Aufstieg und Fall Freuds drüben (und hüben?)


Freud, die Psychoanalyse und die Folgen waren über die Jahre oft Themen auch der  GEP-Rund­briefe. Nun kam der Wunsch auf, die umfänglichsten, jeweils spezielle Aspekte beleuchtenden Beiträge im deutschen INFC-Teil zusammenzustellen, um sie den speziell interessierten Lesern leichter und konzentrierter zugänglich zu machen. Freud spielt ja in alles Weitere von uns Behandelte hinein, ist vielfach Ursprung und Basis der von uns aufgezeigten Nöte.

Der folgende Artikel stand erstmals im GEP-Rundbrief 1/08,3. Er war im Januar 2008 beim Rheinischen Merkur zur Publikation ein­gereicht worden. Auf Nachfrage teilte die Redaktion mit, es sei bei ihr für den Be­reich Wissenschaft zur Zeit niemand voll zuständig, um über einen Abdruck zu be­finden. Inzwischen ist das lang bischöfliche unterstützte Blatt sanft entschlafen.

1. Seit hundert Jahren beansprucht die Psychoanalyse Deutungshoheit über den Menschen. Sie wurde ihr nach 1945 von Amerika aus in der ganzen westlichen Welt zunehmend auch eingeräumt. Der Kulturbetrieb, die Medien, die Intellektuellen begeisterten sich an ihr. Die Ärzte machten sie zu einem integralen Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung im Land. In dem berühmten Bericht der Enquête-Kommission von 1975 „über die Lage der Psych­­­­­iatrie in der Bundesrepublik Deutsch­land“, einer „Unterrichtung durch die Bundesregierung“(drs 7/4200, S. 293), wurde das „von der Psychoanalyse entwickelte Konzept der Entstehung neurotischer und psychosomatischer Erkran­kungen“ als gesicherte Erkenntnis verkündet und entspre­­chende Behandlungen forciert. „Be­ratung und The­rapie“, hieß es, „müs­­­sen so früh wie möglich einsetzen, um der Chronifizierung von Krisen und Krank­heiten … vorzubeugen.

Nun ist in den letzten Jahrzehnten just von Amerika aus eine Kritik laut geworden, die besagtes Kon­zept von Grund auf erschüttert. Profunde „Freud-Ge­lehrte“ –  die kritische Durchforstung der Gesam­melten Werke Freuds hat tatsächlich etwas wie eine neue Fach­dis­zi­plin hervorgebracht – wiesen die Theorien und Me­tho­den des berühmten Wieners und seiner An­hänger als fragwürdige Kopf­geburten aus.

2.  Unter den vielen Freud-Kritiken, die heute so besonders im eng­lischen Sprachraum kursieren – kaum etwas ist davon auf deutsch erschienen -, ist das Buch des amerikanischen Psych­­iaters E. Fuller Torrey FREU­DIAN FRAUD (Freud’sche Betrügerei), HarperCollins, 1992, besonders bemer­kens­wert. Torrey bekleidete über Jahre eine hohe Stellung am National Institute of Mental Health (NIMH) der USA. Primär um die dortige Situation kreisend, ist sein Buch auch für uns von Belang, weil hier­zulande doch nur bruchstückhaft bekannt ist, wie die Lehre „drüben“ ihre Geltung erreichte, bevor sie dann über uns kam.

Seine erste Anhängerin in Amerika fand Freud, so Torrey, in der Anar­chi­stin-Femi­nistin Emma Gold­man, die ihn, die gesellschaft­­liche Sprengkraft seiner Sexualtheo­rien erfassend,[i] schon 1895 in Wien aufgesucht hatte. Auch über zwischenzeitliche Inhaftierungen und ihre spätere Abschiebung in ihr (nach 1917) sowjetisches Herkunftsland[ii] hinaus blieb sie seine umtriebige Propa­gan­­­­distin. 1909 weilte Freud zu einem Vortrag an der Clark University in Worcester, Massachusetts, „Red Emma“ in der er­sten Reihe seines Auditoriums. Auch danach brachten Freud weiteren Zulauf nicht die the­ra­peu­ti­schen Versprechen seiner Lehre, sondern deren „Sex-Appeal“ – insbesondere im links-li­beralen New Yorker Künstler-Vier­­­­tel Greenwich Village bei den dort zentrierten In­tel­lek­tuel­len, Mar­­xisten, Trotzkisten, „Freigeistern“, brachte ihm zu­dem die för­dern­de Aufmerksamkeit einflußreicher Medien.

Weiter bekannt und bedeutsam wurde die Psychoanalyse über den lang und heftig anhaltenden Aus­ein­an­derset­zun­gen in den Staaten um „nature / nurture“, zwischen solchen also, die den Menschen vom Ererbten[iii] und solchen, die ihn vom Erlebten her erklärten. Bei Freuds Betonung frü­her sexueller Kind­heitstraumen standen die Freu­dianer natürlich auf Seiten letzterer und be­haup­­teten mit ihnen dann auch das Feld. Ihnen gesellten sich ab 1933 die aus Nazi-Deutsch­­land vertriebenen Analytiker zu, die aus der alten „Nähe zwischen Freud und Marx“ jetzt so etwas wie eine „Bluts­gemeinschaft“ mach­ten, „Partisan Review“, das führende In­tel­lek­tuel­lenmagazin der USA damals, die Presse, die Theater des Broadway, die Sozialarbeit und Sozialpädagogik ihr bevorzugter Tummelplatz und Resonanzboden.

3.  Freud gewann so ab den 20ern in den USA zunehmend Einfluß auf die Kindererziehung, die Rechtsprechung, das Meinungsklima insgesamt. Erster Höhepunkt 1945 unter dem Eindruck der Bilder vom Holocaust – Freud selbst ein Verfolgter, vier seiner Geschwister in KZs er­mordet. Als mit dem dann einsetzenden „kal­­ten Krieg“ eine Distanzierung von Stalin und damit auch von Marx not­wendig wurde, stieg Freud, jetzt posthum, bei den ame­rikanischen, zur Hälfte jüdischen Intellek­tuellen als Idol noch höher, womit er auch in deutschen Landen wieder landen konnte, hier wie dort[iv] bald von den Linken wieder eingeholt, neuen Linken, Fidel, Che, Ho Chi Minh, Mao, Marcuse usf., ihre nicht nur stu­den­ti­sche Suite in den Staaten meist als „li­be­ral“ ge­han­delt, primär so von den „Demokraten“, ansonsten „außerpar­lamentarisch“ unterstützt, ab Mitte der 50er u.a. von und mit der „Mental Health-Bewe­gung“.

Sie konkretisierte sich unter John F. Kennedy ab 1963 auch über die Kuba-Krise hin­weg in kompakten Einrichtungen und Programmen, u.a. in über das Land verteilten, aus Bun­des­mit­teln getragenen Com­munity Mental Health Centers (CMHC). In ihnen sahen manche früh-so­wje­tische Utopias „neuer Men­schen(ma­che)“ wieder auferstehen. Sie wurden aber auch von „Republikanern“ letztlich akzep­tiert. Sie verspra­chen, psychischer Krank­heit und sonstigen Übeln, nicht zuletzt der Ar­mut zu wehren, ja ihnen vorzubeugen, versprachen gar „die psychische Gesund­heit der Bevöl­kerung“ zu vermehren. In jedem Fall ver­breiteten sie Freud’sche Ideologie weiter und vermehrten, ver­zwan­zig­fach­ten die Zahl der „Psycho-Pro­fis“. Sie nährten, verbreiteten  den Rauschzustand der 68er Kulturre­vo­lu­tion, womit sich der Freud-Marxis­mus noch fester in ALLE Winkel der amerikanischen, ja der westlichen Ge­sell­schaf­­ten eingrub, besonders in Erziehung, Schu­le, Uni­ver­si­täten, Medien, die Unterhal­tungs­in­dustrie, die Recht­sprechung, die Kirchen und nochmals natürlich in die Heilkunde selbst, besonders Psych­iatrie und Psy­cho­lo­gie. „McFreud“ über­all – hüben und drüben. Dort freilich begann in den 70ern mit Henry F. Ellen­berger[v] auch schon der Paradigmenwechsel, die Ent­­zau­be­rung Freuds.

4.  Es ist hier nicht Platz, Torreys Ausleuchtung der psychoanalytischen Durchdringung ALLER Lebensbereiche in den USA nachzuzeichnen. Ein Bereich nur sei wegen seiner Aktualität auch hier­zulande als Beispiel herausge­griffen, die Durchsetzung und da­mit Verwandlung der Rechts­prechung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im angelsächsischen Strafrecht die Schuld eines Verbrechers bei offensichtlicher psychischer Erkrankung als aufgehoben oder vermindert angesehen, fraglos ein hu­ma­nisierendes Element in der Rechtspraxis (RB 2/07, 2.1). Schon ab den 20ern aber wurde, so Torrey, die Gerichtspsychiatrie in den USA mehr und mehr von Freu­dianern (W. Healy, B. Glueck, W.A. White, später K. Men­ninger) besetzt. Sie stellten das Prinzip der Schuld grundsätzlich in Frage und machten damit 1924 erstmals Geschichte. Zwei junge, aus wohlhabenden Familien stam­men­de Män­ner, Leopold und Loeb, 19 und 18-jährig, hatten wohl durchdacht ein 13-jäh­­­riges Mäd­chen ermordet und ihre Leiche in einem Ab­wasserkanal nahe Chicago „entsorgt“. Vor Gericht pauk­ten sie geschickte An­wälte und als Zeugen der Verteidigung einige der besagten Psycho-Experten unter an­ge­le­gentlicher Teilnahme der Medien[vi] heraus.[vii]

Das Verbrechen war laut Healy „nur möglich aufgrund psychischer Abnormität mit pathologischer Spaltung der Persönlichkeit“. Die Schuld, sagte Glueck, läge bei den El­tern. White, der Star-Foren­si­ker damals, der ge­rade Prä­sident der ame­­­rikanischen Psychiaterfachgesellschaft ge­worden war, lastete ihnen bei aller Zuerkennung be­ster Ab­sichten „Vernachlässigung“ an. Standesgemäß waren die Täter in ihrer Jugend von Kindermädchen betreut wor­den. Eines da­von, so White, sei „prüde und streng“ gewesen, habe „schrecklich zu den Haus­aufgaben an­gehalten“. „Als Konsequenz solcher Kind­heits­erlebnisse“ hätten sich die „antisozialen Tendenzen“ entwickelt.

Besagte Ex­perten,[viii] die natürlich höchste Honorare kassierten – White, der gleichzeitig Beamter war, wurde später dafür belangt -, setzten eine Praxis in Gang, die den genannten vernünftigen Rechts­grundsatz leicht pervertierte. Glueck hatte in seinem Buch „Studies in Forensic Psych­­­iatry“ allem Verbrechen ein „psychisches Trauma“ zugrunde gelegt. White, der Verbrecher als „Geiseln ihres Unbewußten“ darstellte, plädierte konsequent für die Abschaffung aller Gefängnisse und ihren Ersatz durch Psych­iatrische Behandlungszentren, ähnlich wie es der Früh-Kom­munist Wilhelm Weit­ling vordem schon gefordert hat (RB 3/78, S. 19). Das Problem der Schuld wird von Psych­­­­­iatern, Psy­chotherapeuten, heute auch „Neuro-Wis­senschaftlern“ (RB 1/04,4.1-4) immer wie­der gewälzt. Außer in dem Ausnahmefall ernster psychi­­scher Erkrankung konnten sie es freilich näher nie be­stimmen. Hier­zulande diskutiert man aus aktuellem Anlaß, wann Ju­gend­strafrecht beginnen oder enden soll.

5.  Während Freud hierzulande aber mit der 68er Re­vo­lution erst voll zur Geltung kam, begann „drü­ben“, wie ge­sagt, schon sein Abbau. Zunehmend wurden an Freud Unregelmäßigkeiten entdeckt, wozu einige sei­ner eigenen Mitteilungen beitrugen. Mit Sigmund Freud – Briefe an Wilhelm Fließ 1887 – 1904 brachte  Jeffrey M. Masson, ein dissidenter Analytiker, 1985 erstmals auf englisch (deutsche Ausgabe 1986 bei S. Fischer) die vertraulichen Mitteilungen des Meisters an seinen lang­jährigen Intimus un­gekürzt (!) heraus. Mit ihnen kam die kritische Freud-For­schung in eng­lisch- und französisch-sprachi­gen Ländern in Schwung, auch dort na­türlich gegen ge­nügend Widerstände. Es wurde jetzt möglich, Freuds „offiziell“ ausgedruckte Be­haup­­tungen mit vertraulich abgege­benen zu vergleichen. Eine Fülle von Ungereimt­­heiten, ja eine sein ge­samtes Werk durchziehende Unredlichkeit tra­ten so ans Ta­geslicht. Einige Beispiele:

–          Freud empfahl 1884 – es war quasi sein erstes eigenständiges Forschungsprojekt – seinem über qualvollen Schmerzen morphinabhängig gewordenen Freund und Kolle­gen Fleischl von Mar­xow das damals noch unerforschte Kokain zur Entwöhnung. Er publizierte die „Entziehungskur“ im gleichen und folgenden Jahr als erfolgreich, wobei er empfahl, bei „ähnlichen Entziehungskuren Cocain in subcuta­nen In­jectionen… zu ge­ben und sich vor der Häu­fung der Dosen nicht zu scheuen“ (Z. für The­ra­pie, 1.4.1885). Der Freund kam darüber innerhalb kürzester Zeit weiter herunter. Er wurde zusätzlich kokainabhängig. Freud aber verteidigte sein Vorgehen als heilsam öffentlich weiter. Es wurde bald von einem anderen Arzt, dem Sucht-Kli­niker Erlenmey­er überprüft und als nichtsnutzig verworfen. Freud behauptete darauf (1887), Erlen­meyer habe sich nicht an seinen Dosierungsvorschlag ge­hal­ten und ha­be ent­gegen seinem Rat „sub­­kutane Injektionen gegeben“ (Wiener Med. Wo­chen­­­schrift, 9.7.1887).

–          Im Fall der (1880-81 von Josef Breuer behandelten) Anna O. (Berta Pappenheim), pu­bli­ziert von Breuer und Freud  zusammen in Studien über Hysterie, 1895, berichteten die Autoren von der „wun­­derbaren Tat­sache, daß vom Beginne bis zum Abschlusse der Erkrankung alle … ihre Fol­gen durch das Aussprechen in der Hypnose dauernd beseitigt wurden…“ De facto wurde nichts „dauernd beseitigt“. Vielmehr mußte die Patientin unmittelbar nach Breuers Psychotherapie klinisch eingewiesen wer­den.

–          Auch bei seinen eigenen psychotherapeutischen Behandlungen ab 1894 berief sich Freud in Wort und Schrift immer wieder auf therapeutische Erfolge. Seinem Intimus Fließ aber gestand er am 3.1.1897 im Hinblick auf einen bevorstehenden Kongreß: „Viel­leicht habe ich bis Ostern einen Fall zu Ende gebracht“, was doch heißt, daß er bis da­­hin noch nicht eine einzige Behandlung erfolgreich ab­geschlossen hatte.

–          Von diesen Behandlungen behauptete Freud auch spä­­­­­­­ter noch, seine Patient/inn/en hät­ten ihm von se­xu­ellen, in der Kindheit erlittenen Traumen, Ver­füh­run­gen durch ihre Väter berich­tet („ha­bemus papam“, et­wa: Da haben wir den Vater, schrieb er spöttisch-tri­umphierend an Fließ), während weitere vertrauliche Mitteilungen an diesen zeigen, mit wel­cher Kalt­schnäu­zigkeit, ja Brutalität er ihnen solche „Er­in­ne­rungen“ aufdrängte.

–          In seinem „Traum­­muster“ (2. Kapitel der 1899 fertig gestellten TRAUMDEUTUNG) nimmt Freud Bezug auf seinen (angeblichen) Mustertraum vom 23./24.07. 1895 und bei dessen Ausdeutung auf eine Di­ph­the­rie­er­krankung seiner Tochter Mathilde im Jahr 1893. Er exem­pli­fi­ziert daran die Tätigkeit „des Unbewußten“, macht letztlich seine Traum­theorie, die Letztfassung seiner gesamten Lehre daran fest, wie­wohl es bei Mathilde zum ange­gebe­nen Zeitpunkt – sie machte die Krankheit 1897 durch – eine Di­phtherie, die Immunität hinterläßt, nicht gegeben haben kann (Wil­cocks, RB 1/06,4.3). Der „Mustertraum“, Eckstein quasi des Freud’schen Theoriegebäudes, steht damit auf Sand. Dem ruhm- und karrierebedachten Freud war offensichtlich selbst die lebensbe­drohliche Krank­­heit seines Kindes eine Lüge wert.

Manche dieser Flunkereien lagen von Anfang an offen auf. Einige wurden erst in jüngerer Zeit aufgedeckt. Viele angesehene Gelehrte verschiedenster Disziplinen und unterschiedlicher, auch jüdischer Herkunft haben daran An­teil, unter ihnen der Kinderpsychologe Jacques Bénesteau, Toulouse, mit Mensonges freu­diens, der Philosophieprofessor Frank Cioffi, Canterbury, mit Freud and the Question of Pseudo­science, der Literaturprofessor Frederick Crews, Berkeley, mit u.a. Follies of the Wise, der Mathematiker Allen Esterson, London, mit Seductive Mirage, der Psychologe Prof. Malcolm Macmillan, Mel­bourne, mit Freud Evaluated, der Pädagoge Prof. Max Scharn­berg, Upp­sala, mit The Non-Authentic Nature of Freud’s ObServa­tions, der Philologe Richard Webster, Suffolk, mit Why Freud was wrong, der Literaturprofessor Robert Wil­cocks, Edmonton, mit u.a. Maelzel’s Chess Player – Sigmund Freud and the Rhetoric oF De­ceit, um nur einige der ak­tuellsten Forscher auf dem Gebiet und einige ihrer gewichtigen Schriften zu nennen. Die Psychiater Henry F. Ellenberger und E. Fuller Torrey wurden mit ihren Beiträgen schon vor­gestellt.

6.    Entsprechend sind insbesondere in den angelsächsischen Ländern sowohl die Zahlen ana­ly­tischer Behand­lun­gen als auch der Ausbildungskandidaten stark rückläufig. Wie Paul Roazen, ein ebenfalls leicht dissi­den­ter, in­zwischen verstorbener Analytiker, im AMERICAN  Journal of Psychiatry vom Oktober 1994 mit­teilte, war eine Freud’sche Zusatzausbildung in den 60ern Vorbe­din­gung zur Erreichung höherer Funktionen in der Psychiatrie, etwa auch in der Weiterbildung des Nachwuchses. 30 Jahre später war sie für eine solche Po­si­ti­on eher zum Hindernis geworden. Bénesteau nennt in dem genannten Buch eine Reihe ähnlicher Hin­­weise, die den Rück­gang Freud’schen Einflusses in Amerika anzeigen.

Dabei ist Freud auch „drüben“ keineswegs schon erledigt. Erst kürzlich kam das Buch des Psychiaters  und Psychoanalytikers George Ma­kari heraus, Re­volu­tion in Mind: The Creation of Psy­ch­o­­ana­lysis, HarperCollins, New York, 2008, 630 Seiten, über 80 Seiten erklärender End­noten, kennt­nis­reich, flüssig geschrieben. Makari berührt gar einige der oben angeführten Kritikpunkte. Die meisten freilich übergeht er, den Kern ohnedies. Er bleibt letztlich bei der alten Freud-Vergötzung. Im englischen Teil un­serer INFC-Website erschien umgehend Wilcocks’ Kritik des Buches.

In der heutigen Aus­einandersetzung spielt eine wesentliche Rolle, daß mit dem Internet jetzt verlags­un­ab­hän­gige Möglichkeiten der Veröffentlichung exi­stieren, die einen raschen, welt­weiten Informa­tionsaustausch unter den fachlich Interessierten ermöglichen. Das In­ternationale Netzwerk der Freud-Kri­tiker (INFC) publiziert aktuelle Beiträge auf englisch, französisch und deutsch und gibt somit auch dem deutschsprachigen Leser Zugang zu einer der weltweit lebhaftesten Auseinandersetzungen um Mensch und Gesellschaft, von denen er über 30 Jahre abgeschnitten war.

Das markiert in der bei weitem noch nicht ausgestandenen Auseinandersetzung den großen Unter­schied zwischen neuer und alter Welt, daß Freud, der drüben rasch und nachhaltig zur Geltung kam, dort jetzt kritisch dis­kutiert, wenn nicht zerpflückt wird, während er „hüben“, insbesondere im deutsch­spra­chigen Raum erst nach ’45, mehr noch nach ’68 zur Geltung kam, dafür hier jetzt um so unangefochtener herrscht. Von all den lebhaften Kontroversen um Freud im Ausland ist hier kaum etwas be­kannt, geschwei­ge daß nachhaltige Beiträge dazu ge­leistet worden wären.

7.  Was die therapeutische Wirksamkeit der Analyse betrifft, so tendierte diese seit den Tagen der Anna O. gegen Null. Kürzlich stellte dies auch der GEKReport 2007 der Gmünder Ersatzkasse fest. Torrey selbst spricht al­len Psychotherapien eine gewisse Effektivität zu. Glei­che Wirksamkeit aller Psychotherapien hebt freilich auch den Wert aller hinter ihnen stehenden Konzepte einschließlich der Freu­d’schen von den frühkindlichen Trau­mati­sierun­gen bis zum Ödi­­pus­­kom­plex als Ursache späterer Neurosen auf, ihren Wert als the­rapeuti­sches Agens.

Torrey  streift kurz ungünstige Therapieausgänge. Schon eine im Vergleich zum Bevölkerungs­durch­schnitt ungewöhnlich große Zahl früher Freudianer beging Suizid. Jacques Bénesteau führt das in seinem o.g. Buch weiter aus. Vielen Freud-Gläubi­gen, so Torrey, wur­de ihr Glaube an Freud zur sä­kularen Ersatz­religion. Wil­helm Stekel etwa nannte sich „Apostel Freuds, der mein Christus war.“ Auch sein Glaube an die ma­teria­li­stischen, deterministischen Konzepte des Meisters erwies sich als wenig tragfähig. Freud selbst glaubte an Telepathie, Telekinese und ähnlich obskures Zeug, verachtete nur Religion. Noch kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Wien bezeichnete er die katholische Kirche als seinen „wah­ren Feind“.

8.  Das Buch Torreys könnte für uns im Deutschsprachigen bedeutsam sein, weil es Versteigungen zu­recht rückt, die mit den 68ern in der Seelen­(heil)-kunde auch hier Platz gegriffen haben. Die Ver­spre­chen wachsender „psychischer Gesundheit der Bevölkerung“ etc. ver­­fingen hier nicht we­niger als drüben, wurden im übrigen hier so wenig wie dort eingelöst, geschweige daß die Psychoanalyse einem menschlichen Ge­brechen oder gesellschaftlichen Übel je „vorgebeugt“ hät­­te. In jedem Fall aber ist es gut, einmal zu er­fahren, wie die Freud-in­spi­rierte Psych­iatrie-Re­form „drü­ben“ so gelaufen ist. Mit Gesund­heitsre­formen ist man „hü­ben“ zumindest rege weiter beschäftigt.

Am drängendsten ist sicher die Frage nach der Wirksamkeit der Psychotherapie, der Freud’schen wie jeder anderen. Unbe­stritten ist die Wichtigkeit des „Wortes“ in der Heilkunde, unbestritten auch, daß das „richtige“ Wort in schwierigen Lebenssituationen erleichternd, ja rettend sein kann, umstritten freilich wie eh und je, ob es lehrbar für alle Wechselfälle des Lebens, insbesondere aber Krank­heiten oder krank­heitswertige Störungen ein solch „rich­­tiges Wort“ gibt, für Fäl­le also, in denen Psycho­the­rapie nach den gesetzlichen Bestimmungen allein zur An­wendung kommen darf. Immerhin sind da nicht nur Millionen-Beträge, sondern vor allem Menschenschicksale im Spiel. Ob darüber hierzulande noch eine realistische Diskussion aufkom­men wird? Entgegen dem, was be­sagte „Unterrichtung durch die (da­mals sozial-libe­rale) Bundesregierung“ als gesichert ausgab, erscheinen Freuds Konzepte heute zweifelhafter denn je.

In Deutschland sieht es dennoch so aus, als wollte die „Psycho-In­du­strie“ (Dineen, RB 2/01,3.1) noch zulegen. Fragen nach ihrem therapeutischen Wert beantwortet sie weiter mit Vorspiegelungen. In DÄ 8/08 behauptete der BÄK-nahe Psychologe Prof. D. Schul­te kürzlich, es ginge heute um neue Metho­den psychothera­peu­ti­scher Be­handlung und ihrer Überprüfung. Als neu führte er die In­terper­sonelle Psychotherapie der H. St. Sullivan und G. B. Chisholm an. Letzterer, der erste Generalsekretär der WHO, bestimmte 1945 (!) „als Ziel aller effektiven Psy­cho­therapie die Aus­merzung von Gut und Böse“. Das Buch George Makaris RE­VO­LUTION IN MIND wird auch in Deutschland jetzt offen­sichtlich viel gekauft, weil sich die Freudianer davon neue Munitionierung versprechen. Freuds Sa­che wird weiter machtvoll „von oben“ ge­stützt. Allein von dieser politischen Unterstützung lebt sie. (3.1) Ob sie „ewig“ so leben kann, bleibt die spannende Frage.


Endnoten:

[i] Zitate aus Freuds Drei Abhandlungen zur Sexu­al­theo­rie (1905): ,,Die Mehrzahl… (ist) der Aufgabe der Ab­stinenz konstitutionell nicht gewachsen…. Die Zunahme der nervösen Erkrankungen (rührt) von… der sexuellen Einschränkung her; … (ist) der Sexual­ver­kehr in legitimer Ehe eine volle Entschädigung für die Einschränkung vor der Ehe… (?) Das Material zur verneinenden Beantwortung die­ser Frage drängt sich so reichlich auf… “  In dem Buch heißt es auch, der ,,Ele­mentar­unter­richt‘  müsse „das Gebiet des Geschlechts­lebens mit umschlie­ß(en)“ und die „We­sens­gleich­heit von Mensch und Tier“ lehren. Gewiß waren und sind das populäre Thesen. Waren und sind sie aber gesichert? Waren und sind sie nicht schon das fast komplette 68er Programm?

[ii] nach Aberkennung ihrer durch Heirat erworbenen US-Staats­bürgerschaft.

[iii] Eugeniker veranlaßten ab1907 in 20 US-Bundes­staaten Gesetze zur „Verhütung der Fortpflanzung Krimineller, Schwachsinniger, Syphilitiker, moralisch und sexuell Perverser“ usf. Bis 1933 wurden so in den USA an die 20.000 Zwangssterilisationen durchgeführt. Über solch grausigen Überziehungen biologischer Konzepte – hierzulande fielen sie bekanntlich noch grausiger aus – war nach 1945 in den USA auch die Selbstverständlichkeit bald nicht mehr diskutabel, daß im Menschen Erlebtes und Ererbtes wirksam sind. Gleichzeitig wurden dort in großem Um­fang verstümmelnde Lobotomien durchgeführt und – DÄ 18/08 vermerkt’s – un­kritisch gepriesen, so unktitisch wie hierzulande heute die Psychoanalyse.

[iv]  Ende der 40er bestand über die Hälfte der Mitglieder der internationalen Freudianer-Zunft (IPA) aus Amerikanern.

[v] Henry F. Ellenberger, THE DISCOVERY OF THE UN­CON­SCIOUS, Basic Books, New York, 1970, deutsch DIE ENT­DECKUNG DES UNBEWUSSTEN, Diogenes, 1985, 1226 Seiten.

[vi]  Sie luden Freud zu dem Termin, boten ihm „welche Summe auch immer“ er verlange. W.R. Hearst, Eigner des Evening American, bot Freud ein eigenes Schiff für die Überfahrt, damit er sie in Ruhe überstünde, „durch an­de­re Pas­sagiere nicht gestört“. Freud mußte infolge einer notwendig gewordenen Kieferoperation absagen.

[vii] Einen ähnlichen Fall haben wir in RB 1/04,4.5 vorgestellt, den des jugendlich sadistischen Serien-Mörders Bartsch, den 1967 un­ter ähnlichem Medien-Tamtam und mit ähnlichen „Argumenten“ herausgepaukt zu haben, sich der Münchner Star-Anwalt Bossi 2004 noch brüstete.

[viii]  Mit ihnen eng verbunden der von uns wiederholt vorgestellte G. Brock Chisholm M.D. (Bild in RB 2/07, 7.8), er­ster Ge­neral­sekretär der WHO, der „die Uminterpretation und letztlich Aus­merzung des Konzepts von Richtig und Falsch“ als „die letz­ten Ziele praktisch aller effektiven Psychotherapie“ be­stimmte und fortfuhr: „Wenn das Menschengeschlecht von seiner es ver­krüp­pelnden Last von Gut und Böse befreit werden soll, müssen es Psychiater sein, die hierfür die Verantwortung übernehmen…“ Auch Torrey vermerkt es kritisch.

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