Allen Esterson, London
Psychoanalytische Mythologie
Nach den traditionellen Berichten erzählten Freud die meisten seiner weiblichen Patienten in den 1890er Jahren, sie seien in früher Kindheit mißbraucht worden meist von ihrem Vater. Wie diese Geschichte nun weitergeht, hängt davon ab, ob sie bei dieser überkommenen Weise blieb oder zu der revidierten Version wechselte, die von Jeffrey Masson popularisiert und von vielen Feministen bereitwillig aufgegriffen wurde. In der orthodoxen Version wird uns gesagt, Freud habe innerhalb kurzer Zeit realisiert, daß viele der Berichte, die er zu hören bekam, nicht authentisch waren, daß die Damen phantasierten und dies zu seiner epochemachenden Entdeckung kindlicher, inzestuöser Phantasien führte (dem Oedipuskomplex). Nach der Version der Feministen war es jedoch die harte Opposition der aufgebrachten Kollegen gegen die von Freud behaupteten verbreiteten Übergriffe, die ihn veranlaßte, die Theorie aufzugeben. Vordem ein einfühlsamer Zuhörer, habe er jetzt die Frauen verraten, die den Mut hatten, ihm ihre schrecklichen Mißbrauchserlebnisse mitzuteilen.
Welcher Version Sie nun folgen wollen, geben sie beide dramatische Geschichten ab, die beide auch ihre fest überzeugten Anhänger haben. Die grundlegenden Elemente sind die gleichen. Ihre Ausdeutung jedoch ist grundverschieden. Ich habe den Verdacht, daß die meisten Menschen sich hier auf ihr Bauchgefühl verlassen und zu Masson stehen, auf Unterdrückung der Wahrheit setzen bezüglich damals verbreiteter sexueller Übergriffe auf Mädchen. Es ist aber Zeit für eine Realitätsprüfung.
Die Artikel, die Freud in den 1890ern publizierte wie auch seine Korrespondenz mit seinem Intimus (dem Berliner HNO-Arzt) Wilhelm Fließ, erzählen eine ganz andere Geschichte. Um es kurz zu fassen, sagten Freuds Patientinnen ihm damals (etwa Mitte des Jahrzehnts) keineswegs, sie seien in ihrer frühen Kindheit sexuell mißbraucht worden. Im Gegensatz zu dem, was Freuds spätere Berichte behaupten, „versicherten“ sie ihn, als er sich seine Benhandlungsnotizen machte, bezüglich der von ihm vorgefaßten, im Kindesalter angeblich erlittenen sexuellen Traumen ganz „entschieden ihres Unglaubens“ (GW-I:441).
Die wesentlichen Züge dieser Episode können folgendermaßen gezeichnet werden. Während der frühen 1890er war Freud überzeugt, daß den Symptomen der von ihm als hysterisch diagnostizierten Patienten verdrängte Erinnerungen an sexuelle Vorstellungen oder Erfahrungen zugrunde lägen – nicht unbedingt aber solche aus der Kindheit.[1] Im Oktober 1895 entflammte er in spekulativer Vorstellung an einer Theorie, die seiner Überzeugung nach ein für alle Male jetzt das Problem der Ursache der Psychoneurosen löste. Hysterische Symptome würden ausnahmslos durch unbewußte Erinnerungen an sexuelle Übergriffe in der Kindheit verursacht.
Seine neu entwickelte analytischen Technik zur Aufdeckung unbewußter Ideen seiner Patient/inn/en nützend, machte sich Freud sofort daran zu zeigen, daß er recht hatte. Obwohl er von irgendwelchen Fällen aufgedeckter kindlicher Mißbräuche zuvor nichts hatte verlauten lassen, stellte er nach der (vertraulichen) Mitteilung seiner neuen Theorie an Fließ innerhalb von vier Monaten zwei Artikel fertig, in denen er behauptete, er habe die Symptome von jeder, jedem von 13 hysterischen Patient/inn/en sowie einigen Zwangskranken auf infantile Erfahrungen sexuellen Mißbrauchs „zurückverfolgen“ können. Einige Monate später hielt er einen Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“, in dem er eine erweiterte Darlegung seiner Theorie abgab und behauptete, sie sei bei 18 als hysterisch diagnostizierten Patien/inn/en bestätigt worden.
Wie gelang es Freud bei allen seinen Patient/inn/en in so kurzer Zeit zu tief verdrängten Erfahrungen dieser Art Zugang zu finden? Obwohl er behauptete, er habe die Patienten dazu gebracht, ihre infantilen Erfahrungen zu „reproduzieren“ (was er mit „Reproduktionen“ meinte, steht einem breiten Spektrum von Interpretationen offen), ist klar, daß er zu seinen Befunden durch ein Decodieren ihrer Symptome und die analytische Deutung der Ideen gelangte, die sie unter der „Druck-Prozedur“ äußerten, welche er zu jener Zeit anwandte. Er erklärte, daß die Symptome mit dem „Empfindungsinhalt der Infantilszenen“ sexueller Mißbräuche (GW-I: 451) korrespondierten, die er als zugrundeliegend erschlossen habe. Sein analytisches Vorgehen, so schrieb er, sei analog zu dem eines Gerichtsmediziners, der zur Ursache einer Verletzung vordringen könne, „selbst wenn er auf die Mitteilung des Verletzten verzichten muß“ (GW-I:426).
Als Beispiel führt er eine Patientin an, die an einem Gesichtstic und einem Mundekzem litt. Aus diesem Symptomen schloß Freud analytisch, daß sie in ihrer Kindheit (von ihrem Vater) gezwungen worden war, Fellatio an ihm zu begehen (an seinem Glied zu lutschen). „Als ich ihr die Aufklärung entgegenschleuderte“ und sie (nach Rücksprache mit ihm) „heftigstes Sträuben“ zeigte, habe er ihr, wenn sie ihren Skeptizismus beibehielte, „das Wegschicken angedroht“ („habemus papam!“, in etwa: „da haben wir den Vater!“, schrieb er höhnisch-triumphierend am 3.1.1897 an Fließ). Eine Zurückweisung seiner Schlußfolgerungen war für Freud Beweis eines (neurotischen) „Widerstands“ des Patienten. Sie lieferte ihm die weitere Bestätigung, daß seine analytischen Rekonstruktionen zutreffend waren.
Innerhalb von zwei Jahren, nachdem er seine Lösung der Ätiologie der Neurosen öffentlich verkündet hatte, verlor Freud den Glauben an sie. Aber anstatt, daß dies ihn zur Frage nach der Verläßlichkeit seiner neu entwickelten Technik der Rekonstruktion unbewußter Erinnerungen geführt hätte, suchte er jetzt, seine behaupteten Entdeckungen als unbewußte Phantasien seiner Patient/inn/en zu erklären. Das nötigte ihn zu manch nachträglicher Berichtigung der ursprünglichen Behauptungen, um seiner neuen Theorie auch nur die geringste Plausibilität zu verschaffen. Tatsächlich lief die Geschichte über eine Reihe von Zwischenstationen, bis sie endlich bei der bekannten Version der „Neuen Vorlesungen zu Einführung in die Psychoanalyse“ (1933) landete: „In der Zeit, in der das Hauptinteresse auf die Entdeckung sexueller Kindheitstraumen gerichtet war, erzählten mir fast alle meine weiblichen Patienten, daß sie vom Vater verführt worden waren“ (GW-XV:128f).[2] Übrigens fiel es anscheinend noch niemandem als merkwürdig auf, daß es nur diese kurze Periode war (1895-98), in der „fast alle“ Patientinnen Freuds ihm von sexuellen Mißbräuchen in der frühen Kindheit berichtet haben sollen.
Es ist wichtig sich bewußt zu werden, daß die traditionellen Berichte keine Vorstellung davon vermitteln, daß die angeblichen „Phantasien“ unbewußte Ideen oder Erinnerungen des Patienten sind, die Freud glaubte mit seiner analytischen Technik der Deutung aufgedeckt (d.h. rekonstruiert) zu haben. (Freuds Gebrauch des Wortes „Phantasie“ wird von James Strachey in der (englischen) Hogarth Standard Edition als „phantasy“ übersetzt, sonst in der Literatur üblicherweise aber als „fantasy“, was Lesern den falschen Eindruck vermittelt, Freud hätte allgemein von bewußten Ideen seiner Patient/inn/en gesprochen).
Es gibt bei Freuds nachträglichen Berichten über die Episode eine beträchtliche Zahl von Ungereimtheiten, zu viele, um sie alle hier abzuhandeln. Eine davon ist, daß er ursprünglich behauptet hatte, die „kindlichen Traumen“, die er aufgedeckt hatte, könnten „sämtlich“ als „schwere sexuelle Schädigungen“ beschrieben werden.[3] Wie sich angebliche „Erinnerungen“ an Erfahrungen, die nach seiner Beschreibung brutal, „gelegentlich geradezu abscheulich“ waren, plausibel als unbewußte „Verführungsphantasien“ erweisen können, die im übrigen (nach seiner ersten Erklärung) gar den Zweck verfolgten, störende Erinnerungen an kindliche Masturbation abzuwehren, dazu unternahm Freud keinen Erklärungsversuch. Die gleichen Vorbehalte stehen auch seiner späteren Version entgegen, die angeblichen „Verführungsphantasien“ seien Projektionen der ödipalen Wünsche seiner Patienten. In keinem Fall konnte Freud je wissen, ob seine analytischen Rekonstruktionen verdrängte Erinnerungen wirklicher Ereignisse oder unbewußte Phantasien seiner Patienten – oder, was der Realität wohl am nächsten kommt, imaginative Szenarien darstellten, die seinem eignen Gehirn entsprangen.
Wenig bekannt ist, daß Freud 1896 behauptete, für jeden seiner sechs Zwangspatienten verdrängte Erinnerungen nicht nur von passiv erlittenen sexuellen Mißbrauchsszenen aufgedeckt zu haben, sondern auch – in einem nur wenig höheren Alter – von aktiven sexuellen Erfahrungen. Nie wurde etwas von diesen bemerkenswerten „klinischen Entdeckungen“ wieder gehört. Freud machte keinen Versuch zu erklären, wie seine spätere Theorie der „unbewußte Phantasien“ (des Ödipus-Komplexes) dazu passen könnte.
Obige Argumente widersprechen gewiß der überkommenen Geschichte der Psychoanalyse ebenso wie der Version von Jeffrey Massons, der aber aus anderen Gründen Stichhaltigkeit abgeht. In THE ASSAULT ON TRUTH meinte er, Freuds Motiv für die Aufgabe der Verführungstheorie sei teilweise der Versuch gewesen, sich bei seinen Kollegen, die angeblich über seine klinischen Behauptungen empört waren, wieder einzuschmeicheln. Diese These wird jedoch schon durch die Tatsache durchlöchert, daß Massons Bericht über die Ausgrenzung Freuds durch seine Kollegen gänzlich in die Irre geht. Sie wird aber auch dadurch aufgehoben, daß Freud sein Abrücken von der Verführungstheorie, nachdem er es privat (seinem Intimus Fließ) eröffnet hatte, seinen Kollegen sonst sieben Jahre lang verbarg. (Masson behauptete irrtümlich, daß „die kritische Periode für Freuds Meinungsänderung bezüglich der Verführungstheorie … zwischen den Jahren 1900 und 1903“ lag. Diese vage Datumsangabe schließt zwar viel von der Lücke zwischen der Aufgabe der Theorie und Freuds öffentlicher Kundgabe seines Sichtwechsels und kommt Massons These entgegen. Freuds Briefe an Fließ zeigen jedoch klar, daß er die Verführungstheorie schon Ende 1898 gänzlich aufgegeben hatte).
Daß die tradierte Geschichte der Episode der Verführungstheorie in allen wesentlichen Teilen falsch ist, wurde in jüngerer Zeit besonders bedeutsam, als sie in die Debatte über die Verdrängung von Erinnerungen an Kindesmißbrauch einbezogen wurde, vermeintlichen Erinnerungen, die einige Jahrzehnte später „wieder entdeckt“ wurden. Man muß die historischen Fakten auf die Reihe bekommen haben, bevor Freuds angebliche frühe klinische Erfahrungen irrtümlich zur Stützung der einen oder anderen Seite angeführt werden. Allgemeiner gesagt, stellt, wie es (der amerikanische Philosoph und Freud-Kritiker Prof.) Cioffi ausdrückte, ein akkurater Bericht über den Übergang von der Verführungstheorie zu der ihr nachfolgenden Phantasie-(oder: Ödipus-)Theorie alles Räsonieren in Frage, das Freud für den Rest seiner Karriere aufbieten mußte, um kindliches Phantasie-Leben und die Inhalte des „Unbewußten“ zu rekonstruieren.
Literatur:
Cioffi, F. (1998 [1974]). „Was Freud a liar?“ In Freud and the Question of Pseudoscience. Chicago and La Salle: Open Court, pp. 199-204.
Esterson, A. (1993). Seductive Mirage: An Exploration of the Work of Sigmund Freud, Chicago: Open Court.
Esterson, A. (1998). „Jeffrey Masson and Freud’s Seduction Theory: a New Fable Based on Old Myths.“ History of the Human Sciences, 11 (1), pp. 1-21.
Esterson, A. (2001). „The Mythologizing of Psychoanalytic History: Deception and Self-deception in Freud’s Accounts of the Seduction Theory Episode.“ History of Psychiatry, xii, pp. 329-352.
Esterson, A. (2002). „The Myth of Freud’s Ostracism by the Medical Community in 1896-1905.“ History of Psychology, 5 (2), pp. 115-134.
Freud, S. (1953-1974). The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, ed. and trans. by J. Strachey et al. London: Hogarth Press.(deutsch: Gesammelte Werke, Imago, London)
Israëls, H. and Schatzman, M. (1993). „The Seduction Theory.“ History of Psychiatry, iv, pp. 23-59.
Masson, J. M. (1984). The Assault on Truth: Freud’s Suppression of the Seduction Theory. New York: Farrar, Straus and Giroux (deutsch: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Rowohlt, Reinbek, 1984).
Masson, J. M. (ed. and trans.) (1985). The Complete Letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fliess 1887-1904. Cambridge, MA: Harvard University Press (deutsch: Sigmund Freud – Briefe an Fließ 1887-1904, S. Fischer, Frankfurt /M., 1986.
Scharnberg, M. (1993). The Non-Authentic Nature of Freud’s Observations: Vol. 1. The Seduction Theory. Uppsala Studies in Education, No 47 and 48. Stockholm: Almqvist & Wiksell International.
Schimek, J.G. (1987). „Fact and fantasy in the seduction theory: a historical review.“ Journal of the American Pyschoanalytic Association, 35, pp. 937-965.(die originale englische Version auf www.butterfliesandwheels.com/articleprint.php?num=10 Übersetzung und Bearbeitung F. Weinberger, M. Scharnberg, im INFC-Netz seit 22.12.2007)
Allen Esterson ist ein seit vielen Jahren bekannter, ausgewiesener Freud-Forscher, ein minutiöser Kenner Freud’scher Aussagen, Autor u.a. des Buches SEDUCTIVE MIRAGE.
[1] Nach Ernest Jones schrieb Freud den letzten Abschnitt seiner Studien über Hysterie im März 1895. Hier erklärt er u.a. seine „Druck-Prozedur„: „…Ich teile dem Kranken mit, daß ich im nächsten Momente einen Druck auf seine Stirne ausüben werde, versichere ihm, daß er während diesen ganzen Druckes eine Erinnerung als Bild vor sich sehen oder als Einfall in Gedanken haben werde, und verpflichte ihn dazu, dieses Bild oder diesen Einfall mir mitzuteilen, was immer das sein möge.“ (GW-I:270). Nirgends steht hier etwas davon, daß bei diesen „Bildern“ oder „Einfällen“ sexuelle Erfahrungen vor dem Schulalter aufsteigen würden.
[2] Zu der Zeit, da Freud die (angeblichen) frühkindlichen Verführungen feststellte, klang es bei ihm noch anders: „Unter den Personen, welche sich eines solchen folgenschweren Abusus schuldig machten, stehen obenan Kinderfrauen, Gouvernanten und andere Dienstboten, denen man allzu sorglos die Kinder überläst, ferner sind in bedauerlicher Häufigkeit lehrende Personen vertreten; in sieben von jenen dreizehn Fällen handelte es sich aber auch um schuldlose kindliche Attentäter, meist Brüder, die mit ihren um wenig jüngeren Schwestern Jahre hindurch sexuelle Beziehungen unterhalten hatten.“ (GW-I: 381-382)
[3] „Meine dreizehn Fälle von Hysterie waren durchwegs von schwerer Art, alle mit vieljähriger Krankheitsdauer, einige nach längerer und erfolgloser Anstaltsbehandlung. Die Kindertraumen, welche die Analyse für diese schweren Fälle aufdeckte, mußten sämtliche als schwere sexuelle Schädigungen bezeichnet werden; gelegentlich waren es geradezu abscheuliche Dinge.“ (GW-I:381)