Freud, die Psychoanalyse und die Folgen waren über die Jahre oft Themen auch der GEP-Rundbriefe. Nun kam der Wunsch auf, die umfänglichsten, jeweils spezielle Aspekte beleuchtenden Beiträge im deutschen INFC-Teil zusammenzustellen, um sie den speziell interessierten Lesern leichter und konzentrierter zugänglich zu machen. Freud spielt ja in alles Weitere von uns Behandelte hinein, ist vielfach Ursprung und Basis der von uns aufgezeigten Nöte.
Der folgende Artikel stand erstmals im GEP-Rundbrief 1/08,3. Er war im Januar 2008 beim Rheinischen Merkur zur Publikation eingereicht worden. Auf Nachfrage teilte die Redaktion mit, es sei bei ihr für den Bereich Wissenschaft zur Zeit niemand voll zuständig, um über einen Abdruck zu befinden. Inzwischen ist das lang bischöfliche unterstützte Blatt sanft entschlafen.
1. Seit hundert Jahren beansprucht die Psychoanalyse Deutungshoheit über den Menschen. Sie wurde ihr nach 1945 von Amerika aus in der ganzen westlichen Welt zunehmend auch eingeräumt. Der Kulturbetrieb, die Medien, die Intellektuellen begeisterten sich an ihr. Die Ärzte machten sie zu einem integralen Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung im Land. In dem berühmten Bericht der Enquête-Kommission von 1975 „über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“, einer „Unterrichtung durch die Bundesregierung“(drs 7/4200, S. 293), wurde das „von der Psychoanalyse entwickelte Konzept der Entstehung neurotischer und psychosomatischer Erkrankungen“ als gesicherte Erkenntnis verkündet und entsprechende Behandlungen forciert. „Beratung und Therapie“, hieß es, „müssen so früh wie möglich einsetzen, um der Chronifizierung von Krisen und Krankheiten … vorzubeugen.“
Nun ist in den letzten Jahrzehnten just von Amerika aus eine Kritik laut geworden, die besagtes Konzept von Grund auf erschüttert. Profunde „Freud-Gelehrte“ – die kritische Durchforstung der Gesammelten Werke Freuds hat tatsächlich etwas wie eine neue Fachdisziplin hervorgebracht – wiesen die Theorien und Methoden des berühmten Wieners und seiner Anhänger als fragwürdige Kopfgeburten aus.
2. Unter den vielen Freud-Kritiken, die heute so besonders im englischen Sprachraum kursieren – kaum etwas ist davon auf deutsch erschienen -, ist das Buch des amerikanischen Psychiaters E. Fuller Torrey FREUDIAN FRAUD (Freud’sche Betrügerei), HarperCollins, 1992, besonders bemerkenswert. Torrey bekleidete über Jahre eine hohe Stellung am National Institute of Mental Health (NIMH) der USA. Primär um die dortige Situation kreisend, ist sein Buch auch für uns von Belang, weil hierzulande doch nur bruchstückhaft bekannt ist, wie die Lehre „drüben“ ihre Geltung erreichte, bevor sie dann über uns kam.
Seine erste Anhängerin in Amerika fand Freud, so Torrey, in der Anarchistin-Feministin Emma Goldman, die ihn, die gesellschaftliche Sprengkraft seiner Sexualtheorien erfassend,[i] schon 1895 in Wien aufgesucht hatte. Auch über zwischenzeitliche Inhaftierungen und ihre spätere Abschiebung in ihr (nach 1917) sowjetisches Herkunftsland[ii] hinaus blieb sie seine umtriebige Propagandistin. 1909 weilte Freud zu einem Vortrag an der Clark University in Worcester, Massachusetts, „Red Emma“ in der ersten Reihe seines Auditoriums. Auch danach brachten Freud weiteren Zulauf nicht die therapeutischen Versprechen seiner Lehre, sondern deren „Sex-Appeal“ – insbesondere im links-liberalen New Yorker Künstler-Viertel Greenwich Village bei den dort zentrierten Intellektuellen, Marxisten, Trotzkisten, „Freigeistern“, brachte ihm zudem die fördernde Aufmerksamkeit einflußreicher Medien.
Weiter bekannt und bedeutsam wurde die Psychoanalyse über den lang und heftig anhaltenden Auseinandersetzungen in den Staaten um „nature / nurture“, zwischen solchen also, die den Menschen vom Ererbten[iii] und solchen, die ihn vom Erlebten her erklärten. Bei Freuds Betonung früher sexueller Kindheitstraumen standen die Freudianer natürlich auf Seiten letzterer und behaupteten mit ihnen dann auch das Feld. Ihnen gesellten sich ab 1933 die aus Nazi-Deutschland vertriebenen Analytiker zu, die aus der alten „Nähe zwischen Freud und Marx“ jetzt so etwas wie eine „Blutsgemeinschaft“ machten, „Partisan Review“, das führende Intellektuellenmagazin der USA damals, die Presse, die Theater des Broadway, die Sozialarbeit und Sozialpädagogik ihr bevorzugter Tummelplatz und Resonanzboden.
3. Freud gewann so ab den 20ern in den USA zunehmend Einfluß auf die Kindererziehung, die Rechtsprechung, das Meinungsklima insgesamt. Erster Höhepunkt 1945 unter dem Eindruck der Bilder vom Holocaust – Freud selbst ein Verfolgter, vier seiner Geschwister in KZs ermordet. Als mit dem dann einsetzenden „kalten Krieg“ eine Distanzierung von Stalin und damit auch von Marx notwendig wurde, stieg Freud, jetzt posthum, bei den amerikanischen, zur Hälfte jüdischen Intellektuellen als Idol noch höher, womit er auch in deutschen Landen wieder landen konnte, hier wie dort[iv] bald von den Linken wieder eingeholt, neuen Linken, Fidel, Che, Ho Chi Minh, Mao, Marcuse usf., ihre nicht nur studentische Suite in den Staaten meist als „liberal“ gehandelt, primär so von den „Demokraten“, ansonsten „außerparlamentarisch“ unterstützt, ab Mitte der 50er u.a. von und mit der „Mental Health-Bewegung“.
Sie konkretisierte sich unter John F. Kennedy ab 1963 auch über die Kuba-Krise hinweg in kompakten Einrichtungen und Programmen, u.a. in über das Land verteilten, aus Bundesmitteln getragenen Community Mental Health Centers (CMHC). In ihnen sahen manche früh-sowjetische Utopias „neuer Menschen(mache)“ wieder auferstehen. Sie wurden aber auch von „Republikanern“ letztlich akzeptiert. Sie versprachen, psychischer Krankheit und sonstigen Übeln, nicht zuletzt der Armut zu wehren, ja ihnen vorzubeugen, versprachen gar „die psychische Gesundheit der Bevölkerung“ zu vermehren. In jedem Fall verbreiteten sie Freud’sche Ideologie weiter und vermehrten, verzwanzigfachten die Zahl der „Psycho-Profis“. Sie nährten, verbreiteten den Rauschzustand der 68er Kulturrevolution, womit sich der Freud-Marxismus noch fester in ALLE Winkel der amerikanischen, ja der westlichen Gesellschaften eingrub, besonders in Erziehung, Schule, Universitäten, Medien, die Unterhaltungsindustrie, die Rechtsprechung, die Kirchen und nochmals natürlich in die Heilkunde selbst, besonders Psychiatrie und Psychologie. „McFreud“ überall – hüben und drüben. Dort freilich begann in den 70ern mit Henry F. Ellenberger[v] auch schon der Paradigmenwechsel, die Entzauberung Freuds.
4. Es ist hier nicht Platz, Torreys Ausleuchtung der psychoanalytischen Durchdringung ALLER Lebensbereiche in den USA nachzuzeichnen. Ein Bereich nur sei wegen seiner Aktualität auch hierzulande als Beispiel herausgegriffen, die Durchsetzung und damit Verwandlung der Rechtsprechung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im angelsächsischen Strafrecht die Schuld eines Verbrechers bei offensichtlicher psychischer Erkrankung als aufgehoben oder vermindert angesehen, fraglos ein humanisierendes Element in der Rechtspraxis (RB 2/07, 2.1). Schon ab den 20ern aber wurde, so Torrey, die Gerichtspsychiatrie in den USA mehr und mehr von Freudianern (W. Healy, B. Glueck, W.A. White, später K. Menninger) besetzt. Sie stellten das Prinzip der Schuld grundsätzlich in Frage und machten damit 1924 erstmals Geschichte. Zwei junge, aus wohlhabenden Familien stammende Männer, Leopold und Loeb, 19 und 18-jährig, hatten wohl durchdacht ein 13-jähriges Mädchen ermordet und ihre Leiche in einem Abwasserkanal nahe Chicago „entsorgt“. Vor Gericht paukten sie geschickte Anwälte und als Zeugen der Verteidigung einige der besagten Psycho-Experten unter angelegentlicher Teilnahme der Medien[vi] heraus.[vii]
Das Verbrechen war laut Healy „nur möglich aufgrund psychischer Abnormität mit pathologischer Spaltung der Persönlichkeit“. Die Schuld, sagte Glueck, läge bei den Eltern. White, der Star-Forensiker damals, der gerade Präsident der amerikanischen Psychiaterfachgesellschaft geworden war, lastete ihnen bei aller Zuerkennung bester Absichten „Vernachlässigung“ an. Standesgemäß waren die Täter in ihrer Jugend von Kindermädchen betreut worden. Eines davon, so White, sei „prüde und streng“ gewesen, habe „schrecklich zu den Hausaufgaben angehalten“. „Als Konsequenz solcher Kindheitserlebnisse“ hätten sich die „antisozialen Tendenzen“ entwickelt.
Besagte Experten,[viii] die natürlich höchste Honorare kassierten – White, der gleichzeitig Beamter war, wurde später dafür belangt -, setzten eine Praxis in Gang, die den genannten vernünftigen Rechtsgrundsatz leicht pervertierte. Glueck hatte in seinem Buch „Studies in Forensic Psychiatry“ allem Verbrechen ein „psychisches Trauma“ zugrunde gelegt. White, der Verbrecher als „Geiseln ihres Unbewußten“ darstellte, plädierte konsequent für die Abschaffung aller Gefängnisse und ihren Ersatz durch Psychiatrische Behandlungszentren, ähnlich wie es der Früh-Kommunist Wilhelm Weitling vordem schon gefordert hat (RB 3/78, S. 19). Das Problem der Schuld wird von Psychiatern, Psychotherapeuten, heute auch „Neuro-Wissenschaftlern“ (RB 1/04,4.1-4) immer wieder gewälzt. Außer in dem Ausnahmefall ernster psychischer Erkrankung konnten sie es freilich näher nie bestimmen. Hierzulande diskutiert man aus aktuellem Anlaß, wann Jugendstrafrecht beginnen oder enden soll.
5. Während Freud hierzulande aber mit der 68er Revolution erst voll zur Geltung kam, begann „drüben“, wie gesagt, schon sein Abbau. Zunehmend wurden an Freud Unregelmäßigkeiten entdeckt, wozu einige seiner eigenen Mitteilungen beitrugen. Mit Sigmund Freud – Briefe an Wilhelm Fließ 1887 – 1904 brachte Jeffrey M. Masson, ein dissidenter Analytiker, 1985 erstmals auf englisch (deutsche Ausgabe 1986 bei S. Fischer) die vertraulichen Mitteilungen des Meisters an seinen langjährigen Intimus ungekürzt (!) heraus. Mit ihnen kam die kritische Freud-Forschung in englisch- und französisch-sprachigen Ländern in Schwung, auch dort natürlich gegen genügend Widerstände. Es wurde jetzt möglich, Freuds „offiziell“ ausgedruckte Behauptungen mit vertraulich abgegebenen zu vergleichen. Eine Fülle von Ungereimtheiten, ja eine sein gesamtes Werk durchziehende Unredlichkeit traten so ans Tageslicht. Einige Beispiele:
– Freud empfahl 1884 – es war quasi sein erstes eigenständiges Forschungsprojekt – seinem über qualvollen Schmerzen morphinabhängig gewordenen Freund und Kollegen Fleischl von Marxow das damals noch unerforschte Kokain zur Entwöhnung. Er publizierte die „Entziehungskur“ im gleichen und folgenden Jahr als erfolgreich, wobei er empfahl, bei „ähnlichen Entziehungskuren Cocain in subcutanen Injectionen… zu geben und sich vor der Häufung der Dosen nicht zu scheuen“ (Z. für Therapie, 1.4.1885). Der Freund kam darüber innerhalb kürzester Zeit weiter herunter. Er wurde zusätzlich kokainabhängig. Freud aber verteidigte sein Vorgehen als heilsam öffentlich weiter. Es wurde bald von einem anderen Arzt, dem Sucht-Kliniker Erlenmeyer überprüft und als nichtsnutzig verworfen. Freud behauptete darauf (1887), Erlenmeyer habe sich nicht an seinen Dosierungsvorschlag gehalten und habe entgegen seinem Rat „subkutane Injektionen gegeben“ (Wiener Med. Wochenschrift, 9.7.1887).
– Im Fall der (1880-81 von Josef Breuer behandelten) Anna O. (Berta Pappenheim), publiziert von Breuer und Freud zusammen in Studien über Hysterie, 1895, berichteten die Autoren von der „wunderbaren Tatsache, daß vom Beginne bis zum Abschlusse der Erkrankung alle … ihre Folgen durch das Aussprechen in der Hypnose dauernd beseitigt wurden…“ De facto wurde nichts „dauernd beseitigt“. Vielmehr mußte die Patientin unmittelbar nach Breuers Psychotherapie klinisch eingewiesen werden.
– Auch bei seinen eigenen psychotherapeutischen Behandlungen ab 1894 berief sich Freud in Wort und Schrift immer wieder auf therapeutische Erfolge. Seinem Intimus Fließ aber gestand er am 3.1.1897 im Hinblick auf einen bevorstehenden Kongreß: „Vielleicht habe ich bis Ostern einen Fall zu Ende gebracht“, was doch heißt, daß er bis dahin noch nicht eine einzige Behandlung erfolgreich abgeschlossen hatte.
– Von diesen Behandlungen behauptete Freud auch später noch, seine Patient/inn/en hätten ihm von sexuellen, in der Kindheit erlittenen Traumen, Verführungen durch ihre Väter berichtet („habemus papam“, etwa: Da haben wir den Vater, schrieb er spöttisch-triumphierend an Fließ), während weitere vertrauliche Mitteilungen an diesen zeigen, mit welcher Kaltschnäuzigkeit, ja Brutalität er ihnen solche „Erinnerungen“ aufdrängte.
– In seinem „Traummuster“ (2. Kapitel der 1899 fertig gestellten TRAUMDEUTUNG) nimmt Freud Bezug auf seinen (angeblichen) Mustertraum vom 23./24.07. 1895 und bei dessen Ausdeutung auf eine Diphtherieerkrankung seiner Tochter Mathilde im Jahr 1893. Er exemplifiziert daran die Tätigkeit „des Unbewußten“, macht letztlich seine Traumtheorie, die Letztfassung seiner gesamten Lehre daran fest, wiewohl es bei Mathilde zum angegebenen Zeitpunkt – sie machte die Krankheit 1897 durch – eine Diphtherie, die Immunität hinterläßt, nicht gegeben haben kann (Wilcocks, RB 1/06,4.3). Der „Mustertraum“, Eckstein quasi des Freud’schen Theoriegebäudes, steht damit auf Sand. Dem ruhm- und karrierebedachten Freud war offensichtlich selbst die lebensbedrohliche Krankheit seines Kindes eine Lüge wert.
Manche dieser Flunkereien lagen von Anfang an offen auf. Einige wurden erst in jüngerer Zeit aufgedeckt. Viele angesehene Gelehrte verschiedenster Disziplinen und unterschiedlicher, auch jüdischer Herkunft haben daran Anteil, unter ihnen der Kinderpsychologe Jacques Bénesteau, Toulouse, mit Mensonges freudiens, der Philosophieprofessor Frank Cioffi, Canterbury, mit Freud and the Question of Pseudoscience, der Literaturprofessor Frederick Crews, Berkeley, mit u.a. Follies of the Wise, der Mathematiker Allen Esterson, London, mit Seductive Mirage, der Psychologe Prof. Malcolm Macmillan, Melbourne, mit Freud Evaluated, der Pädagoge Prof. Max Scharnberg, Uppsala, mit The Non-Authentic Nature of Freud’s ObServations, der Philologe Richard Webster, Suffolk, mit Why Freud was wrong, der Literaturprofessor Robert Wilcocks, Edmonton, mit u.a. Maelzel’s Chess Player – Sigmund Freud and the Rhetoric oF Deceit, um nur einige der aktuellsten Forscher auf dem Gebiet und einige ihrer gewichtigen Schriften zu nennen. Die Psychiater Henry F. Ellenberger und E. Fuller Torrey wurden mit ihren Beiträgen schon vorgestellt.
6. Entsprechend sind insbesondere in den angelsächsischen Ländern sowohl die Zahlen analytischer Behandlungen als auch der Ausbildungskandidaten stark rückläufig. Wie Paul Roazen, ein ebenfalls leicht dissidenter, inzwischen verstorbener Analytiker, im AMERICAN Journal of Psychiatry vom Oktober 1994 mitteilte, war eine Freud’sche Zusatzausbildung in den 60ern Vorbedingung zur Erreichung höherer Funktionen in der Psychiatrie, etwa auch in der Weiterbildung des Nachwuchses. 30 Jahre später war sie für eine solche Position eher zum Hindernis geworden. Bénesteau nennt in dem genannten Buch eine Reihe ähnlicher Hinweise, die den Rückgang Freud’schen Einflusses in Amerika anzeigen.
Dabei ist Freud auch „drüben“ keineswegs schon erledigt. Erst kürzlich kam das Buch des Psychiaters und Psychoanalytikers George Makari heraus, Revolution in Mind: The Creation of Psychoanalysis, HarperCollins, New York, 2008, 630 Seiten, über 80 Seiten erklärender Endnoten, kenntnisreich, flüssig geschrieben. Makari berührt gar einige der oben angeführten Kritikpunkte. Die meisten freilich übergeht er, den Kern ohnedies. Er bleibt letztlich bei der alten Freud-Vergötzung. Im englischen Teil unserer INFC-Website erschien umgehend Wilcocks’ Kritik des Buches.
In der heutigen Auseinandersetzung spielt eine wesentliche Rolle, daß mit dem Internet jetzt verlagsunabhängige Möglichkeiten der Veröffentlichung existieren, die einen raschen, weltweiten Informationsaustausch unter den fachlich Interessierten ermöglichen. Das Internationale Netzwerk der Freud-Kritiker (INFC) publiziert aktuelle Beiträge auf englisch, französisch und deutsch und gibt somit auch dem deutschsprachigen Leser Zugang zu einer der weltweit lebhaftesten Auseinandersetzungen um Mensch und Gesellschaft, von denen er über 30 Jahre abgeschnitten war.
Das markiert in der bei weitem noch nicht ausgestandenen Auseinandersetzung den großen Unterschied zwischen neuer und alter Welt, daß Freud, der drüben rasch und nachhaltig zur Geltung kam, dort jetzt kritisch diskutiert, wenn nicht zerpflückt wird, während er „hüben“, insbesondere im deutschsprachigen Raum erst nach ’45, mehr noch nach ’68 zur Geltung kam, dafür hier jetzt um so unangefochtener herrscht. Von all den lebhaften Kontroversen um Freud im Ausland ist hier kaum etwas bekannt, geschweige daß nachhaltige Beiträge dazu geleistet worden wären.
7. Was die therapeutische Wirksamkeit der Analyse betrifft, so tendierte diese seit den Tagen der Anna O. gegen Null. Kürzlich stellte dies auch der GEK–Report 2007 der Gmünder Ersatzkasse fest. Torrey selbst spricht allen Psychotherapien eine gewisse Effektivität zu. Gleiche Wirksamkeit aller Psychotherapien hebt freilich auch den Wert aller hinter ihnen stehenden Konzepte einschließlich der Freud’schen von den frühkindlichen Traumatisierungen bis zum Ödipuskomplex als Ursache späterer Neurosen auf, ihren Wert als therapeutisches Agens.
Torrey streift kurz ungünstige Therapieausgänge. Schon eine im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt ungewöhnlich große Zahl früher Freudianer beging Suizid. Jacques Bénesteau führt das in seinem o.g. Buch weiter aus. Vielen Freud-Gläubigen, so Torrey, wurde ihr Glaube an Freud zur säkularen Ersatzreligion. Wilhelm Stekel etwa nannte sich „Apostel Freuds, der mein Christus war.“ Auch sein Glaube an die materialistischen, deterministischen Konzepte des Meisters erwies sich als wenig tragfähig. Freud selbst glaubte an Telepathie, Telekinese und ähnlich obskures Zeug, verachtete nur Religion. Noch kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Wien bezeichnete er die katholische Kirche als seinen „wahren Feind“.
8. Das Buch Torreys könnte für uns im Deutschsprachigen bedeutsam sein, weil es Versteigungen zurecht rückt, die mit den 68ern in der Seelen(heil)-kunde auch hier Platz gegriffen haben. Die Versprechen wachsender „psychischer Gesundheit der Bevölkerung“ etc. verfingen hier nicht weniger als drüben, wurden im übrigen hier so wenig wie dort eingelöst, geschweige daß die Psychoanalyse einem menschlichen Gebrechen oder gesellschaftlichen Übel je „vorgebeugt“ hätte. In jedem Fall aber ist es gut, einmal zu erfahren, wie die Freud-inspirierte Psychiatrie-Reform „drüben“ so gelaufen ist. Mit Gesundheitsreformen ist man „hüben“ zumindest rege weiter beschäftigt.
Am drängendsten ist sicher die Frage nach der Wirksamkeit der Psychotherapie, der Freud’schen wie jeder anderen. Unbestritten ist die Wichtigkeit des „Wortes“ in der Heilkunde, unbestritten auch, daß das „richtige“ Wort in schwierigen Lebenssituationen erleichternd, ja rettend sein kann, umstritten freilich wie eh und je, ob es lehrbar für alle Wechselfälle des Lebens, insbesondere aber Krankheiten oder krankheitswertige Störungen ein solch „richtiges Wort“ gibt, für Fälle also, in denen Psychotherapie nach den gesetzlichen Bestimmungen allein zur Anwendung kommen darf. Immerhin sind da nicht nur Millionen-Beträge, sondern vor allem Menschenschicksale im Spiel. Ob darüber hierzulande noch eine realistische Diskussion aufkommen wird? Entgegen dem, was besagte „Unterrichtung durch die (damals sozial-liberale) Bundesregierung“ als gesichert ausgab, erscheinen Freuds Konzepte heute zweifelhafter denn je.
In Deutschland sieht es dennoch so aus, als wollte die „Psycho-Industrie“ (Dineen, RB 2/01,3.1) noch zulegen. Fragen nach ihrem therapeutischen Wert beantwortet sie weiter mit Vorspiegelungen. In DÄ 8/08 behauptete der BÄK-nahe Psychologe Prof. D. Schulte kürzlich, es ginge heute um neue Methoden psychotherapeutischer Behandlung und ihrer Überprüfung. Als neu führte er die Interpersonelle Psychotherapie der H. St. Sullivan und G. B. Chisholm an. Letzterer, der erste Generalsekretär der WHO, bestimmte 1945 (!) „als Ziel aller effektiven Psychotherapie die Ausmerzung von Gut und Böse“. Das Buch George Makaris REVOLUTION IN MIND wird auch in Deutschland jetzt offensichtlich viel gekauft, weil sich die Freudianer davon neue Munitionierung versprechen. Freuds Sache wird weiter machtvoll „von oben“ gestützt. Allein von dieser politischen Unterstützung lebt sie. (3.1) Ob sie „ewig“ so leben kann, bleibt die spannende Frage.
Endnoten:
[i] Zitate aus Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905): ,,Die Mehrzahl… (ist) der Aufgabe der Abstinenz konstitutionell nicht gewachsen…. Die Zunahme der nervösen Erkrankungen (rührt) von… der sexuellen Einschränkung her; … (ist) der Sexualverkehr in legitimer Ehe eine volle Entschädigung für die Einschränkung vor der Ehe… (?) Das Material zur verneinenden Beantwortung dieser Frage drängt sich so reichlich auf… “ In dem Buch heißt es auch, der ,,Elementarunterricht‘ müsse „das Gebiet des Geschlechtslebens mit umschließ(en)“ und die „Wesensgleichheit von Mensch und Tier“ lehren. Gewiß waren und sind das populäre Thesen. Waren und sind sie aber gesichert? Waren und sind sie nicht schon das fast komplette 68er Programm?
[ii] nach Aberkennung ihrer durch Heirat erworbenen US-Staatsbürgerschaft.
[iii] Eugeniker veranlaßten ab1907 in 20 US-Bundesstaaten Gesetze zur „Verhütung der Fortpflanzung Krimineller, Schwachsinniger, Syphilitiker, moralisch und sexuell Perverser“ usf. Bis 1933 wurden so in den USA an die 20.000 Zwangssterilisationen durchgeführt. Über solch grausigen Überziehungen biologischer Konzepte – hierzulande fielen sie bekanntlich noch grausiger aus – war nach 1945 in den USA auch die Selbstverständlichkeit bald nicht mehr diskutabel, daß im Menschen Erlebtes und Ererbtes wirksam sind. Gleichzeitig wurden dort in großem Umfang verstümmelnde Lobotomien durchgeführt und – DÄ 18/08 vermerkt’s – unkritisch gepriesen, so unktitisch wie hierzulande heute die Psychoanalyse.
[iv] Ende der 40er bestand über die Hälfte der Mitglieder der internationalen Freudianer-Zunft (IPA) aus Amerikanern.
[v] Henry F. Ellenberger, THE DISCOVERY OF THE UNCONSCIOUS, Basic Books, New York, 1970, deutsch DIE ENTDECKUNG DES UNBEWUSSTEN, Diogenes, 1985, 1226 Seiten.
[vi] Sie luden Freud zu dem Termin, boten ihm „welche Summe auch immer“ er verlange. W.R. Hearst, Eigner des Evening American, bot Freud ein eigenes Schiff für die Überfahrt, damit er sie in Ruhe überstünde, „durch andere Passagiere nicht gestört“. Freud mußte infolge einer notwendig gewordenen Kieferoperation absagen.
[vii] Einen ähnlichen Fall haben wir in RB 1/04,4.5 vorgestellt, den des jugendlich sadistischen Serien-Mörders Bartsch, den 1967 unter ähnlichem Medien-Tamtam und mit ähnlichen „Argumenten“ herausgepaukt zu haben, sich der Münchner Star-Anwalt Bossi 2004 noch brüstete.
[viii] Mit ihnen eng verbunden der von uns wiederholt vorgestellte G. Brock Chisholm M.D. (Bild in RB 2/07, 7.8), erster Generalsekretär der WHO, der „die Uminterpretation und letztlich Ausmerzung des Konzepts von Richtig und Falsch“ als „die letzten Ziele praktisch aller effektiven Psychotherapie“ bestimmte und fortfuhr: „Wenn das Menschengeschlecht von seiner es verkrüppelnden Last von Gut und Böse befreit werden soll, müssen es Psychiater sein, die hierfür die Verantwortung übernehmen…“ Auch Torrey vermerkt es kritisch.