verdrängten ödipalen Gefühlskonstellationen. Im Leser weckt die Loreley-Figur ähnliche verdrängte Phantasien und Wünsche zum neuen Leben. Beide, Autor und Leser, wissen aber nicht, warum sie so traurig sind“ (ebd. S. 44f.).
An diesen Überlegungen zum Heines Gedicht, die das Grundmuster psychoanalytischer Erforschung von Literatur darstellen, interessiert uns vor allem die Rolle des Interpreten. Wie gelangt er zu seiner Einsicht in den latenten Sinngehalt des Textes? Daβ das Amalien-Erlebnis in Heine „verdränge ödipale Gefühlskonstellationen“ reaktiviere, die sich an der Loreley-Figur im Leser immer wieder entzünden und seine Faszination durch diesen Text erklären, ist alles andere als evident. In der Tat gibt es dafür im Gedicht keine Anhaltspunkte. Ist das Verfahren, durch welches hier der Text auf seinen Subtext zurückgeführt wird, von Regeln gesteuert? Wie man unschwer erkennt, ist die konzeptuelle Vorstellung vom literarischen Text und seiner Auslegung, die den Ausführungen zum Heines Gedicht zugrunde liegt, an Freuds Traumdeutung modelliert: hier wie dort sind es unbewuβte Triebwünsche, die durch die „Kunstarbeit“ bzw. „Traumarbeit“ überarbeitet werden, so daβ der Leser wie der Träumende ihren wahren Charakter nicht erkennen, von seiner Wirkung aber gebannt sind. Aufklärung bringt erst der Interpret bzw. der Traumdeuter. Folgerichtig muβ auch die Auslegung literarischer Texte nach den selben Regeln erfolgen wie bei der Deutung von Träumen. Wie sehen diese Regeln aus?
Wie Freud sowohl in der Traumdeutung wie auch in späteren Arbeiten betont, entsprich die Differenz zwischen dem manifesten Trauminhalt und dem latenten Traumgedanken derjenigen, die zwischen einem entstellten, lückenhaften Text und seiner ursprünglichen Sprachgestalt besteht. Bei der Deutung wird somit der Traum in sein Original zurückübersetzt. Für ein zuverlässiges Resultat sollen bestimmte Deutungsregeln bürgen. In seiner umfassenden Arbeit über Freuds Psychoanalyse – Freud Evaluated (1997) – hat M. Macmillan auch diese Frage erörtert und nachgewiesen, daβ die Analogie von Traum und Sprache irrtümlich ist, weil Freud, im Unterschied zum Philologen bzw. Übersetztungswissenschaftler, sich auf keine Regeln berufen kann. Macmillan führt hierfür drei Gründe ins Feld, auf die im folgenden eingegangen werden soll.
Fürs erste scheitert die Analogie am Wesen des Traums, der sich nach Freud von sprachlichen Äuβerungen darin unterscheidet, daβ er keine Kommunikation ist und nicht verstanden werden will. Während jene „zur Mitteilung bestimmt sind, d.h. darauf berechnet, […] verstanden zu werden“, so gehe „gerade dieser Charakter dem Traum ab. Der Traum will niemandem etwas sagen, er ist kein Vehikel der Mitteilung, er ist im Gegenteil darauf angelegt, unverstanden zu bleiben“ (St. A. Bd. I S. 234). Zwar wird der Traum durch den Bericht des Träumers in eine Kommunikation verwandelt, aber das ist, wie Freud betont, eine Wiedergabe des Traums durch „ungeeignete Mittel“, denn der Traum ist an sich keine soziale Äuβerung, kein Mittel der Verständigung“ (ebd. S. 252). Durch die Deutung bzw. Übersetzung beansprucht Freud dennoch, den Traum in eine Kommunikation zu transformieren, aber wie, so fragt Macmillan, ist das möglich, wenn der manifeste Inhalt nicht kommuniziert? Können die freien Assoziationen des Träumers, die dabei eine wesentliche Rolle spielen, den Traum in eine Mitteilung verwandeln? Sind sie nicht gleichfalls „ungeeignte Mittel“ der Traumwiedergabe? Die freien Assoziationen sind nicht nur interpretationsbedürftig, wie man gemeint hat (vgl. J. Hagestedt 1988, S. 84); sie können die Funktion, die ihnen Freud zuschreibt, grundsätzlich nicht erfüllen.
Zum zweiten zerbricht die Analogie von Traumdeutung und Übersetzung, weil es bei der Entschlüsselung von Träumen keine semantischen Regeln der Substitution gibt, die für eine annähernd korrekte und kontrollierbare Übersetzung bürgen könnten. Das ist allenfalls nur bei einigen Symbolen mit festem Sinn möglich, die Freud beanspruchte, entdeckt zu haben und die, wie er schreibt, „fast allgemein eindeutig zu übersetzen sind“, wie z.B. König und Königin für die Eltern, Zimmer zur Darstellung von Frauenzimmer, die Ein- und Ausgänge derselben bezeichnen Körperöffnungen, starre Gegenstände das männliche Genitale, Schränke und Schachteln den Frauenleib usw. (Vgl. St. A. Bd. I, S. 697). Aber einerseits ist nach Freud die Zahl solcher Symbole begrenzt, weshalb die freien Assoziation des Träumers bei der Deutung unerläβlich sind. Andererseits sind die Symbole nicht immer Symbole; vielmehr „kann ein Symbol oft genug im Trauminhalt nicht symbolisch, sondern in seinem eigentlichen Sinn zu deuten sein“ (St. A. Bd. II, S. 347; vgl. auch Bd. I, S. 231). Damit ist es in der Tat völlig offen, was ein Traumelement zu bedeuten hat, weil keine Kriterien angegeben sind, nach denen wir entscheiden können, ob ein Element symbolisch oder nicht-symbolisch zu verstehen ist. Auf diese grundsätzliche Offenheit der Sinndetermination aber gründet Freud die Deutungsregel, „daβ jedes Element des Traums für die Deutung auch sein Gegenteil darstellen kann, ebensowohl wie sich selbst“ (St. A. Bd. II, S. 454). An einer anderen Stelle faβt er die Lage des Interpreten bzw. Übersetzers mit folgenden Worten zusammen: „Es ist im allgemeinen bei der Deutung eines jeden Traumelements zweifelhaft, ob es: a) im positiven oder negativen Sinne genommen werden soll (Gegensatzrelation); b) historisch zu deuten ist (als Reminizenz); c) symbolisch, oder ob d) seine Verwendung vom Wortlaut ausgehen soll“ (ebd. S. 337). Die Symbolsprache ist somit weit davon entfernt, einen semantisch einheitlichen Text zu bilden, der uns erlauben würde, auf den eigentlichen Sinn des verschlüsselten manifesten Trauminhalts zu schließen. Hinzu kommt noch das für eine adaeqate Übersetzung unübersteigbare Problem, das sich aus den Transformationen des latenten Traumgedankens durch die Traumarbeit ergibt. Indem etwa die „Verdichtung“ eine Fülle von Elementen aus dem umfangsreicheren latenten Traum ausläβt, ist der manifeste Traum nach Freud nicht eine „getreue Übersetzung oder Projektion Punkt für Punkt der Traumgedanken, sondern eine höchst unvollständige und lückenhafte Wiedergabe derselben“ (St. A. Bd. II, S. 284). Wie sind solche Lücken zu schließen, wenn nicht eine zweite Schrift zum Vergleich herangezogen werden kann? Ähnliche unlösbare Probleme entstehen durch die anderen Mechanismen der Transformation, wie etwa die „Aufspaltung“, bei der ein latentes Traumelement durch mehrere manifeste vertreten ist und der manifeste Traum somit umfangsreicher ist als der latente, oder bei der „Umkehrung“, wo das Gegenteil von dem gemeint ist, als was auf der manifesten Traumebene erscheint, und schlieβlich bei der „Verschiebung“ im Sinne von Übertragung psycho-sexueller Vorstellungen auf eine auf der manifesten Ebene nur scheinbar wichtige, in Wirklichkeit aber unwesentliche Figur, so daβ Affekt- und Vorstellungsbreich dissoziieren. Wenn nach Freud die Lage des Intepreten dadurch gekennzeichnet ist, „daβ keine einfache Beziehung zwischen den Elementen dort und hier bestehen bleibt“ (Bd. I, S. 181), dann ist es nicht möglich, die Substitution eines Elements durch ein anderes zu kontrollieren und Konsensus darüber zu erzielen, was der Traum „eigentlich“ bedeutet. Die Entscheidung hierüber ist in der Tat willkürlich.
Fürs dritte scheitert die fragliche Analogie an der Abwesenheit grammatisch-syntaktischer Regeln bei der Produktion von manifesten Elementen durch die Traumarbeit. Wenn sie dafür sorgt, daβ der ursprüngliche logisch-kausale Zusammenhang unter den Traumgedanken aufgehoben wird, indem die einzelen Stücke dieses komplexen Gebildes – Freud nennt es auch „Text“ – „gedreht, zerbröckelt und zusammengezogen werden“ (Bd. II, S. 310), so hat das u. a. zur Folge, daβ die für das Verständnis von Rede und Schrift erforderlichen Konjunktionen, wie „wenn“, „weil“, „gleichwie“, „obgleich“, „entweder- oder“ usw. (falls sie nicht durch bildhafte Darstellung ersetzt werden) im manifesten Traumtext ihre normale Funktion einbüβen und syntaktische Zusammenhänge erzeugen, in denen die Beziehung zwischen den Elementen aus den Fugen gerät und es deshalb unmöglich ist, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Nach Freud bleibt es „der Deutungsarbeit überlassen, den Zusammenhang wiederherzustellen, den die Traumarbeit vernichtet hat“ (ebd. S. 311). Das wäre aber nur dann möglich, wenn er die beiden Texte mit einander vergleichen und die syntaktischen Entstellungen identifizieren könnte. Diese Möglichkeit hat er aber nicht. Wie er das Problem „löst“, mag die Deutungsregel bei der Alternative „entweder-oder“ im Traumbericht verdeutlichen: „Es war entweder ein Garten oder ein Zimmer usw., da kommt in dem Traumgedanken nicht etwa eine Alternative, sondern ein „und“, eine einfache Anreihung vor … Die Deutungsregel für diesen Fall lautet: Die einzelnen Glieder der scheinbaren Alternative sind einander gleichzusetzen und durch „und“ zu verbinden“ (Bd. II S. 315).
Vor diesem Hintergrund können wir mit Macmilllan konkludieren: „the latent content is actually constructed during interpretation rather than discovered by it. No rules can be established for arriving at a correct interpretation because the absence of a second script prevents any from ever being formulated. What Freud actually did when he interpreted a dream was to use the same material – the patient’s and his own associatations – to construct both the dream thoughts and the rules for transforming them“ (M. Macmillan 1997, S. 577.Hervorhebung im Original).
In seiner Einleitung zur „Traumarbeit“ schreibt Freud: „Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen“ (Bd. II, S. 280). Aber eben diese Vergleichung von Original und Übersetzung ist nicht möglich. Die Schrift der Traumgedanken existiert nicht als eigener Text vor der Übersetzung. Deshalb kann es für das Projekt der Traumdeutung keine Regeln geben, wie Macmillan abschlieβend durch folgende Frage bemerkt: „is it possible to develop rules for revealing the meaning of a yet -to – existist second script when the meaning of the first also depends on them“ (ebd. S. 578).
Mit Bezug auf einen Aphorismus Kafkas hat H. Hieben die Psychoanalyse als „tautologische und zirkuläre Spiegelschrift einer Spiegelschrift in der Form eines petitio principii“ bezeichnet (zit. n. J. Hagestedt 1988, S. 119). Bei der Übertragung der Freudschen Psychoanalyse und ihres Verfahrens auf die Erforschung literarischer Texte ist diese Charakteristik nicht weniger berechtigt. Von den oben dargestellten drei kritischen Punkten zur Deutung von Träumen entfällt natürlich der erste, weil der literarische Text, anders als der Traum, kommuniziert und verstanden werden will. Aber bei der Ermittlung dessen, was er kommuniziert, melden sich dieselben Probleme wie bei der Übersetzung von Träumen, oder sie werden wo möglich noch größer.
Den Vorgängen beim Träumen analog, faβt man in der psychoanalytischen Literaturforschung, wie wir an der Interpretation von Heines „Loreley“-Gedicht gesehen haben, den literarischen Text auf als Kompromiβbildung zwischen Wunsch und Abwehr, als Produkt einer sekundären Bearbeitung prinärprozeβhafter Vorgänge. Die Maskierung der unbewuβten Phantasien, die dem Text zugrunde liegen, leistet hier die „Kunstarbeit“ (Vgl. W. Schönau 1991, S. 20). Die eigentümliche Sprache, die der manifeste Traum der „Traumarbeit“ verdankt, also die Merkmale der Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit usw., ist auch die Sprache der „Obenflächenstruktur“ des literarischen Textes. Bei der Interpretation wird er, wie der Traum, in seine ursprüngliche Sprachgestalt bzw. „Tiefenstruktur“ übersetzt. Aber der Literaturwissenschaftler befindet sich dabei in einer noch schwierigeren Lage als der Traumdeuter. Wenn nämlich, wie R. Wolf zur Traumanalyse bemerkt, „der entstellende Einfluβ der Traumarbeit“ am Grad der Verständlichkeit des Traums erkennbar ist und die Traumgedanken dem entsprechen in variierendem Maβe bewahrt sind: „Je stärker die Verständlichkeit des erinnerten Traums ausgeprägt ist, desto stärker war der Einfluβ des Sekundärvorgangs auf die Traumbildung und desto weniger ist der ursprüngliche Zusammenhang der Elemente gewahrt“ (R. Wolf 1975, S. 426), wenn also der Zugang zu den latenten Traumgedanken von der Intensität der sekundären Bearbeitung abhängt, so leuchtet ohne weiteres ein, daβ es bei der Interpretation eines literarischern Textes ungleich schwieriger ist als bei der Traumdeutung, zum ursprünglichen Sinnzusammenhang vorzustoβen. Sowohl zum Zweck der Verständlichkeit und Kommunikation wie aus Rücksicht auf Konventionen und Normen ist der literarische Text in weit höherem Maβe bearbeitet als der verständlichste Traum und somit ist hier „der ursprüngliche Zusammenhang der Elemente weit weniger gewahrt“ als dort. Wie kann der Literaturwissenschaftler die kompakte Hülle der Form durchbrechen und zur „Tiefenstruikur“ des Textes vordringen? Die gängige Antwort auf diese Frage lautet, daβ ihm das gelingt, wenn er auf jene Stellen im Text achtet, wo seine Sprache Risse, Lücken. Brüche, Auslassungen und Inkohäherenzen aufweist, weil hier intensive Gefühlsregungen sich zeitweilig der Zensur entziehen und die Kompromiβbildung von Triebwusch und Abwehr, die den literarischen Diskurs konstituiert, momentan aufgehoben ist. H. Schmiedt beschreibt ihre Funktion so: „Wo Bedürfnisse zu stark werden oder Repressionsmaβnahmen zu energisch, entstehen Risse in der Sprache, die für einen Augenblick den unverstellten Blick auf die zugrundeliegenden Konflikte freilegen, dann aber sofort wieder der Verhüllung unterliegen und den stetig labilen Prozeβ der Kompromiβbildung […] erneut in Gang setzen“ (H. Schmiedt 1987, S. 31). Für W. Schönau, der dem Leser, der sich in der psychoanalytischen Interpretation üben will, einige didaktische Ratschläge erteilt, handelt es sich bei den erwähnten Textstellen um „die Bruchstellen, wo das Urgestein zutage liegt, wo es also den Prozessen der sekundären Bearbeitung nicht ganz gelungen ist, dieses zu verhüllen“ (W. Schönau 1991, S. 109).
Mit den erwähnten Merkmalen literarischer Texte sind wir durch die Wirkungs- bzw. Rezeptionsforschung seit langem vertraut. Es sind die sog. Leer- oder Unbestimmtheitsstellen im literarischen Diskurs, die für die Vielfalt von Rezeptionen fiktionaler Texte eine gewisse Rolle spielen, weil der Leser sie, je nach seinen Voraussetzungen, auf unterschiedliche Weise realisiert. Wie geht er bei der Behebung von Unbestimmtheit, z.B. einer Auslassung im Dialog zwischen zwei Figuren vor? Er sucht die fragmentarische Aussage zu vervollständigen, indem er sie in ihrem sprachlichen bzw. auβersprachlichen Kontext beurteilt und von seinem (vorläufigen) Textverständnis her auf ihre mögliche Bedeutung schlieβt. Kurz: er sucht die Unbestimmtheit durch Stellen der Bestimmtheit zu beseitigen. Sie bilden zusammen das Sinnpotential des Textes. Nur durch die Herstellung der Beziehung des „Teils“ zum „Ganzen“ ist diese Operation intersubjektiv kontrollierbar. Bei der psychoanalytischen Interpretation aber ist dem Leser diese Möglichkeit grundsätzlich verschlossen. Hier sind ihm die fraglichen Merkmale des Textes „Bruchstellen“ einer momentanen, unverstellten Einsicht in thematische Zusammenhänge ( die dem Text zugrundeliegenden unbewuβten Konflikte), die im übrigen Text nicht, weil durch die „Kunstarbeit“ verschlüsselt (Kompromiβbildung von Wunsch und Abwehr), nicht zur Sprache kommen. Die Unbestimmtheitsstellen werden hier anhand eines Textes bzw. Subtextes behoben, den es nicht gibt – auβer in der psychoanalytischen Theorie selbst. Der psychoanalytische Interpret befindet sich also in der eigentümlichen Situation, daβ er seine Annahmen über Sinn und Sinnzusammenhänge am Text nicht belegen kann. Die lückenlosen Textstellen, die uns sonst als Vergleichsgrundlage bei der Sinndetermination von Unbestimmtheit dienen, sind für ihn als Produkt der Kompromiβbildung von Wunsch und Abwehr gerade dadurch gekennzeichnet, daβ sie (wie der manifeste Traum) über die „wahren“ Zusammenhänge keine zuverlässige Information geben. Ebenso wenig wie bei der Deutung von Träumen können wir bei der Interpretation literarischer Texte an den Brüchen, Auslassungen usw. als solchen „das Urgestein“ erkennen und jenen Zusammenhang herstellen, den der Text auf der unbewuβten Ebene angeblich hat. Hier wie dort verfügen wir über keine Regeln der Syntax oder Substitution, die für die Behebung von Unbestimmtheit erforderlich sind. Mit einem Wort: weil der Subtext nicht als Text vorliegt und auch am manifesten Text nicht rekonstruiert werden kann, haben wir keine Möglichkeit, die sprachlichen Entstellungen zu identifizieren und festzustellen, was im fragmentarischen Text ausgelassen ist.
Kehren wir hier kurz zurück zur eingangs zitierten Interpretation von Heines Loreley-Gedicht. An ihr ist deutlich erkennbar, was für die psychoanalytische Interpretation grundsätzlich gilt: „Die unbewuβte Kommunikation“ ödipaler Phantasien, die W. Schönau für den eigentlichen Sinngehalt des Gedichts hält und der, wie er meint, seine Faszination auf Generationen von Lesern erklärt, ist nicht eine Eigenschaft des Textes, die durch die Analyse seiner sprachlich-formalen Merkmale bloβgelegt wird. Wie der latente Inhalt bei der Traumanalyse, wird sie nicht nach Regeln vom Text abgeleitet, sondern während der Interpretation konstruiert. Der Interpret verwendet dasselbe Material – den Text und seine eigenen Assoziationen – um sowohl „die unbewuβte Kommunikation“ wie auch die Regeln ihrer Transformation zu etablieren. Daβ, wie ich oben bemerkte, jene Annahme über die Sinnstruktur des Gedichts alles andere als evident ist, ist nicht ein zufälliger Mangel, sondern ein wesentliches Kennzeichen solcher Interpretation: Sie läβt sich am Text weder begründen noch widerlegen. Er dient bloβ als Projektionsfläche für psychoanalytische Theoreme, hier den Ödipuskomplex, der, weil „unbewuβt“, an der Sprachgestalt des Gedichts nicht begründet werden kann. Das Kriterium der Kontrollierbarkeit von Aussagen, an dem sich die Interpretation auszuweisen hat, ist suspendiert.
Gibt es für die psychoanalytische Erforschung von Literatur einen Ausweg aus der methodischen Aporie, die sich aus dem ihr zugrundeliegenden Denkmodell von „oben“ und „unten“, vom „Manifesten“ und „Latenten“, von „Oberflächenstruktur“ und „Tiefenstruktur“ literarischer Texte zwangsläufig ergibt? Mit Freud selber soll kurz auf eine mögliche Lösung hingewiesen werden. Indem er an einer Stelle die Beziehung der „unbewuβten Sachvorstellung“ zu ihrem sprachlichen Ausdruck erörtert, korrigiert er seine frühere Auffassung durch folgende Bemerkung: „Wir glauben nun zu wissen, wodurch sich eine bewuβte Vorstellung von einer unbewuβten unterscheidet. Die beiden sind nicht, wie wir gemeint haben, verschiedene Niederschriften desselben Inhaltes an verschiedenen psychischen Orten, auch nicht verschiedene Besetzungszustände an demselben Orte, sondern die bewuβte Vorstellung umfaβt die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewuβte ist die Sachvorstellung allein“ (St. A. III, S. 160). Für das textanalytische Verfahren ergäbe sich aus dieser Überlegung zum Verhältnis von Wort und Sache, daβ der literarische Text auch für die psychoanalytische Interpretation verbindlich sein würde, daβ sie ihre Annahmen über Sinn und Sinnzusammenhänge an seiner Sprache begründen und sich der Forderung ihrer Prüfbarkeit unterziehen müβte. Wenn zwischen Wort und Sache, zwischen dem manifesten Ausdruck und seinem latenten Inhalt keine Differenz besteht, wenn sie vielmehr eine semantische Einheit bilden, wie Freud meint, so wäre das fragwürdige Projekt der Übersetzung des Textes in seine „eigentliche“ Sprache in der Tat aus dem Wege geräumt und die psychoanalytische Literaturforschung würde allein in Bezug auf ihr besonderes Erkenntnisinteresse – die Erforschung psychosexueller Verhältnisse, emotionaler Bindungen, Identitätsfragen usw. – ihren spezifischen Charakter erhalten. In methodischer Hinsicht aber, würde sie auf dem Boden der herkömmlichen Hermeneutik stehen und den Text im Sinne jener Verfahrensweise erforschen, die von einer bestimmten Fragestellung („Vorentscheidung“) her seine Bedeutung im fortschreitenden Prozeβ des Lesens durch die Herstellung von internen und kontextuellen Beziehungen seiner Elemente ermittelt und allmählich zu einem adäquaten Textverständnis gelangt. Die Struktur des Textes wäre dann weder „tief“ noch „oberflächlich“, sondern eine Sinnstruktur.
Die methodische Reorientierung, die aus Freuds Bestimmung des Verhältnisses von Wort und Sache erfolgen könnte, würde indessen, wie bereits angedeutet wurde, für die psychoanalytische Literaturwissenschaft groβe theoretische Unkosten zur Folge haben. Sie müβte bereit sein, mit veraltetem Gedankengut aufzuräumen und in der theoretisch-empirischen Forschung von heute eine neue Grundlage ihrer Praxis zu suchen. Ob sie dann noch als eigenständige Literaturwissenschaft überlebt, ist allerdings fragwürdig. Mit diesen Fragen werde ich mich abschliessend befassen.
W. Schönau beschlieβt den systematischen Teil seiner Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft mit einigen Bemerkung zu der in letzter Zeit an Freuds Psychoanalyse geübten Kritik, die er aber durch den Hinweis auf „die Fortschritte in der Theoriebildung der letzten Jahre“ als für die Psychoanalyse nicht besonders schwerwiegend zurückweist: „Wenn Freud sich in verschiedenen Punkten geirrt hat, ist damit der Psychoanalyse als Forschungsrichtung nicht der Boden entzogen“ (S. 112). Die Formulierung erweckt den Eindruck, daβ es sich dabei um bloβ marginale Punkte handelt, die für die Psychoanalyse als solche und damit die Literaturwissenschaft kaum von Bedeutung sind. Die groβe Herausforderung an die psychoanalytische Literaturwissenschaft aber liegt darin, daβ Freud sich in den zentralen Punkten seiner Lehre geirrt hat und daβ sie in allen ihren wesentlichen Aspekten überholt ist. Das gilt nicht zuletzt für jenes Werk, das Freud für sein opus magnum hielt und das für die psychoanalytische Literaturforschung von grundlegender Bedeutung ist: Die Traumdeutung. Zur Illustration ihrer Bedeutung sollen hier nur zwei repräsentative Beispiele aus der psychoanalytischen Forschung angeführt werden: Nach P. v. Matt hat Freud die alte Vermutung einer engen Verwandtschaft zwischen Traum und Dichtung durch die Entdeckung der ihnen gemeinsamen Gesetze wissenschaftlich bestätigt: „Wenn der Traum ein Geschehen ist, das nicht in chaotischer Weise abläuft, sondern nach festen Gesetzen, und wenn die Literatur ein Geschehehn ist, das dem Traum seiner Natur nach verwandt ist, dann müssen die Gesetze des Traums auch die Gesetze der Literatur sein“ P. v. Matt 1988, S. 1). Wie diese „Gesetze“ sich auf den verschiedenen Ebenen des Traums bzw. der Dichtung auswirken, erklärt uns W. Schönau: „Der manifeste Trauminhalt […] entspricht dem Handlungsverlauf, der Oberflächenstruktur des literarischen Werkes. Der latente Traumgedanke […] entspricht dem psychodramatischen Substrat‘ des Werkes. Das Traumerlebnis der Rezeption, die Traumdeutung der Interpretation des Werkes. Die Traumarbeit, die Transformation des ursprünglichen Traumgedankens durch die Mechanismen der Verschiebung, Verdichtung usw. unter dem Antrieb eines Wunsches, läβt sich mit den unbewuβten Anteilen der Kunstarbeit vergleichen, in der ebenfalls eine ursprüngliche Phantasie einem intensiven wiederholten Verwandlungs- und Bearbeitungsprozeβ unterworfen wird“ (W. Schönau 1991, S. 85).
Daβ Freuds Traumlehre heute noch den Status einer gültigen Theorie genieβt, oder gar als die epochal neue Wissenschaft vom Traum betrachtet wird, beruht wohl nicht zuletzt darauf, daβ sich ins allgemeine Bewuβtsein die Vorstellung eingeprägt hat, daβ Freud hier – im Unterschied zu seinen neurophysiologisch orientierten Zeitgenossen – den Traum als ein rein psychologisches Phänomen erhelle, daβ er durch Selbstanalyse oder therapeutische Erfahrung das geheime Räderwerk der Seele aufgedeckt habe und intuitiv die Vorgänge beschreibe, die sich beim Träumen tatsächlich abspielen. Das ist, wie man nachgewiesen hat, nicht der Fall. Seiner Traumlehre liegt vielmehr dieselbe neurophysiologische Theorie zugrunde, die in seiner nicht-publizierten Arbeit Entwurf einer Psychologie (1895) enthalten ist; das theoretische Modell ist mit nur wenigen Modifikation in der Traumdeutung wiedergegeben (St. A. S. 514). Nur wenn man diese Theorie „des psychischen Apparates“ berücksichtigt, ist Freuds Traumlehre überhaupt begreiflich. Sie soll deshalb hier kurz skizziert werden.
Kernstück dieser Gehirntheorie, die Freud durch seine Lehrer (Brücke, Meynert) vermittelt wurde, ist die Vorstellung vom Nervensystem als einem passiven Reflexapparat, der entweder durch äuβere Stimuli, also Sinneswahrnehmungen, oder durch innere (somatische) Stimuli, darunter vor allem die Triebe aktiviert wird. Im Modell gibt es zwei Wege, auf die jene Stimulus-Energie geleitet wird: Sie findet entweder ihre Entladung in motorischer Aktivität, oder sie wird im psychischen Apparat gespeichert, um später entladen zu werden, z.B. in Träumen oder krankhaftren Symptomen. Auβer bei der Produktion von Energie inaktiv zu sein, ist das System passiv auch in dem Sinne, daβ es die Energiemenge nicht intern regulieren kann und deshalb verwundbar ist. Von äuβeren und inneren Stimuli ständig bombardiert und damit der Gefahr der Überladung ausgesetzt, bedarf das System immer wieder der Entladung, um seine Stabilität wiederherzustellen.
Im Rahmen dieser Neurophysiologie ist Freuds Wesens- und Funktionsbestimmung des Traums unschwer zu erkennen: Der Traum ist eine besondere Form der Entladung von innerlich gestauter Trieb-Energie, die das System zu erschüttern droht. Der Kompromiβcharakter dieser Entladung, d.h. die Transformation des ursprünglichen Traumgedankens zu einem abgemilderten und damit für das Bewuβtsein annehmbaren Gebilde durch die „Traumarbeit“, erklärt sich aus dem Bemühen des „Apparates“, sich von Spannungen zu befreien oder sie auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten. Im Sinne von Spannungsreduktion kann der Traum deshalb sinnvoller Weise als „der Hüter des Schlafs“ (Freud) bezeichnet werden, zumal wenn man bedenkt, daβ die triebhaften Impulse, die nach Freud beim Träumen besonders aktiv sind, den „Apparat“ in einen hohen Erregungszustand versetzen. Die psychologische Komponente von Freuds Traumlehre – die ins Unbewuβte verdrängten verbotenen Triebwünsche und ihre Transformation durch die „Traumarbeit“ zur Bewahrung der Stabilität der Psyche – hat seine Theorie des Nervensystems zur Voraussetzung. Insofern als Freud seine Traumlehre auf die damals gängige Neurophysiologie gründete, kann man mit einem gewissen Recht sagen, daβ er „die Gesetze des Traums“ entdeckte.
Aber diese Theorie ist längst überholt. Vom Standpunkt der modernen Neurophysiologie kommentiert sie J. A. Hobson auf folgende Weise: „Most of the neurophysiological assumptions of this model proved to be incorrect as did the psychological constructs that derived from them […] The nervous system has the metabolic means of producing its own energy (though it is dependent upon external fuel) and the genetical derived means of creating its own information (though it is dependent on external input for specific information about the outside world.) It is further capable of canceling both endogenous and externally provided energy and information … The erroneous notions that Freud maintained about energy sources in the nervous system made it impossible for him to recognize that the system might have intrinsic rhythms and sequential phases of activity, and that both might be internally programmed and internally regulated … Such a system (d.h. Freuds) is as vulnerable as it is dependent, being subject both to invasion by large sources of energy from the outside world an to the constant threat of disruption by internally stored energy … These ideas became crystallized in the concept of the dynamically repressed unconscious and were carried into the dream theory as the tendency for unconscious wishes to erupt during sleep when the repressive forces of the ego are relaxed. Freud’s nervous system is in constant need of checks and balances to deal with the threat of disruption from within and without, and his whole concept of psychic defense is related to this errorenous view of how the nervous system actually operates“ (J. A. Hobson 1988, S. 62ff.).
Wie seinerzeit Freud die Struktur seiner Traumtheorie von den ihm zur Verfügung stehenden Einsichten auf dem Gebiet der Gehirnforschung ableitete und ihr durch seine Trieblehre sein eigenes charakteristisches Gepräge verlieh, so hat J. A. Hobson auf der soeben beschriebenen neuen Wissensgrundlage in seinem Buch The Dreaming Brain (1988) eine Traumtheorie entwickelt, die uns vom Traum ein radikal anderes Verständnis gibt und mit aller wünschenswerten Klarheit zeig, auf welcher obsoleten Grundlage die psychoanalytische Literaturwissenschaft arbeitet.
Ausgangspunkt von Hobsons Theorie ist die Erkenntnis, daβ das Gehirn ein auto-aktiver Organismus ist, der unabhängig von äuβeren Stimuli seine eigenen Daten generiert und endogene Prozesse in Gang bringt. Der Traum, oder genauer: jene Denk- und Wahrnehmungsvorgänge, die wir „Traum“ nennen, sind die unmittelbare Folgeerscheinung der Aktivierung vornehmlich der visuellen und motorischen Zentren im Gehirnstamm während des REM-Schlafes, wenn die nächtliche Aktivität des Gehirns besonders groβ ist. Solcherweise durch innere Vorgänge determiniert, ist das Träumen „an integral part of vegetative life rather than a mere reaction to life’s vicissitudes“ (J . A, Hobson 1988, S. 15). Wie der REM-Schlaf, in dem die weitaus meisten Träume stattfinden, sich regelmäβig (mit einem Intervall von etwa 90 Minuten), spontan und automatisch ereignet, so auch das Träumen. Auf die Phase der Aktivierung der visuellen und motorischen Zentren im Gehirnstamm folgt die Phase der Integration der erzeugten Daten durch die Gehirnrinde. Dabei dient ihr als einziger Bezugspunkt das im Gedächtnis gespeicherte Material – Wünsche, Erinnerungen, Hoffnungen, Erwartungen, Ambitionen, emotionale Relationen usw. Kurz: die komplexe Lebenswirklichkeit des Träumenden. Der Traum wird somit nicht von psychologischen Motiven ausgelöst; die erzeugten Daten werden vielmehr mit ihrer Hilfe interpretiert, d.h. zu mehr oder weniger verständlichen Vorgängen, Handlungssequenzen und Personenkonstellationen zusammengefügt. Das bedeutet wiederum. daβ der Traum, an den wir uns beim Wachen erinnern, nicht die verschlüsselte Version des „eigentlichen“ Traums ist. Er wird nicht durch die „Traumarbeit“ in eine andere Sprache „übersetzt“, er ist nicht die abgemilderte Form eines eines ursprünglichen Traumgedankens. Der Traum ist die Denk- und Wahrnehmungsprozesse, die wir tatsächlich erfahren und deshalb transparent. Die Idee der Transformation des Latenten zum Manifesten – Freuds zentrale These – ist deshalb hinfällig.
Aus der Tatsache, daβ unser Gehirn beim Träumen wie im wachen Leben ständig darum bemüht ist, Signale und Informationen zu verarbeiten, im Schlaf aber unter ungünstigen Bedingungen arbeitet, erklären sich alle spezifischen Eigenschaften des Traums, wie z.B. die visuellen und motorischen Halluzinationen, oder die oft seltsamen spatio-temporalen Verzerrungen der Traumszenen: abrupte Orts- und Personenwechsel, unvermittelte zeitliche Übergänge, plötzliche Zäsuren, sonderbare Kombinationen und Mischungen von Menschen und Handlungen usw. Uns interessieren hier besonders die zuletzt erwähnten Merkmale des Traums, weil sie nach Freud geradezu die Signatur der Traumsprache sind (Verdichtung, Verschiebung Aufspaltung usw.). Aber während sie für ihn aus Rücksicht auf den Träumenden zustande kommen und die Funktion des Traums als Hüter des Schlafes begründen (Bewahrung der Stabilität seiner Psyche durch Spannungsreduktion), sind sie nach Hobson das Ergebnis einer miβlungenen oder inadäquaten Integration der produzierten Signale durch die Gehirnrinde. Das hat seinen Grund zum einen darin, daβ im REM-Schlaf „multiple sensory channels simultaneously activated“ werden (ebd. S. 213). Auf Grund dieser Hyperaktivität wird die Integration der Daten erheblich erschwert. Zum anderen erklärt sich die absonderliche Fremdheit des Traums daraus, daβ dem Gehirn die Beziehung zur Umwelt abgeschnitten ist. Es fehlt der Input von auβen, der die spezifische Traumerfahrung ordnen und strukturien könnte, wie es im Zustand des Wachens ununterbrochen geschieht. Mit Hobsons eigeen Worten: „dream bizarreness is thus the direct consequence of changes in the operating properties of the brain in REM-sleep“ (ebd. S. 258). Aus der fehlenden Beziehung des Gehirns zur Auβenwelt im Schlaf erklären sich auch andee strukturelle Eigenschaften des Traums, wie z.B. unsere unkritische Hinnahme der Traumszenen als wirklich und unser Unvermögen, während des Träumens den Irrtum zu korrigieren. Darin weist der Träumde eine strukturelle Ähnlichkeit auf mit mental kranken oder organisch geschädigten Menschen: „The uncritical acceptance … of dream events as real is as devoid of insight as the most convincing delusional assertions of the schizofrenic, the manic depressive, or the organically impaired patients“ (ebd. S. 9). Die „Zensur“, jene kritische, sichtende und ordnende Instanz, der wir unsere mentale Gesundheit und unsere normale Orientierung in der Welt verdanken, ist im Schlaf zeitweilig suspendiert.
Wenn die moderne Traumforschung die Eigenschaften des Traums durch den Vergleich von Gehirnfunktionen im Schlaf und Wachsein ermittelt und dabei erhebliche Abweichungen feststellt, so heiβt das selbstverständlich nicht, daβ Träume keinen Sinn hätten. Es spiegelt sich in ihnen die komplexe Erfahrungswelt des Träumenden wider. Sie sind als Quelle zur Einsicht ins eigene Innere sowie in unsere Beziehung zur Welt und anderen Menschen durchaus informativ, wenn auch darin nicht das tiefe, verborgene Geheimnis unserer Existenz zum Vorschein kommt.
Auf dem Gebiet der Traumforschung kan man also in den letzten Jahren „groβe Fortschritte in der Theoriebildung“ feststellen. Ironischerweise aber sind es Fortschritte, die der psychoanalytischen Literaturwissenschaft den Boden unter den Füssen wegziehen: die Analogie von Traum und Dichtung, auf die sie ihre Text- und Interpretationstheorie gegründet hat, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Es sind grundverschiedene Texte, weil sie ihre jeweilige Eigenart völlig verschiedenen Entstehungsbedingungen verdanken: Während der Traum als Teil unseres vegetativen Lebens jeder bewuβten Kontrolle entzogen ist, ist das Kunstwerk intentional, vom Denk- und Sprachvermögen des Autors, seiner schöpferischen Phantasie und Empathie gesteuert. Daβ wir bisweilen literarische Strukturen und Diskurse als „traumhaft“ oder „traumähnlich“ bezeichnen, darf über die Tatsache des fundamentalen Unterschiedes zwischen Traum und literarischem Text nicht hinwegtäuschen (ohne daβ wir aus dem Grunde auf diese metaphorischen Ausdrücke verzichten sollten).
Für die psychoanalytische Literaturwissenschaft ergibt sich aus den obigen Ausführungen zur Theoriebildung ein trostloses Fazit: Eine Literaturforschung, für deren Selbstverständnis und Methode Freuds Traumlehre „grundlegend ist“, hat sich bereits im Ausgangspunkt als Wissenschaft disqualifiziert. Was sie zuwege bringt, hat keinen Erkenntniswert. All der intellektuellen Energie, die man in dieses Projekt investiert hat, mit dem Ziel, die Literaturwissenschaft zu erneuern (vgl. W. Schönau 1988, S. 8), ist verlorene Mühe. Dagegen demonstriert man hierdurch, wie man sich in seine eigene Begriffswelt eingekapselt und sich vom dynamischen Feld der Theoriebildung effektiv abgesondert hat. Die Literaturwissenschaft, der man zur neuen Einsicht verhelfen wollte, hat in Wirklichkeit einen schweren Rückschlag erlitten.
Aus diesem statischen Zustand können theoretische Fortschritte innerhalb der Psychoanalyse selber nicht hinausführen. Vielmehr führt ein Weiterdenken auf den alten Gleisen nur zu Reformulierungen oder Neuinterpretationen der fraglichen Probleme. Das hat, wie wohl kein anderer, M. Macmillan gezeigt, der in seiner umfassenden Studie über Freuds Psychoanalyse ihre Geschichte bis in die Mitte der 1980er Jahre verfolgt hat. Aus der Fülle von Belegen in seiner Untersuchung sollen hier nur einige wenige Beispiele angeführt werden, die für die psychoanalytische Literaturforschung besonders wichtig sin:
Sublimierung.
Freuds Definition von Sublimierung als der Fähigkeit, das ursprüngliche Triebziel mit einem anderen, nicht-sexuellen, kulturell höher gewerteten zu vertauschen, als Transformation der Triebenergie für andere Zecke, wie z.B. Kunst, wurde in der Psychoanalyse bald als problematisch empfunden, ohne daβ man über den Begriff und seine Verwendung Klarheit gewonnen hat. Zur Diskussion bemerkt Macmilan: „Since the concept of sublimation came under scrutiny, absolutely no agreement has been reached about the behavior to which the mechanism refers or the underlying process on which it might be based“ (M. Macmillan 1997, S, 486). Daβ man in dieser Frage keine Einigkeit erzielt hat, ist nicht verwunderlich. Dies beruht darauf, daβ die triebhafte Energie für andere Zecke nicht transformiert werden kann. Die primitive Vorstellung, daβ es im „System“ nur eine Energiequelle gäbe, die je nach Zweck umgewandelt werden könne, ohne an Intensität zu verlieren, hat man längst korrigiert. Der Neurophysiologe R. W. White schreibt hierzu u. a. : „an instinctual drive does not function with its own kind of energy, but with neural energies released in particular places (centers) and organized in particular patterns. Energy can be called sexual, for instance, only by virtue of the fact that certain somatic sources or hormonal conditions activate certain nerve centers which in their turn acticvate a characteristic pattern of excitations in skin, genitals and elewheree […] Agressive energy is differentiated from sexual by the places and the patterns that are central in the excitation. An ego interest, such as learning the skill necessary for an occupation, is neural in the sense that its places and patterns are not those of either eroticism or aggression“ (R. W. White, 1963, S. 178, zit. n. M. Macmillan, ebd. S. 486).
Die Konsequenzen, die sich hieraus für die psychoanalytische Kreativitätstheorie ergeben, die zum wesentlichen Teil auf das Konzept der Sublimierung gegründet ist, sind fatal. Die Energie, die sich beim Kunstschaffen entfaltet, ist nicht transformierte Triebenergie, sie hat ein anderes Muster und ist anderswo (in der Groβhirnrinde) lokalisiert. Die künstlerische Kreativität ist nicht, wie Freud meinte und wie man in der psychoanalytischen Literaturforschung immer noch meint, „das Paradigma der Sublimierung“ (vgl. R. Wolf 1975, S. 436, W. Schönau 1991, S. 9). R. Wolf macht übrigens darauf aufmerksam, daβ Freud der Meinung war, das Sublimationsvermögen sei ein „Problem der Biologie nicht der Psychologie“. Die Neurobilogie hat es im Sinne der zitierten Aussage von White geklärt: Man arbeit mit einem leeren Begriff.
Narzißmus.
Im Sinne von Selbstliebe oder Bewunderung der eigenen Vollkommenheit ist dieses Konzept unvereinbar mit Freuds Strukturmodell der Psyche von 1925, weil nach Einführung des Todestriebes ein destruktives oder aggressives Element zum Ich gehört. Diese Unstimmigkeit hat man in der Psychoanalyse zwar empfunden, aber daraus nicht die Konsequenz gezogen, wie sie Macmillan so formuliert: „The correct problem for the ego-ideal, then, is that once Freud incorporated a death instinct in his theory, his original notion of primary and secondary narcisism should have been done away with altogether. A death instinct or other primary aggressive drive necessarely rules out the kind of narcistic state or mode of existence required to produce a completely or even predominately positive ego-ideal“ (ebd. S. 494). Dieser innere Widerspruch hat die psychoanlytische Literaturforschung nicht gestört. Vielmehr hat er sich als „produktiv“ erwiesen, indem man hier die Ansicht vertritt, daβ der Autor seine fehlende Vollkommenheit auf das heile bzw. vollkommene Kunstwerk überträgt, das ihm als „Symbol der wiederhergestellten oder wiedergefundenen Vollkommenheit“ gilt (W. Schönau 1991, S. 24) und ihm damit eine narziβtische Bestätigung verleiht. Wie aber, so fragt man sich, kann der Künstler ein Kunstwerk schaffen, das seine Vollkommenheit wiederherstellt, wenn seine Psyche widersprüchlich ist, aus zwei sich widerstreitenden Komponenten besteht? Sind sie dann nicht beide , Küstler wie Kunstwerk, gleichermaβen unvollkommen? Daβ man sich bei der Funktionsbestimmung von Literatur an der Gedankenfigur vom „heilen“ und „heilenden“ Kunstwerk orientiert, kann wohl nicht anders erklärt werden, als daβ man (unbewuβt?) die romantische Kunstmetaphysik fortschreibt – eine vielleicht etwas unerwartete Verbrüderung zwischen einer vermeintlich modernen, kritisch enthüllenden Wissenschaft und einer alten, religiös begründeten Auffassung von Kunst.
Die Frage der Identifikation.
Die Identifikation des Kindes mit seinen Eltern im Primär- und beim Übergang zum Sekundärprozeβ (bei der Auflösung des Ödipuskomplexes) und die Konflikte, die dabei entstehen und gelöst werden, sind in der Psychoanalyse von so fundamentaler Bedeutung, daβ diesbezügliche Unklarheit sie in ihrem Kern erschüttern muβ. Genau das aber ist der Fall. Zum Stand der Forschung bemerkt Macmillan: „The fact is there is no agreed-upon defintions of identification or of the related concepts of incorporation, introjection, and internalization at either the theoretical or clinical level“ (ebd. S. 496). In der psychoanalytischen Kreativitätstheorie aber geht man mit diesen Begriffen um, als bezeichneten sie bewiesene Tatsachen: Das konflikterfüllte Verhältnis von Mutter und Kind in den ersten Lebensmonaten, mit den für das Kind schweren Krisen (Trennungsangst, Wut, Depression) und ihre Überwindung durch die Identifikation mit dem „Aggressor“ bzw. der „bösen Mutter-Imago“ und das dabei wiedergewonnene „Gefühl der Allmacht des Selbst“ stellt „das Urmodell des Schaffens“ dar (W. Schönau 1991, S. 8). Um den Eindruck echter Erkenntnis zu erhärten, werden solche Spekulation in eine pseudowissenschaftliche Sprache gekleidet, wenn es z.B. heiβt, daβ die entscheidende Phase der Trennungsangst und ihrer Bewältigung durch Projektion und Introjektion „von vielen Forschern bestätigt wird“ (ebd. S. 24). „Bestätigen“ heiβt hier wohl nur, daβ man sich mit der vertretenen Ansicht einverstanden erklärt. Wie Macmillan nachgewisen hat, liegen keine Bestätigungen vor. Oder wenn man für die nämlichen Vorgänge den Eindruck umfassender, empirischer Untersuchungen erweckt, indem es heiβt: „bei manchen Kindern spielt sich dabei ein heftiger Konflikt ab“ (ebd.). Warum nur bei „manchen“, wenn es sich um ein vermeintliches „Grunderlebnis“ des Säuglings handelt? Aber diese Rhetorik, für die sich die Beispiele beliebig vermehren liessen, erfüllt eine wichtige Funktion: sie signalisiert, daβ man auf festem Boden steht und sich mit Fragen befaβt, über die weitgehend Konsensus und Klarheit herrschen. So wird Theoriebildung zur bloβen Affirmation der bestehenden alten Widersprüche, Inkonsequenzen und Ambiguitäten und die scheinbar endlose Reihe von Deduktionen in „wenn-dann-Resonnements“ der Ausführungen unermüdlich weiter fortgesetzt, weil die Prämissen der Schluβfolgerungen (die wenn-Komponente) der Kritik enthoben sind. (Vgl. die oben zitierte Aussage von P. v. Matt zum Verhältnis von Traum und Dichtung.) Nicht Fortschritte, sondern Status quo kennzeichnet die Lage.
Wir müssen es hier mit den erwähnten Beispielen zum Stand der psychoanalytischen Forschung auf sich beruhen lassen. Für weitere Information in dieser Frage, sei auf die sehr ausführliche Darstellung von Macmillan hingewiesen, besonders S. 484ff. und S. 519ff. Hier soll er nur mit seiner Konklusion noch einmal zu Wort kommen: „While the basic methodological deficiences remain, it will not matter how great an effort is made or which perspective is adopted. There is no way in which Freud’s original form of psychoanalysis or any modern derivation will ever lead to a satisfactory personality theory … After nearly one hundred years of psychoanalysis, psychoanalysts must begin all over again“ (ebd. S. 519).
Von vorne wieder anfangen. Das gilt in der Tat auch für die psychoanalytische Literaturforschung, wenn auch die berühmten Worte Goethes, daβ „aller Anfang schwer“ sei, für sie eine ganz besonders groβe Herausforderung darstellen: Sie muβ zur Kenntnis nehmen, daβ das Gebäude, das sie mit Hilfe von Analogien, vornehmlich zu Freuds Traumlehre, errichtet und durch seine Persönlichkeitstheorie inhaltlich ausgestattet hat, baufällig ist und daβ sie sich von Grund auf neu aufbauen muβ. In methodischer Hinsicht müβten die oben zitierten Worte Freuds über das Verhältnis von Wort und Sache für sie richtungsweisend sein. Sie würde dann die Scheinprobleme hinter sich lassen, die sich aus der Idee der Rekonstruktion der „unbewuβten Kommunikation“ des literarischen Textes ergeben und ihn als eine Sinnstruktur erforschen, die sich allein durch seine Sprache und ihre kontextuellen Bezüge konstituiert. Was ihre besonderen Erkenntnisziele anbelangt (Sexualität, emotionale Bindungen und Konflikte, Identitätsfragen usw.) kann nur eine empirisch orientierte Grundhaltung eine qualitative Änderung im Sinne intersubjektiv prüfbarer und korrigierbarer Ergebnisse herbeiführen. Von ihrer Bereitschaft, allgemeine wissenschaftliche Kriterien anzuerkennen, wird ihre Glaubwürdigkeit abhängen.
An eine eigenständige psychoanalytische Literaturwissenschaft aber wäre in absehbarer Zukunft nicht zu denken. Eine metapsychologische Theorie, die die obsolete Lehre Freuds ersetzen und als Basis einer eigenen Kreativitäts-, Interpretations- und Texttheorie dienen könnte, liegt nicht vor. Daβ es sie je wieder geben wird, ist wenig wahrscheinlich. Dafür hat der wissenschaftliche Fortschritt selbst gesorgt: Immer differenziertere und gegenstandsspezifische Erkenntnisse, wie sie für die Entwicklung etwa auf dem Gebiet der Neurophysiologie charakteristisch sind, können nicht durch Analogie auf andere Wissensbereiche übertragen werden und die theoretische Grundlage ihrer Praxis bilden. Aus den heute verfügbaren Einsichten in die komplexen psycho-physiologischen Vorgänge, die sich beim Träumen abspielen, können wir nicht ein Erklärungsmodell für die Struktur und Interpretation literarischer Texte ableiten. Aber indem diese Forschung die Entstehungs- und Funktionsbedingungen ungleicher Formen von Textproduktion klärt, wie Traum und Dichtung, schärft sie das Bewuβtsein ihrer jeweiligen Eigenart und verhindert dadurch, daβ wir fruchtlosen Spekulation anheimfallen. In kaum einer Disziplin ist das nötiger als in der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Die Suche nach dem Schlüssel, der alle Türen auf einmal erschlieβt, gehört der Vergangenheit an.
Literatur
Freud, S.: Studienausgabe. Hrsg. A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strackey. Frankfurt a.M. 1972.
Hagestedt, J.: Die Entzifferung des Unbewuβten. Zur Hermeneutik psychoanalytischer Textinterpretation. Frankfurt a. M. 1988.
Hobson, J. A.: The Dreaming Brain. New York 1988.
Macmillan, M.: Freud Evaluated. Amsterdam 1997.
Matt, P von: Die Herausforderung der Literaturwissenschaft durch die Psychoanalyse. In: Amsterdamer Beiträge, Bd. 17, 1983, S. 1 – 13.
Schmiedt, H.: Regression als Utopie. Psychoanalytische Untersuchungen zur Form des Dramas. Würzburg 1987.
Schönau, W.: Die Konturen einer psychoanalytischen Literaturwissenschaft werden sichtbar. In: Merkur, Heft 9/10, 1988, S. 813 – 826.
Schönau, W.: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991.