Klaus Schlagmann, Dipl.-Psych.
Eine kritische Analyse zu Sigmund Freuds umfangreichster Literaturanalyse, „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’“ (1907), Erstveröffentlichung von Freuds Briefen an den Dichter, sowie Hintergrundinformation zu der von Freud selbst, aber auch von seiner Gefolgschaft bis heute ignorierten Lebenswirklichkeit des Schriftstellers Wilhelm Jensen
1902 erscheint die Novelle „Gradiva“ von Wilhelm Jensen (1837-1911). Ihr Inhalt: Ein junger Archäologe, Norbert Hanold, ist fasziniert von einem (real in einem Museum in Rom befindlichen) antiken Reliefbild, das eine markant einherschreitende junge Frau darstellt. Er benennt die Figur „Gradiva“ – „die Vorschreitende“. Über mehrere Tage hinweg stellt der Archäologe Mutmaßungen an über die junge Frau, die dem Künstler als Modell gedient hat. U.a. glaubt er, sie müsse eine Pompejanerin gewesen sein. In einem Traum erlebt er, wie die Gradiva-Gestalt beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji im Jahr 79 durch die untergehende Stadt schreitet und sich schließlich zum Sterben auf die Stufen des dortigen Apollo-Tempels niederlegt. Bei einer kurz darauf unternommenen Forschungsreise nach Pompeji begegnet Hanold in der Ruinenstadt einer jungen Frau mit dem charakteristischen Gradiva-Gangbild. Der schwärmerisch veranlagte Wissenschaftler, dem die Mittagshitze zu Kopf gestiegen ist, glaubt nun, in ihr dem Geist der in seinem Traum verschütteten Gradiva zu begegnen. Über drei Treffen hinweg mit diesem vermeintlichen Geist – jeweils zur Mittagsgespensterzeit – bleibt der junge Archäologe in seiner Einbildung gefangen. Am Ende ergibt sich dann eine überraschende Auflösung.
Diese Novelle wird Gegenstand von Sigmund Freuds umfangreichster Literaturbesprechung: „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’“ (1907). Die druckfrische Abhandlung hatte Freud, offenbar kommentarlos, dem Schriftsteller vom Verlag zusenden lassen. Jensen nimmt – wohl noch am selben Tag, an dem er Freuds Schrift erhalten hat, am 13. Mai 1907 – eine kurze Korrespondenz mit Freud auf. Es kommt zu jeweils drei Schreiben auf beiden Seiten. Jensens Briefe sind seit 1929 publiziert. Freuds Briefe werden nun erstmals veröffentlicht. Sie waren dem Autor bei einem Treffen der Familie zum 100. Todestag von Jensen zur Publikation anvertraut worden, nachdem sie kurz zuvor im Nachlass eines Zweigs der Familie aufgetaucht waren. (Inzwischen werden sie als Leihgabe im Jensen-Archiv in Kiel aufbewahrt.)
Freud spekuliert aufgrund der Novelle über Jensens Lebenswirklichkeit. In der Abhandlung selbst bleibt er noch sehr unkonkret. Er lässt vage anklingen, dass es – im Leben der Novellenfigur, wie auch bei ihrem Schöpfer – um die Verdrängung von etwas Anstößigem gehe. Zu dem doch sehr zentralen Punkt, worin denn jetzt genau das Anstößige liegen soll, belässt Freud seine LeserInnen im Dunkeln. Vermutlich hat er sich mit seinen Spekulationen bei der Abfassung seiner Schrift selbst noch nicht festgelegt. Von dem damals noch befreundeten C.G. Jung wird Freud unmissverständlich auf die bestehende Lücke hingewiesen. So spinnt Freud noch ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der Abhandlung seine Mutmaßungen fort. Jung selbst bringt ihn auf eine Spur: Jensen sei wohl in eine Schwester verliebt gewesen. Und Freud setzt eins oben drauf: Die Schwester war wohl noch dazu mit einem Spitzfuß körperlich behindert!
In seinem letzten Brief vom 16. Dezember 1907 ringt Freud um eine Bestätigung dieser Hypothese durch den Dichter: „Meine Frage lautet nämlich: Haben Sie zur Jugendgespielin – am liebsten ein jüngeres Schwesterchen – gehabt, das krank war u[nd] früh starb, eventuell eine Verwandte, die Sie zur Schwester wünschten? Und wenn ja, woran u[nd] wann starb sie? Welches war ihr Gang? War nicht gerade dieser durch ihr Kranksein beeinträchtigt?“
Am 19. Dezember 1907 antwortet Jensen hierzu freundlich und wahrheitsgemäß: „Nein. Eine Schwester habe ich nicht gehabt. Überhaupt keine Blutsverwandte.“ Und offenbar gibt es für ihn keinen Anlass, auf irgendwelche Fußerkrankungen bei sonstigen Personen aus seinem sozialen Umfeld zu verweisen.
Diese Auskunft offenbart, wie grandios sich Freud und Jung geirrt hatten. Jensen war tatsächlich – ohne jeglichen Kontakt zu irgendwelchen Blutsverwandten – als uneheliches Kind des Bürgermeisters von Kiel und einer Dienstmagd von einer kinderlosen Pflegemutter großgezogen worden. Perverse Inzestneigungen gegenüber einer Schwester inklusive einer Verkehrung ins Gegenteil – die faszinierende, schöne Fußstellung der jungen Frau müsste auf ein hässliches, krankhaftes Gangbild verweisen – waren also ausgeschlossen.
Freud reagiert beleidigt, weil sich seine kühne Deutung als so offensichtlich unsinnig erwiesen hat. Gegenüber Jung berichtet er brieflich am 21.12.1907: „Von Jensen habe ich nachstehende Antwort auf meine Erkundigung erhalten, die … zeigt, wie wenig er solche Forschungen zu unterstützen geneigt ist … Die Hauptfrage, ob der Gang der Urbildpersonen irgendwie pathologisch war, hat er gar nicht beantwortet.“ Und im Jahr 1912 bringt er es sogar ungeniert an die Öffentlichkeit: Jensen habe die Mitwirkung bei der Deutung der Novelle versagt.
Die Recherchen zu Jensens biografischem Hintergrund legen jedoch nahe, dass er – sehr präzise und bewusst – reale Erfahrungen in seine Texte einfließen lässt. Und diese Hintergründe hatte er Freud bereitwillig mitgeteilt: Er wollte offenbar geliebten Menschen eine lebendige Erinnerung bewahren.
Jensens Lebenswerk ist sehr umfangreich: Ca. 150 Gedichtbände, Theaterstücke, Romane und Novellen hat er verfasst. Seine „Gradiva“ bringt dabei wohl in gekonntester Form sein zentralstes Lebensthema zum Ausdruck – Entsetzen und Trauer über den frühen Verlust einer Kindheitsfreundin, deren Tod im Alter von 18 Jahren (wohl an Tuberkulose) der 20-jährige Jensen hautnah miterlebt hatte: Noch wenige Stunden vor ihrem Sterben hatte Clara Witthöfft zum letzten Abschied ihre „todtenweiße Hand“ auf das Haupt des in seiner ganzen Betroffenheit vor ihr niederknienden jungen Mannes gelegt. So jedenfalls offenbart es Jensen selbst, mehr als dreißig Jahre später, in einem Brief an eine gemeinsame Freundin.
Jensens Angehörigen war der biografische Bezug zu der „Gradiva“-Novelle wohl sehr bewusst: Sie haben – offenbar mit Bedacht – für den zuletzt in Prien bzw. München lebenden Schriftsteller von dem Münchner Bildhauer Bernhard Bleker nach einem in Münchens Glyptothek befindlichen antiken Vorbild („Grabmal des Jägers“) einen Grabstein gestalten lassen, der sowohl dem Gradiva-Relief, als auch der Novelle selbst eine gelungene Referenz erweist. Das Grab befindet sich auf der Fraueninsel (Chiemsee), auf der Jensen seine Gattin Marie kennengelernt hatte.
Freuds „Gradiva“-Abhandlung zeigt mustergültig die Problematik seines Ansatzes. Geradezu wahnhaft versucht er, der Wirklichkeit seine Deutung aufzudrängen. Oft genug wird er nicht bestätigt – und er reagiert gekränkt und rechthaberisch. (Weitere Belege für diesen markanten Zug im Wesen Freuds werden im Anhang zitiert.) Freuds blinde Gefolgschaft setzt die Wirklichkeitsverleugnung fort – bis in die heutigen Tage: Z.B. Elisabeth Roudinesco und Michel Plon (2011), die in ihrer Abhandlung zu Freuds Gradiva-Deutung im „Wörterbuch der Psychoanalyse“ auf nur drei Text-Seiten zum Thema neun Fehlinformationen in die Welt setzen. Dabei sind längst viele Einzelheiten publiziert, die Freuds falsche und verlogene Analyse korrigieren. Aber die gläubige Anhängerschaft will sich wohl nicht von den Fakten verwirren lassen.
In der Rezension von „Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung“ durch Professor Albrecht Hirschmüller (in: Luzifer-Amor, 26. Jg, 2013, S. 176-179), der das Werk immerhin – wegen der Erstveröffentlichung der Freud-Briefe – in die Bibliographie der Freud-Werke (Ergänzung, 2013) aufgenommen hat, lautet denn auch das trotzige Resümee: „Schlagmanns Buch reiht sich in die Freud-Bashing-Literatur ein; die Lektüre hinterlässt einen schalen Geschmack.“
Dass die fundierte Analyse von Freuds grotesker Fehldeutung, an der die psychoanalytischen Kreise noch nach über 100 Jahren beharrlich festhalten wollen, von den ewig-gestrigen Propagandisten der Freud’schen Heils-Lehre nicht mit gutem Appetit aufgenommen worden ist, muss nicht weiter verwundern. Wäre es anders gekommen, so müsste wohl an der Analyse etwas Wichtiges fehlen. Und auch, wenn die Pseudo-ExpertInnen für anstößige und verdrängte Kinderperversionen der Wahrheit nur einen „schalen Geschmack“ abgewinnen können, so werden sie wohl doch nicht umhin können, sie zu schlucken und sie irgendwann auch zu verdauen.
Klaus Schlagmann: Gradiva. Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung. Der vollständige Briefwechsel von Wilhelm Jensen und Sigmund Freud, Erläuterungen zu Jensens Novelle „Gradiva“ und ihrer Interpretation durch Freud, Jensens Lebenswirklichkeit, einige seiner Gedichte – darunter ein Spottgedicht auf Freuds Deutung – und der illustrierte Gesamttext der „Gradiva“ (unter Einbezug der Erstveröffentlichung von 1902). Saarbrücken (Der Stammbaum und die 7 Zweige. Klaus Schlagmann) 2012, 240 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 19,99 Euro.